Dienstag, 25. Dezember 2018

Im Anfang bist du

Predigt zu Johannes 1, 1-5.9-14

Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und Gott war das Wort.
Dasselbe war im Anfang bei Gott.
Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht,
und ohne dasselbe ist nichts gemacht,
was gemacht ist.
In ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat's nicht ergriffen.

Das war das wahre Licht,
das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.
Es war in der Welt,
und die Welt ist durch dasselbe gemacht;
und die Welt erkannte es nicht.
Er kam in sein Eigentum;
und die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Wie viele ihn aber aufnahmen,
denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden:
denen, die an seinen Namen glauben,
die nicht aus menschlichem Geblüt
noch aus dem Willen des Fleisches
noch aus dem Willen eines Mannes,
sondern aus Gott geboren sind.
Und das Wort ward Fleisch
und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater,
voller Gnade und Wahrheit.


I.
Am Anfang.
Am Anfang ist die Luft klar.
Sie riecht nach Regen.
Und nach Erde.
Am Anfang ist der Himmel so dunkelblau,
dass man den Morgenstern noch sieht.
Am Rand aber ist er hellblau und gold.
Und dann kommt die Sonne an.
Ein riesengroßer flacher Ball. 
Und siehe, es ist sehr gut.

Die Schöpfung weiß, was am Anfang zu tun ist.
Sie kennt die Regeln.
Wenn es Tag wird.
Wenn ein Same aufgeht.
Und der Regen die Luft sauber gewaschen hat.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Und Regen und Tag und Nacht und Sonne und das Licht.
Der Anfang ist ein Raum
und in dem ist alles da und doch noch im Werden.
So vieles, was entstehen kann.
So vieles, das vergehen wird.
Im Anfang ist beides da:
Werden und Vergehen,
Beginn und Ende.
A und O.

II.
Am Anfang.
Am Anfang ist das Licht mild.
Die Welt sieht anders aus in diesem Licht.
Du siehst das Gute. Das Schöne.
Das Versöhnliche auch.
Du siehst das, was du sonst übersiehst.

Den kleinen Tropfen auf der Fensterscheibe
in Regenbogenfarben.
Die Christrose zwischen Laub.
Den Herrnhuter Stern im Türeingang.
Du siehst, wie schön die Falten deiner alten Nachbarin sind.
Sie haben so viel zu erzählen.
Du siehst die kleine Hand deines Enkelkindes,
die einen Regenwurm streichelt.
Und du siehst vielleicht,
wie jemand frierend an der Bushaltestelle wartet.
Und nimmst ihn in deinem Auto mit. (1)
Am Anfang sind deine Augen klarer als sonst.
Und du siehst,
dass du nicht alles auf Anfang setzen kannst,
aber dass du ein Teil davon bist.
Mittendrin im Anfang.

III.
Am Anfang.
Am Anfang ist die Liebe.
Und diese Liebe ist leicht und unbeschwert.

In diesem einen Moment am Anfang -
da zählt nicht, was die anderen sagen.
Nur die zarte Berührung.
Die Sehnsucht und der Blick in die strahlenden Augen.
Am Anfang ist eine Strähne, die ins Gesicht fällt.
Und ein pochendes Herz.
Pures Verstehen ohne Erklären.
Ganzsein. Ganz und gar.
Ein Fleisch werden.

Ja, die Liebe wird Fleisch.
Wird Berührung und Herzschlagen und Wortestammeln.
Gott fängt mit jeder Liebe neu an.
Und wird Fleisch in jeder Liebe.
Die Liebe ist der Raum des Anfangs.
Die Verheißung, dass alles gut ist.
Weil Gott es gut gemacht hat.
Alles ergibt einen Sinn.
Alles fügt sich zusammen in diesem Raum der Liebe.
Im Anfang.

IV.
Am Anfang war das Wort.
Der Anfang ist unschuldig.
Wie Papier.
Weiß und unbeschrieben.
Worte werden noch geboren.
Und du weißt am Anfang noch nicht:
Sind sie müde oder voller Kraft?
Trösten oder erschrecken sie dich?
Hinter allen Worten ist das eine Wort.
Es kommt noch nicht auf deine Lippen.
Denn du ahnst nur, dass es da ist.
Deine Sehnsucht nach dem Woher und Wohin.
Deine Liebe.
Dein Leben.
Alles ist darin, in diesem Wort.

Am Anfang ist das eine Wort bei Gott.
Der Sinn allen Lebens - verborgen in dem Einen.
Nicht zu greifen.
Das Wort, das Eine, es kommt zur Welt. 
In einem Stall.
Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Wo die Welt zusammenschrumpft auf einen Moment
und einen Ort.
Der ist nichts Besonderes - und doch alles.
Eigentlich gibt es dafür keine Worte:
für dieses Große, was uns hält,
und für das Schöne, was uns umschließt.
Unsere Worte sind zu klein dafür.
Zu klein für Gott.
Zu klein für das Leben.
Zu klein für das Wunder.

V.
Der Anfang ist unschuldig.
Und ja,
alles auf Anfang stellen: das würde ich gern.
Keine Worte suchen müssen.
Keine Trennung spüren.
Eins sein.
Was am Anfang so leicht ist,
wird im Weitergehen so schwer.
Liebe lässt sich nicht halten.
Gott auch nicht.
Und Gott wird zu groß für mich.

Ich spüre wie verletzlich ich bin.
In diesen Tagen vielleicht ganz besonders.
Weil Weihnachten die Haut dünner ist als sonst.
Ein Streit tut heute besonders weh.
Alleinsein ist kaum auszuhalten.
Und auch nicht die Sehnsucht nach mildem Licht und erster Liebe.
Ich bin nicht mehr am Anfang.
Ich bin weitergegangen.
Und suche meine Schritte durchs Leben.
Nicht nur meine Worte sind zu klein.
Auch ich bin zu wenig.
Zu unscheinbar.
Zu unbedeutend.

Ja, ich möchte alles auf Anfang stellen.
Möchte selbst neu anfangen können.
Mit Gott Anfängerin sein.
Ob das nicht doch geht?
Das das Wort auch in mir Fleisch wird und anfängt?

V.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott,
und Gott war das Wort.
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.


Am Anfang.
Am Anfang ist dieses Kind.
Fleischgewordenes Wort.
Leben pur.
Lebendiges Bündel.
Suchender Mund.
Geschlossene Augen.
Ausgeliefert und bedingungslos.
Noch ganz verschleimt.
Und mit pulsierender Nabelschnur.
Es ist da.
In diesem Anfang ist es ganz da.
Für dich. Und für mich.
Und für alle, die hier sind.
Oder zuhause. Oder weit weit weg.

Im Anfang ist dieses Kind
und es kann dir nichts tun, außer dein Herz zu stehlen.
Dieses Kind -
entstanden aus der Liebe von zwei Menschen.
Aus Gott.
Aus Leidenschaft und Hingabe.

Im Anfang ist dieses Kind.
Die Liebe zwischen Gott und Mensch.
Dieses Kind setzt alles auf Anfang.
Alles ist neu. Alles beginnt neu.
Und neu ist nicht perfekt.
Sondern verschleimt und zerknittert.
Ausgeliefert und bedingungslos.
Suchend und geborgen zugleich.

VI.
Du kannst nicht alles auf Anfang stellen.
Aber das Kind tut es.
Gott tut es.
Gott weiß, was zu tun ist mit deinen Anfängen
und Stolperschritten.
Mit deiner Sehnsucht und deiner Traurigkeit.

Du bist sein Kind.
Du bist dieses Kind, das Fleisch gewordene Wort.
Anfängerin des Lebens. Anfänger der Liebe bist du.
Du mit deinen Falten und deinen Träumen.
Du mit deiner verschleimten Nabelschnur.

Ausgeliefert und bedingungslos.
Suchend und findend.
Der Stall ist dein Anfangsort.
Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Dort, wo du den Kochlöffel in den Topf tauchst,
oder Bilanzen prüfen musst,
wo du an der Kasse Kleingeld entgegen nimmst
oder einem Flüchtling vor Gericht beistehst.
Überall wo du bist, bist du richtig.
Weil Gott da ist. Bei dir.
Und mit dir anfängt, ins Leben zu gehen.

VII.
Im Anfang war das Wort.
Im Anfang bist du.
Nicht perfekt, aber neu.
Vielleicht noch dünnhäutiger.
Vielleicht noch verletzlicher.
Vielleicht noch ausgelieferter.
Gott hat dich wunderbar gemacht.
Wie dieses Kind in diesem Stall.

Gott weiß, was am Anfang zu tun ist.
Auch mit dir.
Er kennt die Regeln.
Wenn es Tag wird,
wenn ein Same aufgeht
und der Regen die Luft sauber gewaschen hat.

Gott weiß, wie es mit dir weitergeht, du Kind Gottes.
Und geht mit dir deine Schritte ins Leben.
Und siehe, alles ist nicht perfekt, aber neu.
Siehe, alles ist sehr gut.

Amen.

(1) hier zu empfehle ich die wunderbare Begegnung, die Bettina Schlauraff in ihrem wunderbaren Blog beschreibt: https://menschensammlerin.blogspot.com/2018/12/und-das-habt-zum-zeichen-ihr-werdet-es.html

Sonntag, 16. Dezember 2018

Ungeduld und Hoffnungsschimmer

Predigt zu Römerbrief 15,4-7.13

(mit großem Dank an Birgit Mattausch, Sebastian Finn Wolfrum und Michael Greßler)

Vor der Predigt:
Lied: Es kommt die Zeit, in der die Träume sich erfüllen.... dann gehen Gott und die Menschen Hand in Hand....


I. (Hoffnungsschimmer)
Es kommt die Zeit, in der die Träume sich erfüllen…
Dann…
Dann.
Wann ist dieses Dann?
Ich sehne mich nach diesem Dann.
Besonders nach diesen Schüssen in Straßburg.
Dieses Dann gehen Gott und die Menschen Hand in Hand.
Ich will, dass dieses Dann schon jetzt ist.
Geht dir das auch so?
Manchmal blitzen kleine Hoffnungsschimmer auf.
Wenn Warvan einen Ausbildungsplatz hat
und erstmal hier bleiben kann und nicht in den Irak zurück muss.
Wenn du erfährst, dass deine Freundin den Krebs besiegt hat.
Oder wenn eine 15 Jährige, Greta Thunberg aus Schweden,
vor der UN-Klimakonferenz spricht.
Kleine Hoffnungsschimmer.
Aber genug?
Ich will, dass aus den Hoffnungsschimmern ein ganzes Sternenzelt wird.
Mit geduldiger Ungeduld will ich das.

II. (Paulus)
Bei Paulus lesen wir aber was von Geduld:
Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben,
damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.
Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch,
dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander,
wie es Christus Jesus entspricht,
damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt,
den Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Darum nehmt einander an,
wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre.
(…)
Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch
mit aller Freude und Frieden im Glauben,
dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung
durch die Kraft des Heiligen Geistes.


III. (Ungeduldig)
Ich bin oft ungeduldig.
Und bin da nicht stolz drauf.
Ich neige dazu, andere zu unterbrechen, wenn sie was sagen.
Viele Entscheidungswege in unserer Kirche sind mir zu mühsam.
Vor einem Fahrkartenautomaten stehen und warten, bis das Ticket kommt.
Ist das Internet mal wieder ganz langsam, muss ich schnell was anderes tun.
Mir einen Capuccino machen zum Beispiel.

Manchmal MUSS meine Geduld auch an ihr Ende kommen.
Wenn die Klimakonferenz in Kattowitz mal wieder endlos diskutiert,
aber keine wirklichen Ergebnisse gebracht hat.
Ich will endlich mal verbindliche Beschlüsse sehen.
Und dass sie umgesetzt werden.
Auch die Geduld der Jugendlichen in aller Welt ist endlich aufgebraucht.
Greta bestreikt seit Wochen jeden Freitag die Schule.
Zornig und voller Ungeduld steht sie geduldig da.
Jeden Freitag.
Seit vorgestern tun das auch Schüler und Schülerinnen in Deutschland.
Ich finde das gut.

IV. (Ungeduldiger)
Vielleicht bin ich mit meinen Jahren sogar ungeduldiger geworden.
Die Lebenszeit ist zu kurz für irgendwann.
Dumme Menschen ertrag ich immer weniger.
Und das hat nichts mit IQ zu tun.
Aber wenn ich wieder und wieder lesen muss,
dass auf der Liebe kein Segen liege,
wenn sie nicht der heterosexuellen Norm entspricht...
Oder wenn ich zum 100.Mal hören muss,
dass der Klimawandel ja gar nicht menschengemacht ist
und wir deshalb nichts dagegen tun können.
Oder die Mär von den geöffneten Grenzen
und einem gewollten Bevölkerungsaustausch
zum drölfzigsten Mal die Runde macht.

