Sonntag, 28. April 2019

Guter Hoffnung sein

Predigt zu 1.Petrus 1,3-9

Mit riesengroßem Dank an Bärbel Greiler-Unrath und Friederike Goedicke, deren Worte ich weiterstricken durfte. So ist ein neuer Mix entstanden. Echte Predigtwerkstatt.


I. (Guter Hoffnung sein)

Wenn ein Kind unterwegs ist, dann sagte man früher:
„Ich bin guter Hoffnung“.
Weil man wusste: Da kommt was Gutes. Was Neues.
Nach den Wehen schreit ein neues Leben.
Schwelle zwischen Leben und Tod und Leben.
Auch heute noch ist dieser Übergang ins Leben voller Schmerzen - 

mit einem gewissen Risiko verbunden, auch wenn die moderne Medizin Sicherheit verspricht.
Wer geboren wird, muss durch einen dunklen Geburtskanal hindurch.
Erfährt Druck und Enge.

Ist das geschafft:
der erste Atemzug.
Der Beginn eines Lebens unter ganz anderen Voraussetzungen.
Abgeschnitten von der sicheren Versorgung.
Nun ist selber atmen angesagt.
Und noch blind sucht das Neugeborene nach Nahrung,
weiß noch nicht, wo die zu finden ist.
Ausgeliefert und noch hilflos ertastet sich das Kind den Weg ins Leben.  
Neues, eben geborenes Leben.

II. (Behütetsein)

Und wenn Kinder dann größer und selbständiger werde, lernen sie Laufen.
Sie lernen, aufzustehen und sich der Schwerkraft zu widersetzen. 
Beulen und Schrammen bleiben dabei nicht aus.
Und manchmal tut es richtig weh.
Wenn Kinder laufen lernen, dann ist da die Hand, die festhält und loslässt und wieder auffängt.
Kein Kind überlegt sich das beim Üben: Ist Mama, ist Papa da oder nicht?
Kann ich jetzt loslaufen? Ist die Treppe zu steil für mich oder geht das gut?
Kinder machen das einfach und vertrauen darauf, dass die Hand da ist, wenn sie eine brauchen.
Zum Auffangen und festhalten und getröstet werden.

III. (Nicht sehen können)

Blind nach dem Neuen tasten.
Nicht sehen können, ob es wirklich der richtige Weg ist.
Und trotzdem gehen. Trotzdem tasten. Trotzdem vertrauen. Trotzdem hoffen.

Thomas, einer der Freunde von Jesus, kann das noch nicht (1).
Nicht wirklich.
Was geschehen war, steckt noch in den Knochen.
Wer kann das schon begreifen?
Eine Achterbahnfahrt war das.
Hinauf nach Jerusalem, die Verheißung erfüllen.
Einmal noch miteinander essen.
Versprechen - gebrochen. Verraten. Verhaftet. Vorgeführt.
Der Weg zum Kreuz. Tief hinunter.
Am Ende, allein. Allein unter Menschen, allein am Kreuz.
Warum hast du mich verlassen? Warum nur, warum?
Da bleiben, aushalten.

Und dann: Anlauf nehmen, beim ersten Licht.
Eine kleine Weile ist erst vergangen.
3 Tage.
3 Tage und eine kleine Ewigkeit.
Zeit zum wundern, hinsehen, fragen.

IV. (Nicht begreifen)

Jesus lebt. Sagen sie.
Die eine erzählt von Gärtner - vom beim Namen gerufen werden.
Seiner allerbesten Freundin, hat er sich gezeigt.

Noli me tangere - Rühr mich nicht an.
Maria Magdalena darf ihn nicht anfassen.
Du kannst mich nicht halten in dieser Welt, scheint er zu sagen.
Lass mich gehen, bitte. Meine Liebe bleibt doch.

Thomas hingegen, nur kurze Zeit später, darf ihn berühren.
Jesus hält ihm seine Hände hin.
Da – wenn du es brauchst, um zu glauben, dass ich es bin.
Nimm meine Hände.

