Sonntag, 30. Mai 2021

Nikodemus-Stunde

Nächtliche Gespräche.
Ein Gott, der nicht zu fassen ist.
Ein Wind, der weht, wo er will.

Predigt zu Johannes 3, 1-8


1. (Johannes 3,1-2)
Unter den Pharisäern gab es einen, der Nikodemus hieß.
Er war einer der führenden Männer des jüdischen Volkes.
Eines Nachts ging er zu Jesus


2.
Die Nikodemus-Stunde. Ich mag sie.
Die Stunde in der Nacht. Im Zwischenraum.
Die Gespräche zwischen Tür und Angel. Oder die entscheidende Frage beim Abschied.
Mit meiner Freundin Britta im Treppenhaus sitzen - damals als 15jährige.
Auf dem Absatz zwischen unseren Stockwerken. Das Licht aus lassen. Flüstern.
Wie verliebt sie war. Und ich auch.
Und dass ich nicht weiß, was mit meiner Mutter los ist.
Und sie nicht weiß, ob sie die Klasse schafft.
Irgendwann war die Stunde vorbei.
Eine Umarmung. Bis morgen. Schlaf gut.

3.
Die Nikodemus-Stunde.
Dunkelblau und geheimnisvoll. Manchmal auch beängstigend. Oder voller Hoffnung?
Da kommt hoch, was am Tag heruntergeschluckt wird.
Was unklar geblieben ist, bricht sich Bahn.
Fragen wirbeln im Kopf und melden sich wie ein Ohrwurm in der Nacht.
Sie lassen dich nicht zur Ruhe kommen.
Du musst aufstehen. Ein Glas Wasser trinken. Mit jemandem reden vielleicht.

4. (Johannes 3, 2)
Eines Nachts ging Nikodemus zu Jesus und sagte zu ihm:
»Rabbi, wir wissen: Du bist ein Lehrer, den Gott uns geschickt hat.
Denn keiner kann solche Zeichen tun, wie du sie vollbringst, wenn Gott nicht mit ihm ist.«


5.
Die Nikodemusstunde.
Ob Nikodemus auch einfach nicht schlafen konnte?
Jesus faszinierte ihn. So viel hatte er über ihn gehört.
Ja, er war belesen. Kannte sich aus. War klug, gelehrt.
Und gehörte zum Hohen Rat, dem obersten, religiösen Entscheidungsgremium.
Und obwohl er diesem Jesus eigentlich mit mehr Distanz begegnen sollte,
ließ ihn nicht los, was er mitbekommen hatte.
Dieser Jesus kümmerte sich nicht, ob den Obersten gefiel, was er sagte.
Mischte den Tempel auf, verbündete sich mit Johannes dem Täufer und machte Wasser zu Wein.
Den hat der Himmel geschickt, denkt Nikodemus.

6.
Viele sagen: Nikodemus hätte sich nicht getraut, Jesus offen am Tag anzusprechen.
Es hätte seinem Image geschadet.
Vielleicht ist das so.
Vielleicht wollte er aber auch einfach nur einen ruhigen Moment nutzen.

Das Leben lässt am Tag keine Lücken, in denen die Fragen wachsen.
Und manchmal gilt das nicht nur für die Tage, sondern gleich für die Jahre.
Nikodemus kommt in der Tageszeit, die eine Lücke ist, die vor dem Schlafengehen.
Er kommt vielleicht auch in einer Lebenszeit, in der er diese Lücke besonders spürt.
Dass da etwas fehlt. Dass da doch mehr sein muss. (1)

Vielleicht wollte er Jesus einfach für sich allein.
Vielleicht war es auch nur einfach die Nacht, die dunkelblaue Stunde, die ihn zu Jesus brachte.
Irgendwo auf einem Dach. Mit den Sternen über ihren Köpfen.
Ein Becher Wein. Und der kühle Nacht-Wind.
Jedenfalls hat er sie genutzt. Die blaue Stunde. Es ist seine. Mit Jesus.
Und der lässt sich darauf ein.