Ich versuche dann, geduldig zu argumentieren.
Komme mit Fakten. Frage geduldig nach.
Und am Ende hat das Gespräch trotzdem nichts gebracht.
Die Dummheit siegt. Mein Geduldsfaden reißt.

V. (Am Ungeduldigsten - diesen Teil verdanke ich Birgit. Danke!)
Am ungeduldigsten bin ich mit mir selber.
Ich müsste so viel eigentlich besser wissen.
Ich weiß, dass bestimmte Gespräche zu nichts führen.
Ich weiß, dass fast immer Zuhören hilft.
Ich weiß auch, dass ich nicht alles in der Hand habe
und die Welt nicht retten muss.
Ich weiß, dass ich allen Grund habe, zu vertrauen.

Ich weiß es.
Und ich weiß es nicht.
Ich wünschte, ich wüsste es.

Wünschte, ich hätte mehr Vertrauen.

Ich würde mich dann nicht mehr so viel vergleichen mit anderen.
Ich wäre irgendwie heiler. Und weiser.
Leuchtender. Unabhängiger. Liebevoller.
Geduldiger.
Aber ich bins nicht.

VI. (Heilige Ungeduld)
Aber ich muss es auch gar nicht sein!
Gottes Geduld genügt vollkommen.
So geduldig, wie er ist, werde ich nie sein.
Und soll ich auch nicht.
Denn Gott hat auch meine Ungeduld lieb -
die vielleicht sogar ganz besonders.
Nämlich dann, wenn es mir um was Gutes geht.
Die Gefahr der Ungeduld ist, dass sie mich unbarmherzig macht.
Aber wenn sie mich nur in eine heilige Unruhe versetzt,
damit ich mich an Unrecht nicht gewöhne:
Dann ist sie wichtig und gut.

Meine Ungeduld ist in bester Gesellschaft.
Schon Sarah - die Frau von Abraham - konnte eigentlich nur noch lachen,
als man ihr sagte, dass sie einen Sohn bekommen würde.
Zu lange hatte sie darauf gewartet.
Jesaja, der Prophet des Trostes, schreit seinen Gott zornig an.
Reiß endlich mal den Himmel auf, Gott!
Auch Jesus reißt der Geduldsfaden als er das Tempelareal betritt.
Ihm bleibt gar nichts anderes übrig, als erstmal die Tische umzuwerfen.
Aber alle diese wissen letztlich auch,
dass sie durch ihre Ungeduld nichts beschleunigen können.
So sehr sie sich auch danach sehnen.

VII. (Gottes Geduldsfaden)
Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch,
dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander,
wie es Christus Jesus entspricht.


Der Gott der Geduld spinnt uns zusammen.
Er nimmt die verschiedenen Fäden des Lebens in die Hand.
Geduldsfaden und Trostgarn, Liebeskordeln und Ungeduldsfäden.
Geduld und Trost schimmern golden und grün.
Liebe leuchtet feuerrot.
Aber Gott weiß, dass die Welt eben nicht nur aus Liebe besteht.
Und dass die Ungeduld ihren Platz hat. 

Gerade weil sie die Brüche sichtbar macht.
Und so spinnt er die Ungeduld mit hinein in unsere Seele.
Umgeben von Geduld und Trost, damit uns die Ungeduld nicht krank macht.

Nehmt einander an,
wie Christus euch angenommen hat.

Nimm auch deine Ungeduld an.
Auch der Ungeduldsfaden schimmert und leuchtet,
solange er dich nicht unbarmherzig macht.
Gott spinnt ihn mit seiner Geduld zusammen.

Und dann lernst du zuzuhören
und dennoch zu unterbrechen, wo es nötig ist.
Du lässt nicht locker,
aber gibst anderen die Zeit, hinterherzukommen.
Du hältst dich nicht für besser als die anderen,
aber du hältst deine Träume fest.

VIII. (Hoffnungsfaden)
Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch
mit aller Freude und Frieden im Glauben.
dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung.


Ja, das wünsche ich mir.
Denn Jesus kommt.
Daran halte ich mich fest.
Ein Hoffnungsfaden, der immer noch hält.

Gott kommt -
mitten hinein in meine Ungeduld.
In meine Sehnsucht, dass alles gut wird.
Und dass er eigentlich schon da ist.

Es kommt, worauf ich warte.
Das Leben. Die Liebe.
Weihnachten in mir drin.
Hoffnungsschimmer, die zum Sternenzelt werden.
Das kommt alles,
auch wenn ich ungeduldig bin,
unerleuchtet und viel zu herzensklein.
Es dauert einfach ein bisschen.
Und vielleicht auch immer noch zu lang.
Aber es kommt.
Weil Gott ein Gott der Geduld ist.
Geduldig mit mir und mit der Welt.

Und dieser Gott der Geduld spinnt seine Fäden mit meinen zusammen.
Und da reißt dann nichts auseinander.
Das Garn ist stabil und zart zugleich.
Gott näht damit diese zerrissene Welt zusammen. 

Stich für Stich.
Er näht mein Herz zusammen.
Meine Liebe und mein sehr ramponiertes Vertrauen.
Und deins auch.

Meine Hoffnungsfäden für Warvan und für meine Freundin lege ich Gott hin.
Und Gretas Ungeduld ebenfalls.
Gott nimmt diese Fäden auf.
Und er spinnt sie zusammen
und näht mit ihnen weiter an einer Welt,
die gut für uns alle ist.
Das dauert.
Ja, das dauert.
Vielleicht dauert das lang.
Aber so lange übe ich mich -
in geduldiger Ungeduld.

Und der Friede Gottes welcher höher ist als all unsere Geduld
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Freitag, 7. Dezember 2018

Aufsehen

Zum 2.Advent:


Aufsehen
Sich aufrichten
Atmen
Tief atmen
Nacken strecken
Vom Himmel hoch gezogen
Krone aufsetzen
Kraft spüren
Atmen
Tief atmen
Und warten
Denn da kommt noch was
Und das ist richtig gut.
Seht auf und erhebt eure Häupter,
weil sich eure Erlösung naht.
(Lukas)

Dienstag, 27. November 2018

Licht im Zwischenraum

Die Tür einen Spalt offen lassen.
Das Licht vom Flur scheint etwas rein.
So ist es nicht komplett dunkel.
Licht im Zwischenraum.
Wer ein Kind zu Bett gebracht hat, weiß,
wie wichtig das ist.

Lasst eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen. (Lukas 12,35)
So heißt es diese Zwischenwoche.
Diese Woche zwischen Ende und Anfang.
Zwischen Ewigkeit und Ankunft.
Zwischen Tod und Advent.

Die Tür einen Spalt offen lassen.
Das Licht vom Advent scheint herein.
Licht im Zwischenraum.
Wissen, da kommt noch was.
Und was da kommt, ist gut.
Ist not-wendig.

Vielleicht hält mich dieses Licht wach,
Weil ich gerade wach sein muss.
Vielleicht lässt es mich auch ruhig schlafen,
Weil erholt sein genauso not-wendig ist.

Lass das Licht scheinen.
Licht im Zwischenraum.
Sei bereit für das, was kommt.
Und was da kommt, ist gut.

Montag, 26. November 2018

Zu (wenig) mutig?

Theologischer Impuls zum PERSPEKTIVWECHSEL unter dem Motto "Zu (wenig) mutig? Über den Umgang mit Risiken"

(Der Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer*innen Württemberg bat mich um diesen Impuls am 20.11.2018)

I.
Vor 4,5 Jahren stand ich auf einem Übertragungswagen in Pforzheim.
23. Februar - der Gedenktag zur Zerstörung Pforzheims am Ende des Krieges.
Ein Tag, der - wie in Dresden - auch von Rechtsextremen missbraucht wird.
(Und seit Jahren gibt es in der Stadt Streit darüber, wie man dem begegnen soll:
gar nicht im Sinne des „stillen Gedenkens“ und sie einfach machen lassen
oder doch durch Protest?)
Vor 4,5 Jahren demonstrierten gegen diese Rechten friedlich mehrere 100 Menschen.
Und vor diesen Demonstrierenden hielt ich eine Rede.

Neben vielen anderen Worten sprach ich auch folgende:
„Pforzheim war keine unschuldige Stadt.“
Im Grunde war dieser Halbsatz trivial.
Und natürlich stand er nicht für sich,
sondern in einem Zusammenhang,
wo es um die Vorgeschichte zur Bombardierung ging,
die eben auch dazu gehört,
wenn man auf diese Katastrophe für Pforzheim und die vielen Zivilisten sieht,
die dabei unschuldig ums Leben kamen.
Aber dieser Satz „Pforzheim war keine unschuldige Stadt“ klebt seitdem an mir
und lässt mich nicht mehr los.
Mir war zwar vorher klar:
Ich mache mich unbeliebt. Viele wollen das nicht hören.
Aber ich hätte nicht geglaubt, dass dieser Satz tatsächlich ein Skandal sein würde
und mich deswegen viele in die Wüste schicken wollen, zumindest raus aus Pforzheim.

Zu mutig? War ich zu mutig gewesen?

II.
Ich habe es nie als Mut empfunden, auf diesem Übertragungswagen zu stehen.
Ich empfinde es auch nicht als mutig,
wenn ich predige und dabei auch deutliche Worte finde.
Ich tu es ja auch nicht, weil mir das besonderen Spaß macht
(oder weil es mir einen Kick gäbe - auch wenn mir das unterstellt wird).
Nein, ich tu es, weil ich ein Amt habe. Eine Verantwortung.
Und in dieser Verantwortung muss ich auch klar benennen und bekennen,
was evangelische Überzeugung ist.

Wo Menschen für minderwertig gehalten werden, muss ich laut Stop sagen.
Wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden,
Wo Hass statt Nächstenliebe propagiert wird,
Wo Andersdenkende, Andersglaubende und Andersliebende diffamiert werden,
Muss ich einschreiten - mit Hilfe dessen, was ich kann: Mit dem Wort.
Die von Gott geschenkte Menschenwürde hat immer Vorrang -
auch vor meinem eigenen Kleingeist und Kleinmut.

Wenn ich darum was sage, empfinde ich das nicht als mutig,
sondern als meine Verantwortung für die Gesellschaft.
Vielleicht ist es tatsächlich einfach das, was jetzt sein muss.
Eine innere oder äußere Notwendigkeit, die mich dazu nötigt.
Ich tu etwas, von dem ich weiß, dass die Konsequenzen unangenehm sein können.
Für mich. Und vielleicht auch für andere.
Aber ich weiß, dass ich nicht anders kann,
wenn ich meine Grundüberzeugungen nicht verraten will.

Ist das wirklich mutig? Oder eher die Angst, zu wenig mutig zu sein?

III.
Vor 73 Jahren, im Oktober 1945, wurde (hier in Stuttgart)
die Stuttgarter Schulderklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland abgegeben.
Anlass war der Besuch einer Delegation des Ökumenischen Rats der Kirchen.
Vieles in dieser Erklärung ist noch unscharf.
Die eigene Verflechtung in das Nazi-Reich konnte man da noch nicht wirklich zugeben.
Aber ein Meilenstein war folgender Satz:
„Wir klagen uns an,
daß wir nicht mutiger bekannt,
nicht treuer gebetet,
nicht fröhlicher geglaubt
und nicht brennender geliebt haben“


Dass wir nicht mutiger bekannt haben.…
Dieser Satz hat sich mir eingeprägt wie kaum ein anderer.
Nicht mutig genug bekannt...
Ja, im 3.Reich war es wirklich mutig, sich vor die verfolgten Juden zu stellen.
Es konnte das eigene Leben kosten.
Aber es gab sie: die mutigen Menschen.
Wir kennen auch ihre Namen:
die Geschwister Scholl, Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller.
Und viele Namen kennen wir auch nicht.
Aber es gab sie.
Und darum ist es auch ein Affront gegen diese mutigen Menschen,
wenn man immer noch behauptet, dass man damals ja nicht anders konnte.
Doch. Man konnte.
Es fehlte aber den meisten, die das Unrecht erkannten, der Mut.
Auch unseren Kirchen.

Mut ist immer mit Angst verbunden. Sonst wäre es kein Mut.
Mut brauche ich dann, wenn es mich was kosten könnte.
Meinen Ruf. Meine Autorität. Mein Amt. Meine Macht. Mein Geld. Mein Leben.
Aber es gibt Situationen, da ist dann Mut gefragt.