Glaube - mit und ohne anfassen.
Beides mutig –
beim einen die Frage, die Offenheit des Zweifels.
Bei den anderen das Vorschussvertrauen.
Mutig glauben - mit und ohne Anfassen.
Und losgehen - Ja, er lebt! Und du auch.

V. (Selig Glauben)

Selig, sind, die nicht sehen und doch glauben! (2)
Klare Worte zum Abschied - für die voller Zweifel.
Und für die, die sehen, hören, spüren und riechen wollen, dass der Tod wirklich entmachtet ist.
Für die eine, die Angst vor der Nacht hat und vor den Albträumen, die dann kommen.
Für den einen, dessen Hoffnung auf ein gutes Leben wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt
und am Ende bleibt nichts als Angst und Not und Tränen.
Für die vielen, die in Sri Lanka und jetzt auch in Powack ihre Liebsten verloren haben,
weil der Hass in einigen Menschen zu  groß war.
Für den einen, der in der Abschiebehaft sitzt, obwohl er nichts getan hat.
Und obwohl er endlich einen Job hatte, wird er nun abgeschoben.

Selig sind,  die nicht sehen und doch glauben!
Ein Vermächtnis.
Ein Vermächtnis für Maria und Johannes, Salome, Petrus und Jakobus,
Bartolomäus 
und alle anderen.
Ein Vermächtnis für diejenigen, die Jesus nie gesehen haben.  

Für die Zweifler wie Thomas. Für mich. Für dich.
Für die, die dennoch leben wollen und hoffen bis zum Schluss.

VI. (Petrusbrief)

An sie, an uns alle ist ein Brief überliefert,
der im Laufe der Geschichte dem Apostel Petrus zugeschrieben wurde.

Er schreibt:

Gelobt sei Gott, Ursprung von Jesus Christus, zu dem wir gehören.
Gott hat großes Mitleid gehabt und uns wiedergeboren,
so dass Hoffnung in uns lebendig geworden ist,
weil Jesus Christus von den Toten aufgestanden ist.

Wir hoffen, dass wir etwas erben werden, das nie vergeht,
das ohne Fehler ist und nicht verwelkt.
Es wird in den Himmeln für uns aufbewahrt,
für uns, die wir behütet werden von Gottes Kraft,
weil wir an die Rettung glauben,
die darauf wartet, am Ende der Zeit für alle offen gelegt zu werden.
Deshalb könnt ihr euch freuen,
obwohl ihr jetzt, wenn es denn sein muss, verschiedenartige Prüfungen durchsteht.
(…)
Auch wenn ihr ihn nicht gesehen habt, liebt ihr ihn.
Obwohl ihr den, dem ihr vertraut, jetzt nicht seht, jubelt ihr mit einer Freude,
die nicht mit Worten ausgedrückt werden kann, die im Glanz strahlt,
denn ihr erreicht das Ziel eures Glaubens: euer Leben wird gerettet.
(3)

VII. (Neugeburt)

Guter Hoffnung sein, weil etwas Neues beginnt.
Der Weg dorthin ist ein dunkler Geburtskanal. Da musst du durch.
Und es geht nicht ohne Schmerz und Angst. Es geht nicht ohne das Ausgesetzt sein.
Ohne nicht-sehen und nicht-verstehen.
Nicht ohne das Gefühl, alleine gelassen, verlassen zu sein.

Und doch atmest du,
du atmest, obwohl du nicht weißt, wie das geht.
Du bist da,
du bist da, obwohl du nicht weißt, wie du hierher gekommen bist.
Und bist abgenabelt und suchst tastend nach dem, was dich hält.
Nach dem, der dich hält.  Und er ist da.

Wir werden behütet von der Gottes Kraft,
weil wir an die Rettung glauben.


Da ist eine Hand, die du ergreifst, ohne hinzusehen.
Durchatmen und dann wieder neu laufen lernen.
Schritt für Schritt Dinge tun, für die bisher die Kraft gefehlt hat.
Hinfallen, aufstehen. Weitergehen. Anders als vorher.
Die Schwerkraft ist da.  Der Schmerz auch.  Und der Auferstandene.

