Freitag, 2. April 2021

Ausgeliefert. Ausgespielt. Angewiesen. Vollbracht.

Predigt zu Karfreitag 2021


 1. Johannes 19, 16-22


Da lieferte Pilatus ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt werden konnte. Jesus wurde abgeführt. Er trug sein Kreuz selbst aus der Stadt hinaus zu dem Ort, der »Schädelplatz« heißt, auf Hebräisch Golgota. Dort wurde Jesus gekreuzigt und mit ihm noch zwei andere – einer auf jeder Seite und Jesus in der Mitte. Pilatus ließ ein Schild oben am Kreuz anbringen, auf dem geschrieben stand:»Jesus der Nazoräer, der König der Juden.« Viele Juden lasen das Schild. Denn der Ort, wo Jesus gekreuzigt wurde, lag nahe bei der Stadt. Die Inschrift war in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache abgefasst. Die führenden Priester des jüdischen Volkes sagten zu Pilatus: »Schreibe nicht: ›Der König der Juden‹, sondern: ›Dieser Mann hat behauptet: Ich bin der König der Juden.‹« Pilatus erwiderte:»Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.«

2. Ausgeliefert

Ausgeliefert hat Pilatus ihn.
Ausgeliefert den religiösen Führern. Dem Volk. Den Soldaten.
Ausgeliefert an die Welt.
Dem Spott ausgeliefert und dem Mobbing. Dem Neid und dem Hass.
Ausgeliefert der Willkür. Des Spiels mit der Macht.
Wer ausgeliefert wird, hat keinen Einfluss mehr darauf, was mit ihm passiert.
Kann sich nicht wehren. Ist machtlos.
In den Gefängnissen dieser Welt. In den Folterkammern. Auf den Hinrichtungsplätzen.
Ausgeliefert den Tiefen des Mittelmeeres oder der Kälte auf Lesbos.
Ausgeliefert einem Virus, wenn es im Körper ist.
Ausgeliefert an mich.

Gott lässt sich ausliefern.
Er lässt sich von einem König in das Dorf Bethlehem schicken.
Er lässt sich die Tür vor die Nase schlagen:
hier ist kein Platz für dich.
Er lässt sich in einen Futtertrog legen.
Lässt sich in die Flucht schlagen.
Gott lässt sich abführen und bespucken,
verleugnen und verraten.
Er lässt sich foltern und ans Kreuz schlagen.
Gott lässt sich ausliefern.

Warum wehrt er sich nicht?
Er, der Allmächtige - von einem Befehlshaber ausgeliefert.
Warum tut er nichts dagegen?

Die einzige Antwort, die ich darauf habe:
Weil Gott Mensch geworden ist.
Ganz und gar. Ohne Abstriche.
Gott hat sich als Mensch ausgeliefert.

3. Johannes 19, 23-24

Nachdem die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, teilten sie seine Kleider unter sich auf. Sie waren zu viert, und jeder erhielt einen Teil. Dazu kam noch das Untergewand. Das war in einem Stück gewebt und hatte keine Naht. Die Soldaten sagten zueinander: »Das zerschneiden wir nicht! Wir lassen das Los entscheiden, wem es gehören soll.« So ging in Erfüllung, was in der Heiligen Schrift steht: »Sie verteilen meine Kleider unter sich und werfen das Los über mein Gewand.« Genau das taten die Soldaten.

4. Ausgespielt

Ausgespielt haben sie ihn.
Jesus hat nichts mehr zu melden. Nichts mehr zu sagen.
Er zählt nicht mehr. Eine Nummer. Mehr nicht.
Was er hat, ist interessant, nicht was er ist.
Dass da eine Mutter ist, die um ihn weint - eine Freundin, die um ihn trauert.
Dass er liebt und geliebt wird.
Dass er Träume hat und Hoffnungen. Dass er leben will.
Lieben. Lachen. Tanzen. Umarmen. Glauben. Weinen. Staunen. Zweifeln. Sich freuen.
Das alles interessiert nicht.

Man blendet aus, dass hier ein konkreter Mensch stirbt.
Rückt von ihm ab. Weicht aus.
Wir können sowieso nicht alle aufnehmen, sagen manche über die Mittelmeertoten.
Hätte er mal nicht mit seinem Pass geschummelt,
sagt jemand über einen abgeschobenen Flüchtling,
der nun in Afghanistan ums Leben gekommen ist
Er hätte sowieso nicht mehr lange gelebt, hört die Tochter,
deren Vater an Covid gestorben ist.
Ausgespielt. Eine Nummer. Mehr nicht.

Wer anfängt, vom dem Vater zu erzählen,
der immer da war, wenn man ihn brauchte,
stört die, für die die Maskentragepflicht ein Menschheitsverbrechen ist.
Wer von der geflüchteten Mutter erzählt,
die ihre beiden Söhne im Mittelmeer verloren hat, gilt als Sozialromantikerin.