IV.
In so einer Situation befindet sich Esther.
Ein ganzes Buch ist ihr in der Bibel gewidmet.
Esther hat eine Traumkarriere* hinter sich:
Geboren als Angehörige der jüdischen Exil­gemeinde in Persien,
wächst sie im Haushalt ihres Onkels auf.
Eine königliche Misswahl, die die neue Königin des persischen Königs küren sollte,
verschafft ihr einen „Beauty­Aufenthalt“ im Palast.
Sie sticht  alle Konkurrentinnen aus und wird persische Königin,
verschweigt jedoch ihren Migrations­hintergrund.
Später erfährt sie von einer Intrige gegen ihre Glaubensgeschwister:
Die jüdischen Exilanten werden beschuldigt,
die persische Leitkultur zu untergraben und die Einheit des Reiches zu gefährden.
Ein Pogrom steht bevor.

Nun ist Esther gefordert:
würde sie weiterhin schweigen
oder endlich ihren Mund auftun?
Ester tut ihren Mund auf.
Damit riskiert sie ihren eigenen Tod.
Aber sie gewinnt das Ver­trauen des Königs und verhindert den Pogrom.
Bis heute feiern Jüdinnen und Juden am Purimfest
das Geden­ken an Esters mutigen Einsatz.

Esther hätte sich gemütlich zurücklehnen können.
Aber sie tut es nicht.
Sie scheint die richtige Frau am richtigen Platz zu sein.
Und so fühlt sie sich verantwortlich für das Schicksal der Gefährdeten.
Sie sind ihr nicht egal.
Sie tut das, was not-wendig ist.

V.
Ja, es gibt Situationen, da ist dann Mut gefragt.

Ich möchte Ihnen noch von Hananias erzählen.
Wir lesen von ihm in der Apostelgeschichte (Kapitel 9).
Er lebt in Damaskus und soll eines Tages zum frisch erblindeten Saulus gehen:
bis dato vehementer Chris­tenverfolger.
Er soll in dasselbe Haus gehen.
Im selben Raum mit diesem Menschen sein,
der bis dahin Leute wie ihn gehasst hat.
Hananias soll diesem Saulus gegenüber treten.
Ihm nahe kommen. Ihm die Hand auf den Kopf legen, ihn segnen.
Und nach langem Zögern tut er es.
Hätte ich das auch gekonnt?

Ich weiß es nicht.
Aber ich wünsche es mir.
Denn aus solchen Begegnungen entsteht Neues, Bahnbrechendes.
Nur so geschieht Veränderung.
Und aus dem Verfolger wird ein Liebender.

VI.
Zu mutig? Zu wenig mutig?
Das wissen wir meistens erst hinterher.
„Fürchte dich nicht“ ist einer der häufigsten Sätze der Bibel.
Und einer ihrer Schlüsselsätze.
In einer Zeit, wo Ängste populistisch ausgenutzt und hochgepuscht werden,
ist dieser Satz besonders wichtig.

„Fürchte dich nicht.“
Das ist keine Zauberformel,
aber ein Gegen-Satz gegen alles, was mich kleinmütig macht.
Fürchte dich nicht. Egal was passiert, ich bin bei dir.
Wenn du dich zu schwach fühlst, bin ich bei dir.
Und wenn du dich was traust, bin ich auch bei dir.
Darum: Habe den Mut, das zu tun, was gerade richtig ist.

Gerade heute brauchen wir mutige Menschen.
Mutige Menschen sind keine Superhelden.
Sie sind auch zaghaft.
Manchmal haben auch sie zu wenig Kraft, um mutig zu sein.
Und auch sie sind voller Angst.
Aber sie lassen sich von dieser Angst nicht leiten.
Und halten sich an diesem „Fürchte dich nicht“ fest.

Irgendwann ist dann da dieser Moment, worauf es ankommt.
Dann wissen die Gotteskinder, dass sie sich nicht wegducken dürfen.
Menschen wie Esther und Hananias,
Wie die Geschwister Scholl und Dietrich Bonhoeffer. Wie Sie und ich.
Und wenn es nur 5 Worte auf einem Übertragungswagen sind.
Oder die segnende Hand auf dem Kopf des Verfolgers.

Unsere Welt braucht unseren Mut. Den kleinen und den großen.
Sie braucht uns.
Wie gut, dass wir da sind.




* Einige Formulierungen hierzu habe ich mir geliehen von einer Materialsammlung von "Kirche hoch 2", die mir freundlicherweise schon gezeigt wurden, obwohl sie noch nicht veröffentlicht sind.

Sonntag, 4. November 2018

David und mein Herz - Gott wählt anders

Predigt zu 1. Samuel 16*
(In diesem Gottesdienst wurde ein kleines Mädchen getauft (ihren Namen habe ich mit G. abgekürzt). Ihr Taufspruch ist 1.Samuel 16,7b (kommt in der Predigt mehrmals vor))

I.
Muskeln spielen lassen. Große Töne spucken.
Zeigen, wo der Hammer hängt.
Der eine zeigt sich mit muskulösem Oberkörper auf einem Pferd in der Wildnis.
Fehlt nur noch der erlegte Bär.
Der andere schickt seine Armee an die Grenze nach Mexiko.
Säbelrasseln gegen Flüchtlinge aus Mittelamerika.
Er hat auch kein Problem damit, Frauen zu begrabschen.
Der dritte wirft Journalisten ins Gefängnis.
Der vierte will Waffen an alle verteilen.
Diese Sorte von Männern hat gerade Hochkonjunktur in der Politik. 
Markige Sprüche werden bejubelt.
Lügen beiseite gewischt.

In der Bibel gibt es auch diese harten Männer und starken Kerle.
Samson, Josua, Saul und wie sie alle heißen.
Und selbst David wird als Heeresführer gepriesen,
Mutig und unerschrocken im Kampf.

Aber es gibt auch die anderen Töne. 
Gott sei Dank.

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist;
der Herr aber sieht das Herz an. (1. Samuel 16,7b)


II.
Da hat einer rote Haare, schöne Augen und ist noch eher schmächtig.
Er hütet die Schafe.
Die wirklich großen Dinge machen die anderen Brüder.
Ihn hat niemand im Blick. Noch nicht mal der eigene Vater.
Warum eigentlich nicht?
Ist er noch zu jung? Zu zart besaitet?
Ein Träumer, ein Musiker, ein Dichter - so einer kann kein Land führen.
Denkt man wohl.
Da braucht man harte Männer, die über Leichen gehen können.
Denken auch heute wieder viele.
Da passt eine Frau wie Angela Merkel nicht ins Bild.
Und so ein junger, rothaariger, Harfe spielender Hirte schon gar nicht.

Auch ich habe meine Bilder für die, denen ich vertrauen kann
oder eben auch nicht.
Ein Cowboy in der russischen Steppe gibt den einen ein Gefühl der Sicherheit,
mir macht er eher Angst.
Oder auch der andere, der sich selbst für den Größten hält:
Die einen glauben ihm.
Ich kann ihm gar nichts mehr glauben.
Aber vor allem ins Herz kann ich weder ihm noch dem anderen schauen.
Ich sehe und höre nur, was außen ist.

Und aus eigener Erfahrung weiß ich auch:
Was ich durch Presse und Fernsehen über einen anderen erfahre,
ist immer nur ein kleiner Ausschnitt.
Und doch stellen sich mir die Nackenhaare auf,
wenn ein politisch Verantwortlicher Flüchtlinge kriminalisiert
und verächtlich über Frauen spricht
Oder ein anderer seinen schwulen Sohn lieber tot sehen möchte.
Überhaupt diese Neigung, sich selbst groß zu machen,
indem man auf andere tritt, als ob sie Ungeziefer seien.
Da kann ich nicht mehr vertrauen

Wie gefährlich das ist, ist bekannt.
Da werden Menschen durch Lügen und Unwahrheiten bloßgestellt. 
Oder noch schlimmer:
Ihnen wird die Würde geraubt.
Sie werden gar nicht mehr als Menschen gesehen.
Sondern nur noch als Feinde,
derer man sich entledigen muss.
Es geht so leicht, uns zu blenden.
Wie damals vor 80 Jahren - da waren die Herzen kalt.
Auch die Herzen der meisten Christen.

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist;
der Herr aber sieht das Herz an.


III.
Der Prophet Samuel hätte jemand anderen zum König gesalbt.
Selbst ein Prophet kann mal daneben liegen und sich blenden lassen.
Aber etwas hat ihn anders hinsehen lassen.
Die Stimme Gottes in ihm vielleicht.
Eine Stimme, die in jedem Menschen anders klingt.
Und vielleicht doch dasselbe sagt:
Schau nicht auf das Äußere, schau das Herz an.
Und höre auf dein Herz.

Mein Herz.
Es schlägt da in meinem Körper.
Pumpt Blut durch die Adern.
Hält mich am Leben.
Es schlägt und schlägt und pumpt und pumpt.
Es kann ängstlich sein und aufgeregt.
Müde kann es sein und weh tun.
Ich stelle mir vor, wie Gott mein Herz in seine Hand nimmt,
Und er weiß, wie es um mich bestellt ist.
Meine Angst, nicht perfekt genug zu sein.
Meine Freude über ein wunderbares Musikstück.
Meine Hoffnung, dass mir die Midterm-Wahlen in den USA
ein anderes Amerika zeigen.
Alles das sieht Gott
und so viel mehr, was ganz tief in meinem Herzen verschlossen ist.
Meine Zweifel, Träume, meine Scham - 
in diesem manchmal so starken und manchmal so schwachen Herzen.
Gott schaut das alles liebevoll an.
Und wärmt es mit seinem Blick.
Und er sieht auch die Möglichkeiten, die ich noch nicht sehe.
Das, was ich ändern kann.
Und ich muss nicht mehr so tun als ob, sondern kann ganz ich sein.

IV.
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist;
der Herr aber sieht das Herz an.


Liebe Eltern von G.,
Auch ihr glaubt, dass Gott liebevoll auf das Herz von Greta schaut.
Darum lasst ihr sie taufen.
Gott hat euch G. anvertraut.
Und ihr Herz legt ihr ihm in die Hände.
Weil Gott sie liebt, wie ihr sie liebt.
Und weil ihr wisst,
dass diese Liebe in einer Welt des Augenscheins unendlich wertvoll ist.

Auch G.s Herz wird mal mutlos sein.
Oder wild schlagen.
Auch G.s Herz wird voller Zweifel sein -
an sich selbst oder auch an dieser manchmal so herzlosen Welt.

Aber dann ist da diese Zusage von Gott:
Ich schaue dein Herz an. Ich weiß, wie es dir geht.
Du bist und bleibst mein geliebtes Kind.
Und ich sehe, was noch alles so da ist:
Deine Liebe. Dein Mut.
Deine Lebensfreude.
Eben du. Ganz du.

V.
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist;
der Herr aber sieht das Herz an.


Was hat Gott wohl bei David gesehen?
Hat er auch gesehen,
dass David mal so richtig intrigant einen Mann umbringen lassen würde,
nur damit er selber gut da steht?
Hat er gesehen, wie kaltblütig David sein kann?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das nicht gesehen hat.
Und trotzdem scheint ihm das viele andere wichtiger zu sein:
David, der junge Mann, der sich nicht zu schade ist, Schafe zu hüten.
Mit seiner Musik kann er die Seele eines verbitterten Königs beruhigen.
Er kann damit Frieden stiften.
Und selbst als mächtiger Mann kennt dieser David Mitleid.
Weint um sein totes Kind und um seinen toten Freund.
Ja, auch als Gesalbter ist David kein unfehlbarer Mensch.
Er macht Fehler. Schwere Fehler.
Aber er ist auch fähig, diese Fehler zuzugeben.
Selbst wenn es ihm schwer fällt.

Gott sieht dieses Herz von David an
und er sieht, dass er da einen ganz normalen Menschen vor sich hat,
Mit Potential - würde man heute sagen.
Er sieht, was gut ist und darauf vertraut er.
Und er weiß auch, dass David vieles nicht gut machen wird.
Dennoch lässt er ihn nicht fallen.

VI.
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist;
der Herr aber sieht das Herz an.


Gott lässt sich nicht blenden.
Und er setzt andere Maßstäbe an.
Nicht die der skrupellosen Macht
und nicht die der augenscheinlich starken Männer.
Markige Parolen, nationalistisches Gedröhn,
Säbelrasseln und selbstverliebte Überheblichkeit,
alles das sind keine Eigenschaften, die Gott mag.
Denn sie sind nur möglich mit kaltem Herzen.
Mit einer Kälte, die Menschenleben in Kauf nimmt
um der eigenen Macht willen.
Gott wählt anders.
Gott wählt die „weichen“ Seiten des Lebens,
Er wählt das, was das Herz erwärmt:
Die Musik. Das Hüten. Die Liebe zum Leben.
Ein Lied. Ein Gedicht. 
Und ehrliches tiefes Vertrauen.

Wir taufen gleich die kleine G..
Wir vertrauen ihr Herz dem liebevollen Blick Gottes an.
Und hoffen, dass sie ihr Herz immer gut geborgen weiß.