Neu gehen. Das Tor durchschreiten. Den Geburtskanal.
Die Angst. Die Hoffnungslosigkeit hinter dir lassen.
Und endlich sehen, was jetzt noch nicht zu sehen ist.
Glauben mit Anfassen.

VIII. (Gerettetsein)

Wie oft kann ein Mensch zu hoffen, obwohl alles dagegen spricht?
Wir oft erträgt es einer, geboren zu werden,
durch die Hölle zu gehen, Schmerz zu ertragen an Leib und Seele?
Wie lange kann man glauben ohne Anfassen, ohne Sehen, ohne Begreifen? 
Und das Leben leben - neu und zerbrechlich und endlich?
Leben als Achterbahn.

Am Ende bleibt die Frage,
warum das überhaupt alles einen Sinn macht
mit dem Vertrauen auf diesen unsichtbaren Gott. 

Ihr erreicht das Ziel eures Glaubens:
euer Leben wird gerettet.


Es gibt ein Ziel.
Bis dahin ist dein Leben wie Geborenwerden
und Laufen lernen und durch die Hölle gehen.
Und immer wieder von vorn anfangen.
Voller Vertrauen und Hoffnung, dass am Ende alles gut sein wird.

Jesus nimmt dich mit. Greift deine Hand und zieht dich mit.
An den tanzenden Bettlern und Lahmen vorbei,
dorthin wo Bäume blühen und Blumen.

Wo Gott dir erklärt, wie alles wirklich ist. 
Wo du dann selig bist, weil du siehst.
Und wo du glaubst. und jubelst
mit einer Freude, die nicht mit Worten ausgedrückt werden kann
.

Amen.


Danach Lied: Wir haben Gottes Spuren festgestellt

(1) Siehe Johannes 20, 19 - 29
(2) Johannes 20,29
(3) 1. Petrus 1,3-9 Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache

Dienstag, 23. April 2019

Weniger glaube ich nicht

Predigt zum Ostermontag
Maßloser Himmel, zärtliche Berührung und eine schmerzhafte Lücke.
Mit Worten von Marie Luise Kaschnitz und Jesaja 25

I.
Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja.

(Marie Luise Kaschnitz)

Auch ich glaube an ein Leben nach dem Tod.
Glaube, dass Jesus auferstanden ist - und dass ich auferstehen werde.

Und dann stehe ich gestern morgen auf dem Wallberg in der Morgensonne,
höre von weggerollten Felsen, die das Grab verschlossen haben,
und nun geben sie den Weg frei.
Ich singe die Osterchoräle.
Das Jubeln fällt mir leicht auch bei nicht ganz so sauberen Posaunentönen.
Das Herz ist warm. Die Augen klar gewaschen.
Wir sprechen von Osteraugen. Genießen den neuen Morgen.
Frohe Ostern.
Ja, ich glaube, dass Jesus auferstanden ist. Und der Tod ist besiegt.

II.
Aber dann die Nachrichten aus Sri Lanka.
Es wurden immer mehr Tote. Bomben in Kirchen und Hotels.
Auch die Menschen dort stimmten ein in den Osterjubel, als die Bomben detonierten.
Aus dem Jubel wurde Schreien. Und aus meinem Jubel ein Weinen.

Wie ein Schleier legen sich diese Nachrichten über das Osterlachen.
Und trotzdem denke ich, fühle ich: Nein, jetzt erst recht!
Wenn Ostern nicht auch jetzt wahr ist, dann ist es nie wahr.
Ostern ist doch mehr als Frühlingssonne und Blumenrausch.
Ostern ist auch mehr als ein „Jetzt ist alles gut und das Leben geht weiter“.
Aber was? Wie?