Man spielt mit den Zahlen. Mit dem Leben. Mit dem Tod.
Pech gehabt. Uninteressant. Ausgespielt.
Oder doch nicht?

5. Johannes 19, 25-27

Nahe bei dem Kreuz von Jesus standen seine Mutter und ihre Schwester. Außerdem waren Maria, die Frau von Klopas, und Maria aus Magdala dabei. Jesus sah seine Mutter und neben ihr den Jünger, den er besonders liebte. Da sagte Jesus zu seiner Mutter:»Frau, sieh: Er ist jetzt dein Sohn.« Dann sagte er zu dem Jünger: »Sieh: Sie ist jetzt deine Mutter.« Von dieser Stunde an nahm der Jünger sie bei sich auf.

6. Angewiesen

Angewiesen sind sie.
Keine steht alleine unter dem Kreuz.
Und Jesus ist auch nicht allein.
Da sind noch die anderen da.
Die Marias, die Mutter von Jesus und die anderen.
Und der eine von den Freunden ist auch da:
der steht Jesus besonders nahe.

Und der Ausgelieferte und Ausgespielte spricht zu ihnen:
Ihr gehört zusammen. Bleibt beieinander.
Tragt zusammen, was für eine allein zu schwer ist.
Sein Liebesmanifest im Tod.

Bleibt beieinander. Aufeinander angewiesen.
Tröstet die Tochter, die um ihren Vater trauert. Stellt eine Kerze ins Fenster.
Kocht eine Suppe für die, die Kraft braucht. Oder bringt ihr einen Kuchen.
Betet für sie.

Bleibt beieinander und lasst euch nicht gegenseitig ausspielen.
Guckt nach denen, die gerade besonders still sind.
So viele, denen die Kraft fehlt und die keine Stimme haben.

Die Aktivistin, eingesperrt im Gefängnis. Die erschöpfte Altenpflegerin,
Der verprügelte Flüchtlingsjunge. Der Virologe - keine Power mehr zum Kämpfen.
Der verzweifelte Musiker. Das Kind, müde. Die Politikerin, aufgezehrt vom Vergeblichen.

Lasst sie alle nicht in Stich. Auch wenn ihr gerade nicht mehr tun könnt, als da zu sein.
Unterm Kreuz. Für sie. Auf euch angewiesen.

7.  Johannes 19, 28-30

Nachdem das geschehen war, wusste Jesus, dass jetzt alles vollbracht war. Damit vollendet würde, was in der Heiligen Schrift steht, sagte er: »Ich bin durstig!« In der Nähe stand ein Gefäß voll Essig. Die Soldaten tauchten einen Schwamm hinein. Dann legten sie ihn um einen Ysopbund und hielten ihn Jesus an den Mund. Nachdem Jesus den Essig genommen hatte, sagte er: »Es ist alles vollbracht.« Er ließ den Kopf sinken und starb.

8. Vollbracht

Vollbracht.
Ein Wort, das ich nie wirklich verstehe.
Will es mich vertrösten? Alles ist gut so? Alles soll so sein?
Kein Mensch kann das wirklich wollen. Und kein Gott.

Aber nun ist es da, dieses Wort: vollbracht.
Und ich schaue auf diesen Ausgelieferten und Ausgespielten und Angewiesenen.
Der bringt noch im Sterben Liebende zusammen.
Sorgt dafür, dass da welche beieinander stehen. Einander halten und stützen.

Dieser Tod reißt nicht auseinander, sondern führt zusammen.
Er führt Gott hinein, wo es dunkel ist. Wo nichts mehr ist. Wo alles auseinander bricht.
Wo wir an unser Ende kommen - ausgeliefert und ausgespielt und angewiesen.
Da ist Gott.
Bei den Müden und Erschöpften, den Verzweifelten und Ausgepowerten,
den Verprügelten und Kraftlosen und Eingesperrten - da ist er: der Liebende.
Er bleibt mit seiner Liebe. Er hält das aus, was ich nicht mehr aushalte.
Und er hält mich aus. Ist bei mir. Voll und ganz.

Es ist vollbracht.
Dieses ausgelieferte, ausgespielte, angewiesene Leben ist vollbracht.
Da ist kein Makel und kein Scheitern, auch wenn die anderen das so sehen.
Es ist ganz. Ganz und gar. Es ist vollständig. Wie das Tuch, um das die Soldaten würfeln.
Alles was vorher Liebe war ist immer noch voller Liebe.
Und die Liebe geht mit in den Tod. Sie bleibt. Voll und ganz.

Ausgeliefert. Ausgespielt. Angewiesen. Vollbracht. 

Amen.