In dieser Welt brauchen wir diese zarten und kleinen schlagenden Herzen.
Die führen uns vor Augen,
dass es auf die herzenswarmen Seiten des Lebens
ankommt.
Nur mit ihnen geht Leben.
Nur mit liebendem Herzen.
Amen.

* aus 1.Samuel 16:
Der Herr sprach zu Samuel:   (…) Fülle dein Horn mit Öl und geh hin:
Ich will dich senden zu dem Bethlehemiter Isai;
denn unter seinen Söhnen hab ich mir einen zum König ersehen.

Samuel aber sprach:
Wie kann ich hingehen? Saul wird's erfahren und mich töten.
Der Herr sprach: Nimm eine junge Kuh mit dir und sprich:
Ich bin gekommen, dem Herrn zu opfern.
Und du sollst Isai zum Opfer laden.
Da will ich dich wissen lassen, was du tun sollst,
dass du mir den salbst, den ich dir nennen werde.

Samuel tat, wie ihm der Herr gesagt hatte, und kam nach Bethlehem. (…)
Und er heiligte den Isai und seine Söhne und lud sie zum Opfer.

Als sie nun kamen, sah er den Eliab an und dachte:
Fürwahr, da steht vor dem Herrn sein Gesalbter.
Aber der Herr sprach zu Samuel:
Sieh nicht an sein Aussehen und seinen hohen Wuchs; ich habe ihn verworfen.
Denn es ist nicht so, wie ein Mensch es sieht:
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.

Da rief Isai den Abinadab und ließ ihn an Samuel vorübergehen.
Und er sprach: Auch diesen hat der Herr nicht erwählt. (…)
So ließ Isai seine sieben Söhne an Samuel vorübergehen;
aber Samuel sprach zu Isai: Der Herr hat keinen von ihnen erwählt.

Und Samuel sprach zu Isai: Sind das alle deine Söhne?
Er aber sprach: Es ist noch übrig der jüngste; und siehe, er hütet die Schafe.
Da sprach Samuel zu Isai: Sende hin und lass ihn holen;
denn wir werden uns nicht niedersetzen, bis er hierhergekommen ist.

Da sandte er hin und ließ ihn holen.
Und er war rothaarig, mit schönen Augen und von guter Gestalt.
Und der Herr sprach: Auf, salbe ihn, denn der ist's.
Da nahm Samuel sein Ölhorn und salbte ihn mitten unter seinen Brüdern.
Und der Geist des Herrn geriet über David von dem Tag an und weiterhin.
Samuel aber machte sich auf und ging nach Rama.

Der Geist des Herrn aber wich von Saul, und ein böser Geist vom Herrn verstörte ihn.
Da sprachen die Knechte Sauls zu ihm:
Siehe, ein böser Geist von Gott verstört dich.
Unser Herr befehle uns nun, dass wir einen Mann suchen, der auf der Harfe gut spielen kann,
damit, wenn der böse Geist Gottes über dich kommt,
er mit seiner Hand darauf spiele, und es besser mit dir werde.

Da sprach Saul zu seinen Knechten:
Seht nach einem Mann, der des Saitenspiels kundig ist, und bringt ihn zu mir.
Da antwortete einer der jungen Männer und sprach:
Ich habe gesehen einen Sohn Isais, des Bethlehemiters,
der ist des Saitenspiels kundig,   ein tapferer Mann und tüchtig zum Kampf,
verständig in seinen Reden und schön, und der Herr ist mit ihm.

Da sandte Saul Boten zu Isai und ließ ihm sagen:
Sende deinen Sohn David zu mir, der bei den Schafen ist. (…)
So kam David zu Saul und diente ihm. (….)

Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, nahm David die Harfe
und spielte darauf mit seiner Hand.
So erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.

Sonntag, 28. Oktober 2018

Ein Zelt für meine Seele

Predigt für eine besondere Kirche
70 Jahre Auferstehungskirche in Pforzheim
 

Vorinformation: Die Auferstehungskirche in Pforzheim ist die erste "Notkirche" in Deutschland, die nach dem 2.Weltkrieg eingeweiht wurde. Nach den Entwürfen von Otto Bartning wurden 48 Kirchen dieser Art in kürzester Zeit errichtet. Bartning sprach dabei von der "Gestalt aus der Kraft der Not". Mithilfe von Montagebauelementen aus Holz und den Trümmersteinen vor Ort wurde die Kirche durch Profis und Gemeindeglieder errichtet. Dadurch ist jede Kirche, trotz der vorgefertigten Montageelemente ein Unikat und strahlt Geschichte und Erlebtes aus. Vor 2 Jahren wurde beantragt, dass die "Notkirchen" zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt werden. Weitere Infos dazu unter https://www.ekiba.de/html/aktuell/aktuell_u.html?&m=31&artikel=3377&cataktuell=407

Aus Psalm 84:
Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!
Meine Seele verlangt und sehnt sich
nach den Vorhöfen des Herrn;
mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.
Der Vogel hat ein Haus gefunden
und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen –
deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott.
Wohl denen, die in deinem Hause wohnen;
die loben dich immerdar.
Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten
und von Herzen dir nachwandeln!
Wenn sie durchs dürre Tal ziehen,
wird es ihnen zum Quellgrund,
und Frühregen hüllt es in Segen.
Sie gehen von einer Kraft zur andern
und schauen den wahren Gott in Zion.

I.
Den Schlüssel halb gedreht
und schon macht das Schloss ein vertrautes Klick
und die Tür geht auf.
Ein vertrauter Geruch empfängt mich, die Katze maunzt.
Ich ziehe die Schuhe aus, hänge den Mantel auf,
lege den Schlüssel auf die Kommode.
Zuhause - ein gutes Gefühl.

Ich gehe in die Küche, stell die Kaffeemaschine an
und hole Milch aus dem Kühlschrank.
Die Katze liegt auf dem Sofa. Ich setze mich dazu. Endlich.
Angekommen.
Zuhause sein - gut so.

Dort ist im Kühlschrank immer etwas da,
womit ich schnell was kochen kann.
Und im Keller die Flasche Wein.
Zuhause: da sind Menschen, die sich auf mich freuen.
Und manchmal auch die Katze.
Sie mag meinen Mann zwar lieber,
aber ich darf ihr auch das Futter zubereiten.
Zuhause: da dürfen alle meine Gedanken sein -
die leichten und die schweren.
Da kann ich frustriert vor mich hin schimpfen,
eine oder zwei Tränen verdrücken oder auch mehr.
Da kann ich alles aussprechen und denken.
Ungeschminkt. 
Zwischen Bücherregal, Lieblingsfilmen
und Erinnerungstücken von unseren Reisen
komme ich, kommt meine Seele zur Ruhe.

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth.
Meine Seele verlangt und sehnt sich
nach den Vorhöfen des Herrn,
mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.
Der Vogel hat ein Haus gefunden
und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen.


II.
Ein Zuhause - das braucht meine Seele.
Wo das Herz entspannt schlagen kann
und die Augen nicht alles wachsam beobachten müssen,
weil sie sich schon auskennen.
Weil mir das vertraut ist.

Es gibt Zeiten, da musst du dein Zuhause verlassen.
Und vielleicht weißt du nicht, wie lange du weg bist
oder ob das für immer ist,
Dann nimmst du etwas mit, was deiner Seele Ruhe gibt.
Was dir Halt gibt.
Ein Foto. Ein Stein.
Vielleicht das erste Freundschaftsband.
Oder die Konfirmationsbibel.
Oder ein kleines Kreuz.
Du kannst es in die Hand nehmen oder du siehst es an.
Und Bilder kommen hoch, die dich lächeln lassen.
Oder auch weinen.

Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten
und von Herzen dir nachwandeln!
Wenn sie durchs dürre Tal ziehen,
wird es ihnen zum Quellgrund,
und Frühregen hüllt es in Segen.
Sie gehen von einer Kraft zur andern….



III.
Vor 73,5 Jahren hatten die Menschen in Pforzheim ihr Zuhause verloren.
Wie in so vielen Städten in Europa.
20 Minuten genügten in Pforzheim.
Und zurück blieben Trümmer und Tod.
Und verlorene Seelen.
Verlorene Seelen, die keine Ruhe fanden
und deren Ruhe vor der Zerstörung ihrer Häuser schon trügerisch war.
„So wandeln wir nicht nur immer wieder stumm durch die Wüstenei dieser zerstörten Stadt, sondern jeder von uns ist in der eigenen Seele in Wüste und Verlassenheit geraten.“
So Otto Bartning.
„Wir sind nun Kenner der Wüste geworden.“

Wenn die Seele nicht zur Ruhe kommen kann,
wird sie krank.
Und verbittert.
Sie weiß nicht mehr, wo Gott ist
oder ob es überhaupt noch einen Gott gibt.
Weil sie ihn nicht mehr spüren kann.

Und darum konnte den Pforzheimer Seelen
und allen, die als Geflüchtete dazu kamen,
nichts besseres geschehen,
dass Christen und Christinnen im Ausland das erkannten.
Und Geld gaben.
Ausgerechnet die ehemaligen Feinde gaben Geld,
mit dem Notkirchen gebaut werden sollten.
Ruheplatz für verlorene Seelen.
Ein Zelt in der Wüste.

Der Vogel hat ein Haus gefunden
und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen


IV.
Die Not hat dieses Gotteshaus gestaltet.
Trümmersteine geben ihm von außen ein Gesicht.
Das Kruzifix aus der zerstörten Stadtkirche hier drinnen.
Und bei Trümmersteinen und Kruzifix
sind und bleiben die Spuren der Zerstörung zu sehen.
Ihre Erinnerungen kommen mit in dieses Gotteshaus.
Und mit ihnen die Bilder an Vergangenes,
die dich weinen lassen und vielleicht auch lächeln..

Dieses Haus ist ein Zelt.
Bartning selber nannte es „Zelt in der Wüste“.
Ein Zelt in der Wüste schützt vor Kälte und wilden Tieren.
Aber es ist nichts Bleibendes.
Es führt mir vor Augen: ich bin immer noch unterwegs.
Und ich bleibe es.
So auch hier.
In der inneren und äußeren Wüste wurde ein Zelt errichtet.
Damit meine Seele zur Ruhe kommt.
Aber wissend:
Ich bleibe Wandernde, Pilgerin, Nomadin, Gottsucherin,
Und manchmal auch Fliehende.

Und auch wenn ich hier unbedingt bleiben will,
weiß ich doch, dass ich wieder raus muss.
Obwohl ich vielleicht genau hier die Geborgenheit spüre,
nach der ich mich im Grunde meiner Seele sehne,
kann ich nicht bleiben.
Kraft schöpfen, ja.
Zur Ruhe kommen. Ja.
Aber nicht bleiben.
Ein Zelt ist keine Dauerwohnung.

Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten
und von Herzen dir nachwandeln!
Wenn sie durchs dürre Tal ziehen,
wird es ihnen zum Quellgrund,
und Frühregen hüllt es in Segen.


V.
Gott selbst ist unterwegs
Die Wolken- und Feuersäule in der Wüste, die voranzieht.
Er wohnt nicht in einem unerschütterlichen, bombensicheren Gebäude,
sondern in einem Menschen, dem Jesus aus Nazareth.
Der zog zu Lebzeiten umher
und starb draußen vor den Toren in der Fremde.
Gott zieht mit mir unbehausten Menschen durch die Wüste,
durch die innere und die äußere.

Wohl denen, die in deinem Hause wohnen;
Ja, auch ich sehne mich danach,
ganz bei Gott zuhause zu sein.
Doch ich wohne noch nicht bei Gott.
Ich bleibe im dürren Tal, unterwegs.
Aber Gott geht mit mir.
Ist mir so ganz nah.
Und ist in mir.
Auch und gerade in der Wüstenei meines Lebens.

Und dorthin schickt er mich auch wieder hinaus.
Er gibt mir Worte mit,
alte und unbequeme,
die mich Mensch sein lassen
und mir auch da draußen ein Zuhause geben.

Gott schickt mich hinaus,
dass ich ihn dort suche, wo ich ihn nicht vermute.
In den Trümmern und den Spuren von Schmerz und Leid.
In den Tränen der alten Frau auf dem Friedhof
und im Lachen des kleinen Mädchens,
wenn es auf der Mauer hier draußen balanciert.
Gott könnte gerade auf einer Bank am Waisenhausplatz sitzen
und mit einer syrischen Familie Karten spielen.
Er hockt sich vielleicht im Benckiserpark zu den Obdachlosen und hört ihnen zu.
Und ich bin sicher:
er haust in Griechenland mit den geflohenen Familien in ihren Zelten
und er weint mit den Juden und Jüdinnen in Pittsburgh.

Und ja, dort und in diesen Menschen Gott zu spüren,
das ist wie nach Hause zu kommen.
Aber manchmal habe ich nur eine Ahnung davon.

VI.
Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!
Meine Seele verlangt und sehnt sich
nach den Vorhöfen des Herrn;
mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.