III.
Die Worte von Kaschnitz tragen mich weiter:

Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja

Aber dann wusste ich

Keine Auskunft zu geben

Wie das aussehen sollte

Wie ich selber 

Aussehen sollte

Dort

Ich wusste nur eines

Keine Hierarchie

Von Heiligen 
auf goldenen Stühlen sitzend

Kein Niedersturz

Verdammter Seelen

Nur

Nur Liebe frei gewordene

Niemals aufgezehrte

Mich überflutend

Kein Schutzmantel starr aus Gold

Mit Edelsteinen besetzt

Ein spinnwebenleichtes Gewand

Ein Hauch

Mir um die Schultern

Liebkosung schöne Bewegung

Wie einst von tyrrhenischen

Wellen

Wie von Worten die hin und her

Wortfetzen

Komm du komm

Schmerzweb mit Tränen besetzt

Berg- und Talfahrt

Und deine Hand

Wieder in meiner

So lagen wir

Lasest du vor

Schlief ich ein

Wachte auf

Schlief ein

Wache auf

Deine Stimme empfängt mich

Entläßt mich und immer

So fort

Mehr also, fragen die Frager

Erwarten Sie nicht nach dem

Tode?

Und ich antworte

weniger nicht.


IV.
Und ich will eigene Worte dazu legen.
Stammelnd. Suchend.

Auch mir fällt es erstmal leichter zu sagen, was das Leben nach dem Tod nicht ist.
Bomben haben da keinen Platz.
Und die Frage: Hast du meine Liebe verdient? Die wird dort nicht gestellt.
Da gibt es keine Atemnot und keine Chemotherapie.
Meine Hände zittern dort nicht mehr - oder doch?
Ich höre dort bestimmt kein „das kannst du ja sowieso nicht“.

V.
Aber ich will mehr als das.

Ich will alles verstehen, was ich jetzt nicht verstehe.
Ich will meine Mutter und meinen Onkel wieder in die Arme schließen
und ihnen sagen, was ich versäumt habe, zu sagen:
Wie dankbar ich ihnen bin und dass ich ohne sie nicht die wäre, die ich bin.

Ich will Erdbeeren und Spargel in allen Variationen
und alle Gedichte auswendig können.
Neue Wortschöpfungen will ich erobern
und die schönste Musik des Himmels hören -
eine geniale Mischung aus Mozart und Jamie Cullum und Adele vielleicht.
Ich will Fingerspitzen auf meiner Haut spüren, die mir sagen, wie einzigartig ich bin.
Und ich will mit meinen Freunden voller Leidenschaft diskutieren - bis tief in die Nacht.
Wir werden nicht müde und wissen, dass wir alle Recht haben.
Mein kranker Freund ist gesund wie früher.

Ich will mit Kindern und Alten in allen Sprachen und Farben lachen und spielen.
Ich will tanzen und meine Füße tun mir nicht weh.
Ich will mich drehen und mir wird nicht schwindelig.
Ich will Felsen erklettern und fliegen und mich dabei ganz leicht fühlen.
Und der Tod ist ein alter Freund, mit dem ich ab und zu im Gras liege
und wir schauen uns die Wolken an und entdecken ihre Formen und Farben.
Wir wissen, dass sie Teil der Ewigkeit sind  und darum lassen wir sie ziehen.

VI.
Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja



Und ich lese dazu Worte von Jesaja:
Und der Herr Zebaoth wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen,
ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin keine Hefe ist.
Und er wird auf diesem Berge die Hülle wegnehmen, mit der alle Völker verhüllt sind,
und die Decke, mit der alle Heiden zugedeckt sind.
Er wird den Tod verschlingen auf ewig.
Und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen
und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen;
denn der Herr hat's gesagt.
(Jesaja 25,6-8)


VII.
Ich glaube, Jesaja und ich werden gute Freunde.
Eine große Sause bis in die Puppen. Richtig richtig gutes Essen.
Menschen aus nah und fern.
Und nichts mehr, was uns trennt. Kein Schleier, keine Decke.
Alles klar und offen.
Liebevolle Berührung. Zärtliches Tränenabwischen.
Gott reicht mir das Taschentuch und nimmt mich in den Arm
und die Gedemütigten werden aufgerichtet.
Leben nach dem Tod.
Maßloser Himmel.