7. (Johannes 3, 3-7)
Jesus antwortete: "Wahrlich, wahrlich, das sage ich dir:
Nur wenn jemand neu geboren wird, kann er das Reich Gottes sehen."
Darauf sagte Nikodemus zu ihm:
"Wie kann denn ein Mensch geboren werden, der schon alt ist?
Man kann doch nicht in den Mutterleib zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden!"
Jesus antwortete: "Wahrlich, wahrlich, das sage ich dir:
Nur wenn jemand aus Wasser und Geist geboren wird, kann er in das Reich Gottes hineinkommen.
Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist.
Wundere dich also nicht, dass ich dir gesagt habe: ›Ihr müsst von oben her neu geboren werden.‹"


8.
Es ist nie zu spät, die Welt mit neuen Augen zu sehen, sagt Jesus.
Mit den Augen des Neugeborenen auf die Welt schauen.
Das ist so dieser Anfangsmoment voller Unschuld, den sich vielleicht jede von uns wünscht.
Nichts mitschleppen an Erwartungen und Enttäuschungen.

Nichts, was mich geformt und verformt hat.
Einfach zurückstrahlen, wenn mich ein Gesicht anlächelt.
Ohne Vorbehalte und Vorurteile. Ohne Bitterkeit. Einfach so. Voller Vertrauen.
Was im Laufe des Lebens dazu gekommen ist, hindert mich nicht.

9.
Nikodemus kann sich das nicht vorstellen. Und ich verstehe ihn gut.
Denn das alte ist ja da. Ich kann es nicht einfach wegradieren.
Es ist genauso in mir wie meine Sehnsucht nach dem neuen.
Es macht mich zu dem, was ich bin.

10.
Mag sein, sagt Jesus. Aber lass dich darauf nicht festlegen.
Stelle die Fragen, die dich nicht schlafen lassen:
"Ist das schon alles? Will ich das so lassen, wie es jetzt ist?
Habe ich gefunden, was mich erfüllt? Oder suche ich immer noch?"

Du bist ein Kind des Geistes, sagt Jesus.
Und der Geist legt nicht fest und lässt sich nicht festlegen.
Kommt von oben her. Lässt neu denken. Neu sehen. Anders sehen.
Unter dem Nachthimmel. Auf dem Dach. Im Treppenhaus.
Betrachte das Leben neu. Entdecke es:
Da wird Wasser zu Wein, das Leben zum Fest, ein Kind zum Messias.
Da wird das Dunkel hell und die Nacht zum Tag.
Da gibt es Wasser am Brunnen und Tote wachen auf.
Und Gott ist da. In den Fragen. Im Suchen nach Antworten.
Im Verstehen und im Nicht-Verstehen. In der Lücke, die das Leben hinterlässt.
In der Nikodemus-Stunde.

11.
Irgendwann ist die Nikodemus-Stunde zu Ende.
Britta und ich trennen uns. Nikodemus steigt vom Dach herunter.
Aber die Fragen bleiben. Seine Fragen. Meine Fragen.
Nach dem, was mich ausmacht. Mich erfüllt. Mich lebendig macht. Mich beatmet.
Das Leben bleibt offen.

12.
Stelle weiterhin deine Fragen, sagt Jesus. Und komme wieder.
Suche die Lücken in deinem Leben, die dich weit machen. Und dich dich öffnen.
Sie bringen dich in die Nacht, unter den offenen Himmel.
Bringen dich zu mir. Aufs Dach. Wo alles anders aussieht.
Oder auf den Absatz im Treppenhaus zwischen den Stockwerken.

Halte dich offen. Gib dich mit einfachen Antworten nicht zufrieden.
Halte es aus, dass da noch was ist, das du nicht kennst. (1)
Es kommt zu dir. Gott kommt zu dir.

13. (Johannes 3, 7-8)
"Wundere dich also nicht, dass ich dir gesagt habe:
›Ihr müsst von oben her neu geboren werden.‹
Auch der Wind weht, wo er will.  Du hörst sein Rauschen.
Aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht.
Genauso ist es mit jedem, der vom Geist geboren wird."


14.
Und so ist Gott.
Nicht zu fassen. Nicht aufzuhalten. Nicht festzulegen.
Aber Gott ist da. Zu spüren, zu schmecken, zu hören.
Im Rauschen des Windes.
Im Regentropfen. In der Pfingstrose.
Im Becher Wein, den ich mit Freunden trinke.
In den Sonnenstrahlen, die meine Haut wärmen.
Im Boot, das rausfährt, um die Flüchtlinge aus dem Meer zu sammeln.
Im Lied, dass die vier Stimmen heute für uns singen.
Im Labor, das einen Impfstoff entwickelt.
Im Treppenhaus auf dem Absatz zwischen zwei Stockwerken.