Ich wohne noch nicht bei Gott.
Aber ich bin mit ihm unterwegs,
weil ich weiß, dass er mit mir geht.
Ich weiß, dass meine Seele nur mit ihm zur Ruhe kommt.

Und darum bin ich im Unterwegssein sehr froh über Oasen.  
Orte, wo ich Kraft tanken kann.
Wie in dieser Kirche hier.
Das Zelt für meine Seele.  Ein Zuhause, wo gut sein ist.
Hier dürfen alle meine Gedanken sein -
die leichten und die schweren.
Hier kann ich meine Wut vor Gott bringen.
Hier kann ich Brot und Wein mit euch teilen
und eine oder zwei Tränen verdrücken oder auch mehr.
Hier bin ich zuhause
Mit meiner inneren Wüste.  Ungeschminkt.
Mit den Kratzern auf meiner Seele.
Die erkenne ich am Jesus hier wieder (Kruzifix).
Eine Not-Kirche, wo meine Not Platz hat.
Und meine Freude auch.
Und wo mein Herz entspannt schlagen kann.

Dieser Gott hat uns ein Zelt gebaut,
Mit den Trümmern der Stadt
und der Kraft und der Liebe der Menschen.
Hier schöpfen wir Kraft, tanken auf,
Beten und singen - still und laut.
Und bekennen uns zu diesem Gott,
der in den Wüsten des Lebens zu finden ist.

Von hier nehme ich mit, was mir Halt gibt.
Ein Wort. Ein Liedvers. Ein Gebet vielleicht.
Ja, und dann kann ich auch wieder hinaus gehen.
Und mit Gott unterwegs sein.
Amen.

Sonntag, 21. Oktober 2018

Raben, Ackerblumen und 6/8-Takt

Predigt zu Matthäus 6,25-34 
und zur Kantate BWV 138 "Warum betrübst du dich mein Herz"*

(mit besonderem Dank an Holger Pyka (v.a. III + IV) und Michael Greßler (v.a. I) für ihre Formulierungsimpulse)
Textpassagen in Blau sind der Kantate entnommen. Den vollständigen Text der Kantate hänge ich unten an.


Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet;
auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.
Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung
und der Leib mehr als die Kleidung?


Seht die Vögel unter dem Himmel an:
Sie säen nicht, sie ernten nicht,
sie sammeln nicht in die Scheunen;
und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.
Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?

Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte,
wie sehr er sich auch darum sorgt?

Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung?
Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen:
Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.

Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit
nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.

Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet,
das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird:
Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?

Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen:
Was werden wir essen?
Was werden wir trinken?
Womit werden wir uns kleiden?

Nach dem allen trachten die Heiden.
Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes
und nach seiner Gerechtigkeit,
so wird euch das alles zufallen.

Darum sorgt nicht für morgen,
denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.
Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.


I.
Manchmal sind sie schon morgens da.
Die Sorgen.
Grau stehen sie am Bett.
Und einen grauen Schleier legen sie dir um den Tag.
Die Sorge um den kranken Ehemann:
schlägt die Therapie endlich an?
Die Sorge um den Freund:
wird er tatsächlich abgeschoben,
wie es der Brief von gestern ankündigt?
Oder die Sorge um dein Land
und ob die Demokratie noch stark genug ist.
Alles das kann so nach dir greifen,
dass du nichts anderes mehr denken kannst.
„Ach Sorgen, werdet ihr denn alle Morgen und alle Tage wieder neu?“
So könntest du mitklagen.

Ganz schlimm wird es, wenn du das Gefühl hast:
Ich muss das alles alleine tragen.
Wenn du keinen Gott an deiner Seite spürst.
Und dann singst du mit gebrochener Stimme mit:
„Ich bin verlassen, es scheint,
als wollte mich auch Gott bei meiner Armut hassen.“


II.
„Dein Vater und dein Herre Gott, der steht dir bei in aller Not.“
Ach, lieber Johann Sebastian Bach - das kommt mir zu schnell.
Ja, ich weiß, du folgst den Worten Jesu:

Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen:
Was werden wir essen?
Was werden wir trinken?
Womit werden wir uns kleiden?
Nach dem allen trachten die Heiden.
Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.


Ich ärgere mich über diese Worte.
Empfinde sie als zynisch.
Und neige dazu, darin die typischen Worte eines Wanderpredigers zu hören.
Einer, der eben umherzieht.
Und dessen Jünger und wahrscheinlich vor allem die Jüngerinnen
nach was zu essen für alle schauen.

Keiner von uns lebt von der Hand in den Mund.
Und ich bin froh, dass wir ein soziales System haben,
In ihm können auch die Armen zumindest überleben.
Zu mehr reicht es aber auch selbst in unserem Land für viele nicht.
Wenn eine Alleinerziehende fragt:
Wie soll ich die Klassenfahrt meiner Tochter bezahlen?
Dann sage ich nicht: Nach all dem trachten die Heiden…. Darum sorge dich nicht.

Ich ärgere mich über diese Worte.
Und gerade deshalb sind sie wohl auch wichtig.
Jesu Worte reißen mich raus aus dem grauen Schleier meiner Sorgen.
Wirbeln wie ein Wind den Nebel auf.

Und sie unterbrechen meine Betriebsamkeit,
die kennt nichts anderes mehr als
das immer mehr, immer sicherer, immer weiter.
Versicherungen. Absicherungen. Geld verdienen.
Für eine gute Rente arbeiten bis zum Umfallen.
Keine Unsicherheiten zulassen.

Sorgen groß machen und politisch instrumentalisieren,
Grenzen zu. Mauern hoch.
Und besorgt auf die Straße gehen.
Sorgen klingen besser als Neid oder Missgunst oder Kleingeist.
Auf Sorgen muss man hören. Auf Neid nicht.
Da reißt Jesus die Maske ab von unserer kleinbürgerlichen Ängstlichkeit.


III.
Ja, es gibt ein Sorgen, das unfrei macht.
Es wird zum Gefängnis
und schneidet dich ab von der Welt und den Menschen um dich herum.
Ein Sorgen, das Einzelne und ganze Gesellschaften in sich verkrümmt.

Dieses Sorgen macht unfrei, weil es aus Irrtümern geboren wird:
Dass in diesem Leben irgendeine letzte, absolute Sicherheit zu haben ist
und dass wir es in der Hand haben.
Aus dem Volksmund kennen wir die Parolen:
Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.
Jeder ist seines Glückes Schmied,
und ein bisschen Unsterblichkeit kann sich jeder schaffen,
indem er ein Haus baut, ein Kind zeugt, einen Baum pflanzt
oder ein Buch schreibt.
Aber das ist letztendlich Blödsinn.

Wer ist unter euch,
der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte,
wie sehr er sich auch darum sorgt?


Die wichtigen Dinge im Leben sind weder käuflich noch sonst wie zu sichern.
Binsenweisheit.

Das weiß der Neunjährige,
der unsterblich in seine Sitznachbarin aus seiner Klasse verliebt ist -
aber noch nicht mal eine ganze bunte Tüte vom Kiosk
noch das Versprechen, ihr jeden Tag den Schulranzen zu tragen,
kann sie dazu bewegen,
seine Freundin zu werden.

Das weiß auch die erfolgreiche Geschäftsfrau
mit viel Geld auf dem Konto,
als ihr der Arzt mit ernstem Gesicht eine Diagnose übermittelt,
in der das schlimme Wort „unheilbar“ vorkommt.

Und das wissen auch die vielen Familien in Sulawesi,
deren Dörfer vom Tsunami weggeschwemmt wurden.
Das Warnsystem hat versagt.
Aber ihre Häuser hätten sie in jedem Fall verloren.
Ganze Moscheen und Kirchen sind eingekracht.

Interessanterweise können aber gerade die Ärmsten der Welt
mit dieser Unsicherheit des Lebens besser umgehen als wir,
die wir meinen alles im Griff zu haben.

IV.
Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.

Glaube ich ihm das?
Glaube ich Jesus,
dass da einer ist,
der mich in diesem ganzen unsicheren Lebenswahnsinn hält und trägt?

Ja. Ich will ihm das glauben.
Obwohl oder gerade weil Jesus so anders klingt als die besorgten Stimmen,
die gerade so laut sind
und die nach Mauern und Sicherheiten und Abschottung schreien
- auch in mir.
Ich will ihm glauben, diesem Wanderprediger voller Gottvertrauen,
und mein Blick folgt seinem ausgestreckten Zeigefinger
und fällt auf Vögel, die scheinbar schwerelos den Himmel durchziehen
und auf Blumen, die das Feld bedecken.

Und bei genauerem Hinsehen entdecke ich:
es sind nicht irgendwelche Vögel und nicht irgendwelche Blumen.
Genau ist es nicht zu erkennen, aber es sind wahrscheinlich Raben,
auf die Jesus da zeigt,
Raben - diese  schwarzen Biester,
bei uns als Diebe und Unglücksboten verschrien
und im alten Israel als unrein betrachtet.
Aber die eine oder andere sieht die Vögel
und denkt vielleicht an die alten Geschichte vom Propheten Elia:
Den versorgen ausgerechnet die Raben auf seiner Flucht mit Brot und Fleisch.
Ausgerechnet die Raben, denen keiner irgendetwas zugetraut hätte.
Außer Jesus:
der hält dann vielleicht noch ganz andere Überraschungen bereit.

Und es sind auch nicht nur Lilien, auf die Jesus da zeigt,
sondern alle möglichen Sorten von Ackerblumen,
unkultiviert im wahrsten Sinne des Wortes,
wilde und freie Gewächse,
die sehen nicht nur schön aus,
sondern sie können auch nach ihrem Verblühen
von den armen Leuten genutzt werden,
um den Ofen anzuheizen.

Schaut Euch die Vögel am Himmel an
und lernt von den Blumen auf dem Feld
und seht mit eigenen Augen:
Wo man nicht vor der Sorge um das eigene Leben kapituliert,
da wachsen Flügel,
da blüht es bunt und schön.
Und dieses Leben ist so viel mehr als eine sichere Bank.

V.
Ja, ich glaube ihm das, diesem Jesus,
und ich lasse die Vögel und die Blumen zurück
und höre und sehe mich um in der Welt
und entdecke immer mehr Zeichen
und, wer weiß, vielleicht sogar Wunder.

Und dann sehe ich, dass das Reich Gottes aufblitzt.
Und das Grau der Sorgen weicht den Herbstfarben.
Hier und da.

Ich sehe, dass die Sea-Watch endlich wieder den Hafen von Malta verlassen darf
und hoffentlich sticht sie bald wieder in See, um Menschenleben zu retten.

Ich höre von einer ganzen Klasse:
die sammelt Geld, damit die Mitschülerin doch noch mitfahren kann.

Ich sehe die 240.000, die auf der unteilbar-Demo in Berlin waren
und die machten das „wir sind mehr“ sichtbar.

Und ich höre Töne im 6/8-Takt:
die trösten mich und machen mein Herz leichter.
„Auf Gott steht meine Zuversicht, mein Glaube läßt ihn walten.“

Das höre ich und du hörst es auch.
Und vielleicht willst du dann sogar durch die Kirche tanzen
und ihre bunten Fenster geben den gesungenen Worten recht.

VI.
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes 

und nach seiner Gerechtigkeit, 

so wird euch das alles zufallen.

Ich glaube ihm diesem Jesus.
Ich will mich von seinem Vertrauen leiten lassen -
von seinem Vertrauen statt von meiner Sorge und Angst.

Ich glaube, dass Gott es gut mit mir und der Welt meint.
Und will genau hinschauen und hinhören:
wo blitzt das Reich Gottes auf und wo ist es zu hören?
Es ist da.
Dort, wo wir beide sind.

„Nun kann ich wie im Himmel leben.“

Das höre ich und nehme es mit.
Und meine Sorgen -
die lasse ich hier.

Amen.





*Text der Kantate:
1.
Warum betrübst du dich mein Herze?

Bekümmerst dich und trägest Schmerz


Nur um das zeitliche Gut?
   
        Ach, ich bin arm,
   
        mich drücket schwere Sorgen.
   
        Vom Abend bis zum Morgen


        währet meine liebe Not.
   
        Dass Gott erbarm!
   
        Wer wird mich noch erlösen
   
        vom Leibe dieser bösen
 und argen Welt?
   
        Wie elend ists um mich bestellt!
   
       Ach! wär ich doch nur tot.

Vertrau du deinem Herren Gott,
 der alle Ding erschaffen hat.

2.
Ich bin veracht'

der Herr hat mich zum Leiden
 am Tage seines Zorns gemacht

der Vorrat, hauszuhalten,
ist ziemlich klein

man schenkt mir vor den Wein der Freuden
 den bittern Kelch der Tränen ein.

Wie kann ich nun mein Amt mit Ruh verwalten,

wenn Seufzer meine Speise und Tränen das Getränke sein?