VIII.
Und jetzt?
Da ist die Lücke zwischen jetzt und dann.
Die ist groß. Viel zu groß.
Und sie tut verdammt weh.
Sie wird immer sein. Da wird hier immer was fehlen.

Darum klammere ich mich daran, dass Jesus bereits auferstanden ist.
Und ich bin überzeugt, dass Gott sein Versprechen wahr macht:
Der Tod ist nicht das Ende.
Auch für mich gibt es ein Leben danach.
Und was nach dem Tod kommt, ist so großartig, dass es mich beflügelt.

Ja, dieses Danach, das blitzt jetzt in mein Leben hinein.
Allen Bomben zum Trotz.
Der Auferstandene ist bei mir.  Er lässt sich nicht mehr vertreiben.
Das Osterlicht ist da. Und es blitzt herein. Jeden Tag.
Jesus sprach mal vom Sauerteig und vom Senfkorn,
die den maßlosen Himmel sichtbar machen.
Er brach Brot, damit wir den Himmel schmecken und die Liebe bereits jetzt leben.

IX.
Also schau ich genau hin und achte auf die Osterlichtmomente.
Die kleinen Lichtfunken, die ich so leicht übersehe.

Der Freund, mit dem ich mich über hunderte Kilometer hinweg, verbunden fühle.
Die schamlos blühende Glyzinie vor meinem Fenster
und der wilde Tanz in der Küche beim Kochen.
Die WhatsApp-Gruppe des Rats der Religionen,
wo wir gemeinsam um die Toten in Sri Lanka trauern.
Und ein Abendmahl im Krankenhaus,
wo eine Patientin trotz ihrer Schmerzen vor Glück lächelt.

In alledem spüre ich, was noch kommen wird.
Maßloser Himmel.
Der wird dann viel schöner und strahlender sein und ganz anders auch.
Aber er trägt mich schon jetzt. Beflügelt. Macht mir Mut zum Leben.
Er ist da, und die

Liebe
frei geworden
e
Niemals aufgezehrt

Mich überflutend


Mehr also, fragen die Frager

Erwarten Sie nicht nach dem

Tode?

Und ich antworte

weniger nicht.


Auch nicht für jetzt.
Amen.

Freitag, 19. April 2019

Am Ende ist alles ganz

Predigt an Karfreitag zu Johannes 19*

(mit Dank an Birgit Mattausch, Sebastian Wolfrum und Keno Heyenga)

I.
Ist das jetzt das Ende?
Maria aus Magdala weint.
Was anderes bleibt ihr nicht mehr, außer zu weinen - und da zu sein.
Dabei ist das doch so viel.

Jesus hatte sie rausgeholt aus ihrer Angst, aus ihrem Kokon,
aus ihrer Erziehung, ihrer Moral .
Endlich ich sein. Geliebt von Gott. Geliebt von ihm.
Steh auf! Rief er.  Heilte ihr Herz.
Teilte seinen Becher mit ihr und das Brot.

Die anderen schauten sie immer noch schräg an.
Wer ist sie schon?
Sie mit ihrer Vergangenheit. Mit ihren Brüchen. Mit ihren Schatten.
Gehört die zu uns?
Aber es kümmerte sie nicht mehr, denn sie war ja bei ihm.
Und nichts konnte sie noch von ihm trennen.
Dachte sie.  Bis heute.

II.
Ist das jetzt das Ende?
Das Ende ihres gemeinsamen Weges?
Sie würde alles dafür geben, wenn sie ihn da runterholen könnte vom Kreuz.
Alles.
Es macht sie wahnsinnig, dass das nicht geht.
Und so steht sie hier und kann nichts tun.

Es ist laut hier.
Die Schreie der Gekreuzigten.Die Schreie der Gaffer und brüllende Soldaten.
Schwere Stiefel. Klirrende Rüstungen. Würfel fallen. Siegesgeschrei.
Maria blendet das alles aus. Hört das alles nicht. Will es nicht hören.
Sie schaut nur auf ihn.
Das kann doch noch nicht das Ende sein.