Gott ist da.
Wie der Wind.
Niemand weiß, wie er weht.
Aber dass er weht, ist nicht zu bestreiten. (1)

15.
Und wenn dich deine Fragen schlaflos machen, dann ist das vielleicht der Wind.
Er treibt dich hinaus. Lässt dich suchen, was dir fehlt.
Und du gehst raus in die Nacht. Suchst dir einen guten Platz mit Jesus.
Vielleicht habt ihr Wein dabei. Vielleicht auch Tee.
Und Gott ist bei dir.
In der Nikodemus-Stunde.


(1) Diese Sätze habe ich mir aus einer Predigt von Kathrin Oxen geliehen. Danke dafür!

Übersetzung des biblischen Textes aus der Basis-Bibel mit ein paar Luther-Anleihen....


Sonntag, 9. Mai 2021

Wie ein Vater und wie eine Mutter

Ein Gebet
Inspiriert vom Vaterunser

Wie ein Vater bist du, Gott.
Einer, der mich in die Arme nimmt, wenn ich nach Hause komme.
Du nimmst mich in den Arm und fragst nicht,
warum meine Hände so schmutzig sind,
sondern drückst mir Seife in die Hand und ein frisches Handtuch.
Deine Arme, Gott, sind groß und warm und umfangen mich
und du freust dich einfach, dass ich da bin.
Zündest Kerzen für mich an. Deckst den Tisch.
Du gibst mir meine Würde zurück.

Wie ein Vater bist du, Gott.Und wie eine Mutter.
Eine, die die Suppe auf den Tisch stellt und mir einen Löffel in die Hand drückt.
Setz dich, Kind. Iss.
Und deine Suppe, Gott, schmeckt nach Zitrone und Minze und nach frischem Gemüse.
Und du setzt dich dazu, Gott, und strahlst mich an
und ich erzähle dir, was mir gut getan hat und was meine Seele schwer macht.
Wie eine Mutter streichst du mir über den Kopf.

Und ich weiß: alles wird gut. Irgendwie wird doch alles gut.
Denn ich bin ja dein Kind. Dein geliebtes Kind.

Wie ein Vater bist du, Gott, und wie eine Mutter.
Und ich will, dass die Welt endlich so wird, wie du sie gedacht hast.
Eine Welt, in der alle deine Kinder in Würde leben können.
Wo auf deine demonstrierenden Kinder nicht geschossen wird, wie gerade in Kolumbien.
Eine Welt, in der sich auch die Pflegenden erholen können.

Ist es möglich, Gott, dass es diese Welt schon jetzt gibt?
Jetzt und nicht erst im Himmel?

Wie ein Vater bist du, Gott. Und wie eine Mutter.
Und es bricht dir das Herz,
dass immer noch viel zu viele Menschen nicht genug zum Leben haben.
Dass sie nicht wissen, ob ihre Rente bis zum Ende des Monats reicht.
Oder ob sie die neuen Schuhe für ihre Kinder bezahlen können.
Ich glaube auch, Gott, dass du dich über den Gabenzaun freust,
den wir hier in der Nähe 4 Wochen lang stehen hatten.
Dort konnten Alte und Junge, Arme und Reiche teilen, was sie hatten.
Das Deo, die Dosensuppe, eine Tüte Mehl.

Du weißt, dass auch ich Teil dieser Ungerechtigkeiten bin.
Aber du verurteilst mich nicht, sondern lässt mich neu anfangen. Jeden Tag.
Es gibt Tage, da mag ich mich selber nicht. Mag nicht in den Spiegel schauen.
Aber du schaust mich an. Und nimmst mich in den Arm.

Wie ein Vater bist du, Gott. Und wie eine Mutter.
Und ich lege dir hin, was mich rastlos und ratlos macht.
Warum Menschen mit Hasskommentaren auf Facebook unterwegs sind.
Warum viele nur ein Lachsmiley übrig haben,
wenn es um ertrinkende Flüchtlinge oder Covid-Tote geht.
Ich lege es dir hin und hoffe, dass dieses Böse ein Ende hat.
Ich hoffe, dass du mir hilfst, das Richtige zu tun.
Dass du mir hilfst, deine Liebe zu leben, die stärker ist als alles Böse.

Du traust mir zu, dass ich das schaffe: deine Liebe zu leben.
Aber ob mir das gelingt oder nicht:
Deine Arme sind immer da für mich.
Und dafür danke ich dir.