3.
        Er kann und will dich lassen nicht,
    

        er weiß gar wohl, was dir gebricht,
   
        Himmel und Erd ist sein!



Ach, wie?

Gott sorget freilich vor das Vieh,

er gibt den Vögeln seine Speise,
 er sättiget die jungen Raben,

nur ich, ich weiß nicht,
auf was Weise 
ich armes Kind 
mein bißchen Brot soll haben

wo ist jemand, der sich zu meiner Rettung findt?

   
        Dein Vater und dein Herre Gott,
 der dir beisteht in aller Not.


Ich bin verlassen,

es scheint,
 als wollte mich auch Gott bei meiner Armut hassen,

da ers doch immer gut mit mir gemeint.

Ach Sorgen,
 werdet ihr denn alle Morgen
 und alle Tage wieder neu?

So klage ich immerfort

Ach! Armut! Hartes Wort,
wer steht mir denn in meinem Kummer bei?

   
         Dein Vater und dein Herre Gott,
 der steht dir bei in aller Not.                 

4.
Ach süßer Trost! 

Wenn Gott mich nicht verlassen
 und nicht versäumen will,

so kann ich in der Stille
 und in Geduld mich fassen.

Die Welt mag immerhin mich hassen,

so werf ich meine Sorgen 
mit Freuden auf den Herrn,

und hilft er heute nicht, so hilft er mir doch morgen.

Nun leg ich herzlich gern
die Sorgen unters Kissen

und mag nichts mehr als dies zu meinem Troste wissen:

5.
Auf Gott steht meine Zuversicht,
 mein Glaube läßt ihn walten.
   
Nun kann mich keine Sorge nagen,
 nun kann mich auch kein Armut plagen.
   
Bleibt er mein Vater, meine Freude
 er will mich wunderlich erhalten.


6.
So will ich auch recht sanfte ruhn.

Euch, Sorgen! Sei der Scheidebrief gegeben.

Nun kann ich wie im Himmel leben.

7.
        Weil du mein Gott und Vater bist,

        dein Kind wirst du verlassen nicht,

        du väterliches Herz!
        
Ich bin ein armer Erdenkloß,

        auf Erden weiß ich keinen Trost


Montag, 8. Oktober 2018

Scherbe der Erinnerung

Predigt zum 75. Jahrestag der Bombardierung Böblingens am 7.10.2018

I.
Nachmittags schien noch die Sonne. Damals.
Nachmittags waren die Böblinger auf ihren Baumäckern vor der Stadt
und ernteten Obst. *
Müde sank man abends ins Bett. Damals.
Auch unbesorgt.
Ja, es gab in jüngster Zeit immer mehr Fliegerangriffe auf Deutschland
und immer häufiger zogen feindliche Bomberpulks über die Stadt.
Und ja, der Flugplatz war im Visier der Alliierten.
Aber heute doch nicht.
Denn es hatte sich ein dichter, undurchdringlicher Nebel ausgebreitet.
Wie eine Tarnkappe hat er sich über die Stadt gelegt.
Er ließ den Gedanken an eine Gefahr gar nicht erst aufkommen.
Es war der 7. Oktober 1943.

Und dann bricht plötzlich gegen Mitternacht das Inferno los.
Kinder jagen barfuss und im Nachthemd die Treppen herab in die Keller.
Auf allen Seiten heulen Bomben herab,
explodieren mit ohrenbetäubendem Knall und zuckenden Blitzen.
Fensterscheiben bersten,
Dachziegel poltern in geräuschvollen Lawinen das Dach herab.
Brände flackern auf, Blitze zucken.
Heulen und Detonationen auf allen Seiten.
Und im Keller breitet sich Todesangst aus.
Kinder heulen und wimmern,
Frauen und Männer beten laut.
Sie schmiegen sich aneinander
und können sonst nichts tun.

Gott, sei mir gnädig, denn Menschen stellen mir nach;
täglich bekämpfen und bedrängen sie mich.
Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.
Sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie. (Ps 56, 2+9)


II.
Dauert es eine halbe Stunde?
Oder eine ganze?
Auf jeden Fall eine halbe Ewigkeit des Schreckens.
Kaum zu glauben, dass sie ein Ende hat.
Es braucht Zeit,
sich aus den Klauen der Todesangst zu lösen.
Sich wieder ins Freie trauen.

Schreckliche Bilder brennen sich ein ins Gedächtnis.
Die Trümmer. Die brennenden Balken.
Die Hitze. Der Brandgeruch, tagelang.
Die Stadtkirche ist zerstört. Der Schlossberg ein Trümmerfeld.
Und ganze Familien sind in den Kellern erstickt.
In Böblingen.
In Pforzheim. In Dresden.
In Hamburg. In Stuttgart. In Berlin.
In Coventry. In London. In Rotterdam.
Ein erbarmungsloser Krieg.
Angefacht von Menschenverächtern,
Denen zu viele,
viel zu viele Menschen in Deutschland folgten.

Gott, sei mir gnädig, denn Menschen stellen mir nach;
täglich bekämpfen und bedrängen sie mich.
Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.
Sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie. (Ps 56, 2+9)



III.
Böblingen war damals noch klein.
Aber nach dem Krieg wuchs die Stadt.
Menschen zogen hierher
und brachten ihre Geschichten mit.
Ihre Geschichten des Leids und des Krieges
und des Verlustes.
Und sie wurden aufgenommen von den Böblingern.
Obwohl nichts da war.

Eine Geschichte von denen, die kamen,
könnte die von Helga sein.**
Als kleines Mädchen ist sie bei ihrem Großvater.
In Böhmen.
Er schnitzt ihr eine Puppe.
Eines Tages bringt sie ihm Herbstzweige. Buntes Laub.
Er freut sich und steckt sie in einen Krug.
Das sieht vor dem Schnee schön aus.
Doch dann kommen 2 Soldaten.
Als der Großvater sie sieht,
schickt er die kleine Helga auf den Dachboden.
Woher die Soldaten kommen, weiß sie nicht.
Aber sie weiß, sie könnte sterben.
Im Arm hat sie nicht ihre Puppe,
sondern den Krug mit Herbstzweigen.

Nun duckt sie sich im Dunkeln.
Der eine Soldat lässt sich vom Großvater die Schuhe putzen.
Lacht ihn aus.
Und schickt den anderen ins Haus, um nachzuschauen,
Vielleicht ist da noch jemand?
Plötzlich fällt draußen ein Schuss.
Der Soldat draußen lacht. Helga fängt an zu weinen.
Und weiß: ihr Großvater ist tot.
Da sieht sie der zweite Soldat.
Schaut ihr in die Augen.
Und wie sie den Krug umarmt.
Er führt seinen Finger an seine Lippen
und flüstert: "Bleib ganz still."

Dann geht er langsam zurück.
Und stolpert.
Ein Schuss löst sich.
Helga lässt den Krug fallen, der in lauter Scherben zerfällt.
Der Soldat sammelt die Scherben ein und läuft runter.
Ich habe nur einen Krug zerschossen, ruft er.
Der andere lacht.
Zurück bleibt Helga.
Und eine Scherbe vom Krug,
die der Soldat übersehen hat.

Gott, sei mir gnädig, denn Menschen stellen mir nach;
täglich bekämpfen und bedrängen sie mich.
Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.
Sammle meine Tränen in deinen Krug….  (Ps 56, 2+9)


IV.
Helga kommt in den Westen. Wie so viele.
Hier baut sie ihr neues Leben auf.
Nach dem Krieg.
Und findet ein neues Zuhause.
Wie so viele.

Über das, was damals in Böhmen passiert ist,
verliert sie kein Wort.
Wie so viele.
Auch was vorher in Deutschland geschehen ist und zum Krieg geführt hat,
das schaut sie lieber nicht an.
Wie fast alle.
Nur die Scherbe vom Krug - die behält Helga.
Es ist das Letzte, was von ihrem Großvater blieb.

Und so kommen Menschen wie Helga hierher.
Aus den östlichen Gebieten.
Aus Siebenbürgen und von der Wolga.
Aus Böhmen und Pommern.
Sie müssen ihre Heimat verlassen.
Und es kommen Menschen aus Italien und Spanien und der Türkei.
Sie wollen hier arbeiten. Und werden gebraucht.

Alle sie kommen hierher und bringen ihre Geschichten mit.
Ihren Verlust. Ihre Trauer. Ihre Einsamkeit. Ihre Schuld.
Sie kommen hierher
und bauen die Stadt mit den Hiergeborenen auf und weiter.
Oft nicht gewollt und oft geschmäht,
weil sie kein Schwäbisch sprechen.
Und auch, weil man ja selbst nicht genug hatte.
Aber die Hinzugekommenen bleiben.
Verlieben sich. Heiraten. Bekommen Kinder.
Streiten sich. Versöhnen sich wieder.
Lachen. Weinen. Arbeiten. Schlafen.

Das Leben geht für alle weiter -
auch mit den Tränen im Gepäck.
Und die Erinnerung ist dabei - oft tief verschlossen.
Ganz tief unten im Herzen.
Dort tut die Narbe immer wieder weh.
Die Scherbe vom Krug.
Ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Bild vielleicht.
Die Stimme der jüdischen Klassenkameradin,
die auf einmal weg war.
Die Locke von der Liebsten in Andalusien.
Die zerknitterte Bibel mit dem Goldrand.
Gerade noch gerettet.

Und die Erinnerungen blitzen auf.
Wie der Turmhahn - übrig von der alten Stadtkirche.
Oder wie die Trümmersteine mit den alten Jahreszahlen.
Mitten in den neuen Gebäuden.
Man hat sie mit eingebaut.
Wenn man genau hinschaut, sieht man sie.
Stolpersteine.
Reste der Erinnerung.

Zähle die Tage meiner Flucht,
sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie. (Ps 56,9)


V.
Gott zählt die Tränen.
Keine einzige übersieht er.

Gott setzt sich mit dir auf die Bank und hört dir zu.
Sie nimmt dich in den Arm und reicht dir ein Taschentuch,
wenn dein eigenes schon zu nass ist.

Gott weint mit -
Er verrät dich nicht.
Er sieht deine Angst in den Augen
und sagt, dass er den Krug zerschossen hat.
Und du fragst ihn,
warum er nicht auch deinen Großvater gerettet hat.
Und Gott weint um ihn, den gütigen Alten, der dir eine Puppe geschnitzt hat.

Die Frage bleibt.
Und eine Antwort gibt es nicht.
Gab es noch nie.
Außer die:
Gott steht immer auf der Seite derer,
die geschlagen und getreten, deportiert und getötet werden.
Gott selber wird getötet. Am Kreuz.
Von Henkern und Soldaten.
Von Bomben und Tretminen.
Von allem, was wir uns Menschen antun.

Aber er lässt es nicht beim Kreuz.
Und lässt es nicht beim Tod.
Sondern steht auf.
Zum Lebenstanz.
Mit denen, die für das Leben kämpfen.
Und mit denen, die dazu noch zu müde sind.
Ich sehe Gott,
wie er Nadia Murat nach ihren zahllosen Vergewaltigungen durch den IS ermutigt,
trotzdem darüber zu reden
und wie sie anderen Frauen Mut macht.
Und ich sehe Gott einen Freudentanz aufführen,
weil Nadia Murat dafür den Friedensnobelpreis bekommt.
Ich sehe Gott tanzen
zusammen mit ihrer toten Mutter
und den vielen Frauen, die gedemütigt wurden
und mit dem Großvater von Helga.

Zähle die Tage meiner Flucht,
sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie.
Dann werden meine Feinde zurückweichen,
wenn ich dich anrufe.
Das weiß ich, dass du mein Gott bist. (Ps 56, 9+10)


VI.
Gott zählt die Tränen und für Gott zählt jeder Mensch.
Und er führt Menschen zusammen, die einander brauchen
und sich die Augen öffnen.
Damit sie ihre Geschichten erzählen.
Und auch die Schatten nicht verschweigen.

Helga hat nach 70 Jahren den Krug wiedergefunden.
In einem Antiquitätenladen in Görlitz sieht sie ihn.
Wieder zusammengefügt.
Aber es fehlt ein Stück.
Ihr Scherbenstück.
Sie will den Krug gekaufen.
Aber der Besitzer Jakub verkauft ihn nicht.
Unverkäuflich - sagt er mit russischem Akzent.
Sie bietet 10.000 €.
Aber er geht mit ihr an einen Tisch.
Setzen Sie sich.
Und schenkt ihr Tee ein.
Erzählen Sie mir eine gute Geschichte, sagt er.
Denn wenn wir sie nicht erzählen, gibt es sie nicht.
Und Sie haben eine Geschichte mit diesem Krug.
Und dann fängt Helga an.
Stockend erst. Und die Tränen fließen.
Sie erzählt von ihrem Großvater und den Soldaten.
Vom Schnee und vom Herbstlaub und von diesem Krug.
Und dass da ein Soldat war, der sie nicht verraten hat,
der aber die Scherben aufsammelte
und selber Tränen in den Augen hatte.