III.
Das kann noch nicht das Ende sein.
So flehten die Europäer, als sie die brennende Notre-Dame sahen.
Die Pariser sangen auf der Straße Ave Maria. Die Feuerwehrleute gaben ihr Letztes.
Banges Warten.

Das kann noch nicht das Ende sein.
Das fleht die Tochter, die ihre Mutter ins Krankenhaus bringt,
weil der Krebs sich durch ihren Körper frisst.
So vieles noch ungesagt.  So vieles noch vorgehabt.
Und jetzt? Banges Warten.
Ob sie nochmal nach Hause kann?

IV.
Maria steht nicht alleine unter dem Kreuz.
Da sind noch die anderen Marias da - die Mutter von Jesus und die anderen.
Und der eine von den Freunden ist auch da: der steht ihm besonders nahe.
Und der Sterbende spricht zu ihnen:
Frau, siehe, das ist dein Sohn!  Siehe, das ist deine Mutter!
Ihr gehört zusammen. Bleibt beieinander.
Tragt zusammen, was für eine allein zu schwer ist.
Liebesmanifest im Tod.
Mitten in Lärm und Geschrei.

Da stellen sich welche zueinander.
Eine legt den Arm um den anderen.
Tastet noch im Dunkeln nach seiner Hand.
Einer schickt immer eine Blume zum Jahrestag.
Eine kocht eine Suppe für die, die Kraft braucht.
Eine andere betet.

V.
Ist das jetzt das Ende?
Schreie verstummen und das Laute wird leise.
Mich dürstet, sagt der Sterbende.
Ausgetrocknete Kehle. Menschlich durch und durch.
Kein ferner Gott, der zuschaut. Dieser Gott ist mittendrin.
Das Kind in der Krippe.
Der Heiler in der Synagoge.
Der Tische-Umwerfer im Tempel.
Der mit seinen Freunden das Brot teilt.
Der Flehende und Weinende im nächtlichen Garten Gethsemane.

Wahrer Mensch.
Er hat Durst und Hunger wie ich.
Er sehnt sich wie ich nach zärtlicher Berührung und nach einem neuen Morgen.
Er will mit jeder Faser seines Körpers leben und weiß doch, dass er nun sterben wird.
Der Tod ist das menschlichste und das unmenschlichste zugleich.
Weil er uns wegreißt und auseinanderreißt - und weil er das Ende ist.

VI.
Es ist vollbracht.
Worte, um die ich ringe - die ich nie wirklich verstehe.
Und ich habe sie in Verdacht, dass sie mich vertrösten wollen.
Alles ist gut so? Alles soll so sein?
Nein, dieser Tod am Kreuz soll nicht so sein.
In mir sträubt sich alles dagegen.
Kein Mensch kann das wirklich wollen. Und kein Gott.

Aber nun sind sie da, diese Worte: Es ist vollbracht.
Und ich schaue auf diesen wahren Menschen,
Der noch im Sterben Liebende zusammenbringt,
der dafür sorgt, dass da welche beieinander stehen,
einander halten und stützen.

Und ich sehe, dass dieser Tod nicht auseinander reißt, sondern zusammenführt.
Er führt Gott hinein, wo es dunkel ist.
Wo nichts mehr ist, wo wir an unser Ende kommen: da ist Gott.
Er drückt sich nicht vor diesem Dunkel.
Ist nicht nur für das Helle zuständig - für den Erfolg oder das Schöne.
Nein, er ist gerade da, wo die Narben sind,
die Brüche, die Schatten - das, was mir Angst macht.
Da ist er - der Liebende, der Zusammenbringende.
Er hält das aus. Und er hält mich aus. Voll und ganz.