Jakub nickt.
Nun können Sie den Krug mitnehmen.
Ich brauche ihn nun nicht mehr, sagt Helga.
Aber woher haben Sie den Krug?
Von meinem Vater, sagt Jakub.
Und Helga nimmt ihre Scherbe aus der Tasche
Und fügt sie zum Krug hinzu.

Zähle die Tage meiner Flucht,
sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie.


VII.
Deutsche Flüchtlinge und Gastarbeiter finden in Böblingen eine neue Heimat.
Hiergeborene und Dazugekommene machen Böblingen groß.
Menschen, die vor Hunger und Gewalt und Unterdrückung fliehen,
erfahren hier Schutz.
Die Kirche wird für sie alle zur „festen Burg“.***
Die Schattenseiten werden aufgedeckt.
Und ja, wir wollen alles dafür tun,
dass sowas nicht wieder passiert.
Und wir tanzen vielleicht mit Gott,
weil eine Jesidin den Friedensnobelpreis erhält.

Ihr alle bringt eure Geschichte mit.
Eure Scherben und Fotografien
und die Locken der Liebsten.
Eure Scham, eure Trauer und eure Hoffnung auf Frieden.
Und wir tragen das alles gemeinsam.
Miteinander.
Und mit Gott.

Ich habe dir, Gott, gelobt,  dass ich dir danken will.
Denn du hast meine Seele vom Tode errettet,  meine Füße vom Gleiten,
dass ich wandeln kann vor Gott im Licht der Lebendigen. (Ps 56, 13+14)


Amen.

* Im Wesentlichen entnommen aus: http://www.zeitreise-bb.de/boebl/boebl/gesch/angriff.html
** Die Geschichte von Helga stammt aus dem sehenswerten Kurzfilm "Eine gute Geschichte"  https://www.br.de/mediathek/video/kurzfilm-von-martin-christopher-bode-eine-gute-geschichte-av:5bb5d9eb72c1c30017131b65
*** Das evangelische Gemeindehaus in Böblingen hat den Namen "Feste Burg"

Sonntag, 16. September 2018

Das Trotzdem buchstabieren. Da kommt noch was.

Predigt zu Apostelgeschichte 12,1-11 

Mit großem Dank an Anne Gidion (1), Friederike Goedicke (2) und Michael Greßler (3) für das Zuverfügung stellen von Worten (4).

(Als Lesung wurde die Auferweckung des Lazarus gelesen (Johannes 11))

Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde,
sie zu misshandeln.
Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.
Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort
und nahm auch Petrus gefangen.
Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote.

Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis
und überantwortete ihn vier Abteilungen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen.
Denn er gedachte, ihn nach dem Passafest vor das Volk zu stellen.
So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten;
aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.

Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte,
schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt,
und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis.
 

Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum;
und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach:
Steh schnell auf! 

Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen.
Und der Engel sprach zu ihm: 

Gürte dich und zieh deine Schuhe an!
Und er tat es.
Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!
Und er ging hinaus und folgte ihm
und wusste nicht, dass das wahrhaftig geschehe durch den Engel,
sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen.
Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache
und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt;
das tat sich ihnen von selber auf.
Und sie traten hinaus und gingen eine Gasse weiter,
und alsbald verließ ihn der Engel.
 

Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er:
Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt
und mich aus der Hand des Herodes errettet hat,
und von allem, was das jüdische Volk erwartete.

(Apostelgeschichte 12,1-11)

I.
„Wir wurden in unterirdische Zellen gesperrt,
gemeinsam mit anderen Terrorverdächtigen.
Dort blieben wir 13 Tage.“

Peter Steudtner erzählt mit seinem schwedischen Kollegen Ali Gharavi von ihrer Gefangenschaft in der Türkei (5). Die beiden Menschenrechtler wurden zusammen mit anderen Aktivisten von einem Seminar abtransportiert. Einfach so.

„Die erste Woche teilte ich mir die Zelle mit mutmaßlichen IS-Anhängern.
Es waren gläubige Menschen, sie beteten, rezitierten den Koran.
In der zweiten Woche kamen Gefangene dazu, von denen es hieß,
sie würden den Prediger Fethullah Gülen unterstützen;
es waren Professoren und Anwälte.
(...)
Dort brannte das Licht die ganze Zeit.
Ich habe in den zwei Wochen auf der Polizeistation so gut wie nicht geschlafen,
auch weil ich Angst hatte, dass man uns Gewalt antun würde.“

II.
Jakobus wird umgebracht.
Einfach so.
Der König Herodes wollte es so.
Und das Volk hatte Spaß daran.
Sie werden dagestanden haben –
und sie haben gebrüllt und gejohlt und applaudiert.
»Die Christen müssen weg! –
Sie gehören nicht zu uns.«

Und weil manche Mächtige
den sogenannten »Volkswillen«
höher achten als das Recht,
macht Herodes weiter.
Der Beifall der Straße ist ihm sicher.
Jetzt ist Petrus dran.

III.
Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte,
schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt,
und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis.


Wie kannst Du schlafen, Petrus?
In Fesseln geht das doch nicht.
Bist Du erschöpft genug?
Wächter, Soldaten – da sind lauter Herodes-Leute.
Und Du kannst trotzdem schlafen?
Hast Du Schmerzen? Morgen ist der Tag. Morgen wirst Du vorgeführt.
Übst Du nicht, was Du sagen kannst?
Die Anklage steht. Wer wird Dich verteidigen?
Jacobus haben sie getötet, Deinen Freund.
Ohne Anklage, ohne Prozess, einfach so.
Die halten sich an gar nichts.
Das wird bei Dir nicht besser werden.
Wie kannst Du schlafen? Wie kannst du schlafen, Petrus?

IV.
Vielleicht wusstest du um die Gebete deiner Gemeinde.

die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott

Da waren welche, die ließen dich, Petrus, nicht allein.
Waren bei dir im Gebet, im Lied.
Vielleicht haben sie dich umgeben wie einen Schutzmantel.
Oder wie eine Wolke, die dich zärtlich berührte.
Vielleicht waren sie das Kissen, auf das du deinen Kopf legtest.
Und gaben dir das Vertrauen zurück,
das bestimmt auch du in den dunkelsten Nächten verloren hast.

Peter Steudtner und sein Freund Ali Gharavi erzählen:
"Wir bekamen keine ausländischen Zeitungen,
wir hatten kein Fernsehen und kein Internet.
Aber wir konnten einmal die Woche eine Stunde lang mit unseren Anwälten sprechen -
auf diese Weise haben wir von der Solidarität der Menschen in Deutschland erfahren."
Und Steudtner ergänzt:
"Meine Berliner Kirchengemeinde hielt jeden Abend eine Andacht für mich ab.
Ich setzte mich zur selben Zeit in den Hof
und sang die Lieder, die sie auch sangen:
"Wachet und betet", "Der Himmel geht über allen auf", "We shall overcome“."

V.
Die Gemeinde in Jerusalem und die Gethsemanegemeinde in Berlin:
Sie haben einfach gebetet.
Immer wieder und immerzu.
Denn sie haben diesem Türen öffnenden Gott geglaubt.

Sie haben geglaubt:
Gott kann ein Volk durchs Meer führen.
Sie haben geglaubt:
Blinde sehen und Lahme können gehen,
Armen wird das Evangelium gepredigt,
und sogar Tote stehen auf.
Das geht! Wegen Jesus.

Sie haben Gottes Botschaft geglaubt, die heißt:
„Doch! Es geht anders!“
Gottes Geschichte mit der Welt ist noch nicht vorbei.
Gott ist da. Jetzt.

VI.
Ich kann das nicht immer glauben.
Die Wirklichkeit hält mich zu sehr fest.
Die Türen bleiben verschlossen. Ketten fallen nicht einfach ab.
Gespräche verstummen. Mächtige sind wie sie sind.
Und machmal brüllt das Volk hässlich auf der Straße,
Und ich kann nichts dagegen machen.
Und damals war es genauso:
Jakobus - tot. Petrus - im Gefängnis.

Manchmal bleiben mir die Worte im Hals stecken, Gott.
Es reicht dann nur für ein stummes Kyrie.

Und ich frage Gott: Müsste nicht alles viel einfacher sein?
Mit deinen Heerscharen von Engeln, mit Wundern und überhaupt?

Ich wünsche mir einen Engel, der meine Nacht hell macht.
Einen Engel für jeden, schon bei der Geburt an die Seite gestellt.
In vertrauter Gestalt, wie man zu Petrus Zeiten glaubte.
Kein Schutzengel, aber ein Begleiter – vom Höchsten persönlich.

Einen Engel, der „Fürchte dich nicht sagt“.
Und dabei auch die Hassenden überzeugt.
Ketten löst, Aufbrüche vorbereitet, ans verschont werden erinnert.

Einen Engel, der die Sehnsucht nach Frieden stärkt.
Hühnersuppe kocht und Kranke pflegt.
Nach einem, der Pause drückt, wenn mir alles zu viel wird.
Beim Aufstehen hilft.
Und mitten in der Woche Blumen vorbei bringt.
Und Träume wahr werden lässt.

VII.
Ja, Gott: Auferstehung, mittendrin, versprichst du.
Dass die Liebe größer ist als aller Hass.
Und dass der Tod keine Macht hat.
Lazarus. Er steht auf. Lebt.
Petrus vertraut dem Wort, folgt dem Engel und kommt frei.
Beide Geschichten erzählen von deiner Art, „schon jetzt“ zu sagen,
Sie buchstabieren dein Trotzdem.
Und ich bin mittendrin mit meinem Kleinglauben.

Ich möchte glauben.
Engel stoßen Türen auf.
Wolken tragen durchs Leben.
Gefangene kommen frei.
Flüchtlinge finden Heimat.
Träume werden wahr.
Und der Ängstliche findet den Mut wieder.

VIII.
…Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er:
Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt
und mich aus der Hand des Herodes errettet hat,
und von allem, was das jüdische Volk erwartete.


Dein Traum ist Wirklichkeit geworden, Petrus.
Fühlst du dich wie Peter Steudtner nach seiner Freilassung?
„Ich bin glücklich, frei zu sein, meine Liebsten,
meine Familie wieder um mich zu haben.
Gleichzeitig bin ich nach wie vor unruhig.
Der Prozess gegen uns geht ja weiter.
Acht meiner Mitangeklagten leben in der Türkei.“

Ja, auch du, Petrus, weißt, dass nun nicht einfach alles gut ist.
Du und deine Schwestern und Brüder, ihr wurdet ja weiter verfolgt.
Aber du hast ihn gespürt: den Engel Gottes bei dir.
Die Gebete haben dich umhüllt.
Und darum bist du frei. Sogar mit Fesseln.

IX.
Ich möchte glauben wie Petrus.
Ich möchte das Trotzdem buchstabieren, das Gott der Welt entgegenstellt.
Und es tut mir gut, dass ich mit meinem Kleinglauben nicht allein bin.
Dass wir hier sind und beten.
Für uns und für die in den Gefängnissen und Lagern.

Und ich hoffe und erflehe,
dass Gott Engel schickt.
Die öffnen Türen und singen „we shall over come".
Himmlische Heerscharen und irdische Helferinnen.
Schon jetzt.
Betend. Schweigend. Tröstend.
Backend, wenn nichts mehr geht.
Brote schmierend und Wunder organisierend.

Mit diesen Engeln widerspreche ich dem Hass und der Hetze, in Jesu Namen.
Mit ihnen ist mein Trotzdem stärker als mein Kleinglaube.
Und sie flüstern mir beharrlich zu:
Probier es nochmal.
Du darfst hoffen. Da kommt noch was.
Und dann stehe ich auf.
Vom Sofa, vom Boden, ja sogar aus dem Grab.
Trotzdem.

X.
Ja, ich glaube:
Wir sind nicht allein auf der Welt.
Gott schickt tatsächlich Engel.

Gott schickt sie zu den Menschen früher.
Und heute.
Zu denen, die zu fragen wagen.
Und auch denen, die niemandem mehr trauen.
Engel, die in Gefängnisse kommen,
auf Konzerten mitsingen
und gegen das Ertrinken demonstrieren.
Engel, die zeigen wie Freiheit aussehen kann.
Die Licht mitbringen, wo es am dunkelsten ist.
Und uns erlauben, uns an Jesus zu klammern, wie an einen Strohhalm.

Mit diesen Engeln werden wir selber Licht sein.
Singen mit Peter Steudtner „We shall over come“.
Und wir ziehen uns mit Petrus die Schuhe an.
Und stehen auf.

Wir treten ins Freie und wissen:
Hier ist unser Platz. Gehen wir weiter.
Und unsere Gebete verändern die Welt.
Amen.

(1) Von Anne habe ich die wunderbare Passage von Teil III bekommen.

(2) Von Friedericke kommen besonders die Teile mit den Engeln, sowie der wunderbare und beflügelnde Gedanke des buchstabierten "Trotzdem"s...

(3) Von Michael kommen vor allem die Worte von Teil II.

(4) Alle drei haben selber wunderbare Predigten zu Apostelgeschichte 12 geschrieben und gehalten. Wir stellen uns regelmäßig unsere Texte zur Verfügung. Zum Teil hatte ich selber zunächst die Passagen formuliert, fand dann aber die meiner Freund*innen so viel besser, dass ich sie mit einbaute oder auch umwandelte. So ist was ganz Neues entstanden. Eine immer wieder faszinierende Erfahrung von Predigtwerkstatt, für die ich sehr dankbar bin.

(5) Die Zitate von Steudtner und Gharavi sind dem SPIEGEL-Interview mit den beiden entnommen (http://www.spiegel.de/spiegel/peter-steudtner-und-ali-gharavi-berichten-ueber-ihre-haft-in-der-tuerkei-a-1176415.html)




Sonntag, 12. August 2018

Wirf die Gnade nicht weg!

Predigt zu Galater 2,16-21

(mit Dank an Birgit Mattausch, Esther Philipps, Michael Greßler und Sebastian Wolfrum für Anregungen und Korrekturen)

I.
Petrus: Fischer von Beruf,
aus dem Norden, Galiläer,
was kann da Gutes herkommen?
Keine Schulbildung. Netze knüpfen, das hat er gelernt,
Und: die Angst aushalten,
wenn draußen auf dem tückischen See die Wellen über einen zusammen schlagen.
Ohne Jesus wäre er nie von dort weg gekommen.
Mit ihm hat er eine andere Welt gesehen.
Und Jesus hat Leidenschaft in ihm geweckt.
So muss man den Glauben an Gott leben. So wie Jesus das getan hat.
Und er stellt sich in den Jerusalemer Tempel und redet in den Synagogen.
Von diesem Jesus:
Der nimmt den Gescheiterten an
und liebt und beauftragt selbst Menschen wie ihn.
Gnade pur.

Paulus der Studierte.
Aus der Oberschicht.
Im Ausland aufgewachsen.
Jude und Römer.
Schon immer einer zwischen den Welten.
Belesen, vertraut mit den Philosophen seiner Zeit.
Jude mit leidenschaftlichem Herz.
So leidenschaftlich, dass er bereit war, Menschen sterben zu lassen.
Bis sich Jesus ihm in den Weg gestellt hatte,
damals, vor Damaskus.
Als er nichts mehr sehen konnte und ihm endlich die Augen aufgingen.
Die Leidenschaft blieb.
Und so geht er in die Welt.
Predigt auch denen, die nicht zum Volk Gottes gehören.
Erzählt von einem Gott, der dich mit liebenden Augen ansieht.
Und diesem Gott musst du nichts beweisen.
Gnade pur.

II.

Gnadenlos
haben sie, Petrus und Paulus,
vor ein paar Wochen beim Treffen aller Apostel gestritten.
Dass alle an Christus glauben, darauf konnten sie sich noch einigen.
Und ja, die Neuen, die Heidenchristen, gehören genauso zur christlichen Gemeinde
wie die, die von Anfang an dabei waren, die Judenchristen.
Ob sie nun schon immer dabei waren und zum Volk Israel gehören
oder ob sie neu dazu gekommen sind, weil sie keine Juden waren -
in der Gemeinde sind sie alle eins. Und alle gleichwertig.

Doch was auf dem Papier so gut aussieht, ist in der Praxis schwierig:
Beide Gruppen folgen Jesus nach.
Aber ist es für die Judenchristen zumutbar, mit den Neuen Abendmahl zu feiern,
obwohl diese sich nicht an die Regeln halten, die für sie lebenswichtig sind?

Petrus bekommt nun Muffensausen.
Er will die besonders Frommen und Wichtigen, die schon immer Da-Gewesenen nicht verärgern
und darum kommt es zum Skandal:
Er feiert plötzlich nicht mehr mit den Neuen.
Einfach so gehört man eben doch nicht zu Gott.

Paulus ist sauer.
Und sagt: Wirf die Gnade nicht weg.
Du, Petrus, baust Schranken auf, die für Gott nicht gelten.
Gott hat alle Schranken, die wir Menschen brauchen, abmontiert.
Da braucht es nichts mehr, was uns aufhält und abhält von einander.
Und von ihm.
Und das gilt für Neue und Die-schon-immer-dabei-gewesenen gleichermaßen.

III.
Im Brief an die Gemeinde in Galatien schreibt Paulus*:

Wir wissen: Kein Mensch gilt vor Gott als gerecht, weil er das Gesetz befolgt.
Als gerecht gilt man nur, wenn man an Jesus Christus glaubt.
Deshalb kamen auch wir zum Glauben an Jesus Christus.
Denn durch diesen Glauben an Christus werden wir vor Gott als gerecht gelten –
und nicht, weil wir tun, was das Gesetz vorschreibt.
Schließlich spricht Gott keinen Menschen von seiner Schuld frei,
weil er das Gesetz befolgt.

Nun wollen wir ja durch Christus vor Gott als gerecht gelten.
Wenn sich nun aber zeigt, dass wir trotzdem mit Schuld beladen sind –
was bedeutet das dann?
Etwa, dass Christus die Schuld auch noch fördert?
Auf gar keinen Fall!
Wenn ich nämlich das Gesetz wieder einführe, das ich vorher abgeschafft habe,
dann heißt das:
Ich selbst stelle mich als jemand hin, der es übertritt.
Das Gesetz hat mir den Tod gebracht.
Deshalb gelte ich für das Gesetz als gestorben, damit ich für Gott leben kann.

Mit Christus zusammen wurde ich gekreuzigt.
Deshalb lebe ich nicht mehr selbst – sondern Christus lebt in mir.
Mein jetziges Leben in diesem Körper lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes.
Er hat mir seine Liebe geschenkt und sein Leben für mich hergegeben.
Ich werfe die Gnade Gottes nicht weg.
Denn wenn wir durch das Gesetz vor Gott als gerecht gelten,
dann ist Christus ohne Grund gestorben.


Instrumental: Amazing grace - bis „like me“

IV.
Wirf die Gnade nicht weg. 
Schau dich mit den Augen Gottes an. Es sind Augen der Liebe.
Petrus hat das vergessen.
Oder nicht mehr gespürt.
Aber auch du hast das verlernt, oder?

Sie ernährt sich gesund und trainiert ihre Bauchmuskeln für die Bikinifigur.
Und doch traut sie sich nicht ins Schwimmbad, weil sie sich für ihre Figur schämt.
Und sie will „normal“ sein - so wie die anderen alle.
Und doch merkt sie, dass sie auf Mädchen steht.
Sie traut sich nicht, offen zu sein.
Die anderen könnten blöde Sprüche klopfen. Und Schlimmeres.
Und sagt nicht auch die Bibel, dass das falsch ist?
Darf sie so sein?

Er sieht die Bilder von den Flüchtlingen in den libyschen Lagern.
Ihre Augen lassen ihn nicht los.
Und er erträgt es kaum, dass er so wenig tun kann.
Dass die NGOs nicht mehr aufs Meer fahren dürfen, um die Flüchtlinge zu retten.
Und selbst seine Regierung will diese Ärmsten der Armen ihrem Schicksal überlassen.
So scheint es ihm.
Und dann noch die Sprüche derer, die ständig rufen „Wir sind das Volk“.
Ist es so?
Gehört er nicht mehr zu diesem Volk,
weil er den Fliehenden ein Dach über dem Kopf geben will
und weil er sein Land für reich und stabil genug hält, es doch zu tun?
Und ja, er wird immer kleiner und mutloser.

V.
Wirf die Gnade nicht weg.
Schau dich mit den Augen Gottes an.

Dieser Gott sieht diese Frau mit dem Salböl (Lukas 7,36-50).
Alle verachten sie.
Keine will so sein wie sie mit ihrem Lebenswandel.
Man zerreißt sich das Maul über sie.
Aber Gott sieht:
Diese Frau ist eine Suchende und Fragende
und sie will ein anderes Leben führen,
doch weiß noch nicht, wie.
Aber sie weiß, dass sie voller Liebe ist
und sie brauchte jemanden, der sie liebt.

Gott sieht, dass Petrus nicht nur der Feigling ist,
der die neuen Christen versetzt, weil er mit ihnen kein Abendmahl feiern will.
Er sieht die Sorge von Petrus, dass die Gemeinde auseinanderbrechen könnte.
Und er sieht in ihm den Menschenfischer.
Und dieser Menschenfischer steht immer wieder neu auf.

Wirf die Gnade nicht weg.
Gott hat sich in dich verliebt von Anbeginn an.
Du gehörst zu ihm, egal was du tust.
Und wirf nicht weg, dass er dir viel mehr zutraut als du dir selbst.
Vielleicht ist das was ganz anderes, als du denkst.

Instrumental: Amazing grace - ganz

VI.
Gottes Gnade lebt in dir.
Selbst dann, wenn du dich für was Besseres hältst oder für besonders fromm.
Er riskiert dabei sehr viel. Sein ganzes Leben. Seine ganze Liebe.
Er hat selbst die Schranke abgebaut, damit du ganz zu ihm gehörst.
Und vielleicht denkst du: dir fehlt diese Schranke.
Sie hat dir Halt gegeben. Nun ist sie nicht mehr da.
Und du schaust anders auf dich. Und das macht dir manchmal Angst.
Aber Gott schaut dich liebevoll an.
Und traut dir zu, dass du die Welt mit seinen Augen sehen wirst.


Wirf die Gnade nicht weg.
Sie wohnt in dir. Lebt in dir.
Gott ist so verliebt in dich, dass er dich ganz ausfüllt.

Und dann fragst du nicht mehr, ob du schön genug bist.
Du bist schön. Und das darfst du zeigen.
Und wenn du dein Spiegelbild nicht magst, lächelt er dir zu.

Du bist feige und mutlos?
Gottes Gnade lebt in dir!

Du bist verzweifelt und denkst: Ich bin eine Versagerin?
Gottes Gnade lebt in dir!

Und dann stehst du auf und tust dich mit anderen zusammen.
Du betest und singst und protestierst und lädst ein.
Das, wozu du gerade die Kraft hast, das tust du.
Weil Gott es dir zutraut.

Gnade pur..
Gottes verliebte Augen.
Sie schauen dich an.
Und du lächelst zurück.

Amen

*Michael Greßler hat übrigens diesen sehr schweren Text von Paulus "übersetzt". Das gebe ich gerne hier wieder:
16
Wir haben etwas gemerkt:
Wir tun viel. Wir geben uns Mühe. Wir wollen gut sein.
Aber vor Gott stehen wir deshalb noch lange nicht gut da.
Darum haben wir angefangen, an Jesus zu glauben.

Wir haben gemerkt:
Wer an Jesus glaubt, steht vor Gott gut da.
Das genügt.
Gutes tun ist wichtig.
Aber das bringt uns nicht ins Reine mit Gott.

17
So versuchen wir, bei Jesus Christus zu stehen,
damit wir vor Gott gut dastehen.

Trotzdem machen wir viel falsch.
Wir verlassen uns aber darauf,
daß Jesus es für uns gut macht.
Er nimmt uns mit zu Gott.
Auch, wenn wir Sünde tun.

Aber ist dann Jesus vielleicht selbst ein Diener der Sünde?
Niemals!

18
Wir wollen nicht mehr alles allein schaffen.
Wir wollen uns auf Jesus verlassen.
Er stellt uns gut vor Gott hin.

Wir haben es aufgegeben:
Wir wollen nicht mehr ohne Jesus zu Gott gehen.
Wenn wir das wieder versuchen,
dann wir alles wie früher.
Wir sind ja nur Menschen und schaffen es nicht allein.

19
Ich habe gemerkt:
Jesus hat schon alles gemacht.
Meine Schuld ist mit Jesus am Kreuz gestorben.
Jetzt kann ich für Gott leben.

20
Ich lebe!
Und das kann ich, weil Christus in mir lebt.
Ich lebe!
Und jeder Tag auf dieser Welt kann gut sein
Denn ich glaube ich an den Sohn Gottes.
Der hat mich schon immer geliebt
und gibt alles für mich.
Sogar sein Leben.

21
Darum muß ich nichts mehr alleine schaffen.
Ich kann mich mühen.
Und ich werde schuldig.
Aber darauf kommt es nicht an.
Es kommt auf Jesus an.
Er hat alles für mich gemacht.
Nichts davon war umsonst.
Da spüre ich Gottes Gnade.
Und die werfe ich nicht weg.