VII.
Es ist vollbracht.
Dieses auseinandergerissene, abgebrochene Leben ist vollbracht.
Es ist ganz und gar. Es ist vollständig.
Alles was vorher Liebe war ist immer noch voller Liebe.
Schmerzen und Wunden werden nicht ausgeblendet, sondern sind ein Teil von Gott.
Da ist kein Makel dran, auch wenn die Umstehenden nur Makel sehen.
Jede Narbe macht dieses Leben vollständig. Jede Schwäche macht es komplett.
Weil sie ein Teil von Gott ist.

Es ist vollbracht.
Worte, die beschädigtes Leben heiligen - ihm die Würde zurückgeben.
Unperfektes wird vollkommen geheißen, Abgebrochenes rehabilitiert.
In aller Zerrissenheit bleibt es ganz wie das Tuch, um das die Soldaten würfeln.

VIII.
Es ist vollbracht.
Gott lebt und stirbt die Liebe.
Und da steht nun Maria aus Magdala unter dem Kreuz.
Sie mit ihren Brüchen und ihren Schatten un die so schräg angeschaut wird.
Sie steht da und hält die anderen im Arm.
Auch ihr Leben ist vollbracht.  Er hat es vollkommen gemacht,
weil er mit ihren Schatten und Brüchen und den Beschädigungen am Kreuz ist.
Ihr Weg ist sein Weg. Mit Lärm und Blut und Rissen in der Seele.
Ihr Leiden ist sein Leiden. Ihr Tod ist sein Tod.
Da ist keine Trennung, kein Riss, sondern Liebe mit allen Schatten und Brüchen.
Und nichts kann sie von ihm trennen.

IX.
Es ist vollbracht.
Und darum steht Maria mit den anderen nicht alleine da unterm Kreuz.
Der sterbende Gott, der wahre Mensch steht bei ihnen.
Er umarmt sie, hält ihre Hand, stützt sie.
Er weint mit ihnen, klagt und schreit und schweigt mit ihnen.
Er singt mit den Parisern das Ave Maria
und bangt mit der Tochter um ihre Mutter im Krankenhaus.
Der Mutter streicht er über die Stirn und hält sie ganz fest im Arm.

Ist es jetzt das Ende?
Ja.
Aber am Ende ist er da.
Am Ende geht er in die absolute Dunkelheit.
Am Ende gibt es keinen gottlosen Ort mehr, weil er auch dort ist.
Am Ende ist alles ganz.
Es ist vollbracht.
Amen.



* Textgrundlage:

Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König von Israel!, und schlugen ihm ins Gesicht.
Und Pilatus ging wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde. Da kam Jesus heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Seht, welch ein Mensch!
Als ihn die Hohenpriester und die Diener sahen, schrien sie: Kreuzige! Kreuzige! Pilatus spricht zu ihnen: Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm. Sie antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht.


Als Pilatus das hörte, fürchtete er sich noch mehr und ging wieder hinein in das Prätorium und spricht zu Jesus: Woher bist du? Aber Jesus gab ihm keine Antwort.
Da sprach Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht habe, dich zu kreuzigen?
Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre. Darum begeht, der mich an ausgeliefert hat, das größere Unrecht.
Von da an versucht Pilatus, ihn freizulassen.
Die Vertreter der jüdischen Obrigkeit aber schrien: Lässt du diesen frei, so bist du nicht mehr dem Kaiser treu; wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser. Da Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus heraus und setzte sich auf den Richterstuhl an der Stätte, die da heißt Steinpflaster, auf Hebräisch Gabbata.

Es war aber der Vorbereitungstag für das Passafest, um die sechste Stunde. Und er spricht zu den Vertretern der jüdischen Obrigkeit: Sehet, euer König! Sie schrien aber: Weg, weg mit ihm! Kreuzige ihn! Spricht Pilatus zu ihnen: Soll ich euren König kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser. Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde.

Sie nahmen ihn also, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.
Pilatus schrieb auch eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, König des jüdischen Volkes. Viele Menschen aus seinem Volk lasen diese Aufschrift, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die jüdischen Hohenpriester zu Pilatus: Schreibe nicht: Der König des jüdischen Volkes, sondern dass er gesagt hat: Ich bin König des jüdischen Volkes. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria aus Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.