Dienstag, 28. Dezember 2021

Mehr Gutes als du denkst

 Der kleine Lord und die Gotteskinder dieser Welt

Predigt zu Weihnachten

(mit großem Dank an Holger Pyka, mit dem ich zu nächtlicher Stunde die Ideen gesponnen habe, und von dem ich auch einige Formulierungen teile (insbesondere die, die die Filmhandlung erzählen))

1. Gutes Herz?

„Keiner in der ganzen Welt hat so ein gutes Herz wie du, Großvater,
das weiß ich ganz bestimmt.“

Cedric, der kleine Lord Fauntleroy, schaut mit großen Augen seinen Großvater an, den Earl of Dorincourt. Der Diener nebendran verzieht sein Gesicht. Für mich die Schlüsselszene in dem Film, der seit 1980 an keinem Weihnachten fehlen darf: „Der Kleine Lord“. Ein Film, wo es eigentlich viel mehr um den alten Earl geht als um den kleinen Lord Fauntleroy.

Der Earl ist ein steifer alter Griesgram. Seine Untergebenen fürchten ihn, sein riesiges Schloss ist kalt und verwaist. Seine beiden Söhne sind tot, es gibt aber einen Enkel: Cedric, auch Ceddie genannt. Ausgerechnet. Ceddies Vater hatte eine bürgerliche Amerikanerin geheiratet - ist nach New York ausgewandert und hat dem Schloss und dem Earl den Rücken zugekehrt, dem er nicht mehr gut genug war. Der Earl ist verbittert, kann die Welt im Allgemeinen und Amerikaner im Besonderen nicht ausstehen. Trotzdem lässt er Cedric aus Brooklyn holen, damit er ihn zu seinem Nachfolger machen kann. „Ich muss einen Barbaren erziehen“, schnaubt er nach der ersten Begegnung mit seinem Enkel über einem Glas Sherry.  Er ahnt an diesem ersten Abend noch nicht, was mit ihm in den nächsten Wochen passieren wird.

2. Kinder Gottes

Im 1. Brief des Johannes lesen wir (1. Johannes 3, 1-2):
Seht doch, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat:
Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es tatsächlich.
Doch diese Welt weiß nicht, wer wir sind. Denn sie hat Gott nicht erkannt.
Ihr Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes.
Aber was wir einmal sein werden, ist noch gar nicht sichtbar.
Wir wissen jedoch: Wenn es offenbar wird, werden wir Gott ähnlich sein.
Denn dann werden wir ihn sehen, wie er ist.


3. Das weiß ich ganz bestimmt

In dir ist mehr Gutes als du denkst, denn du bist ja ein Kind Gottes.
Das ist kein frommer Spruch und nicht nur so daher gesagt.
Es verändert dich. Es befreit deine Seele, sich wirklich zu zeigen.

Wie das gehen kann, zeigt Cedric, der kleine Lord. Er freut sich unbändig auf den ihm unbekannten Großvater. Selbst die ersten steifen Begegnungen mit dem Earl lassen ihn nicht zweifeln, dass der Earl ein gutes Herz hat.

Eines Tages beim Frühstück kommt der Dorfpfarrer ins Schloss Dorincourt. Er kommt auf Bitten des Bauern Higgins, der mit der Pacht im Rückstand ist und Medizin für seine Kinder kaufen muss.
„Higgins war und ist immer in Schwierigkeiten, weil er ein schlechter Farmer ist“
, macht der Earl unmissverständlich klar und wendet sich wieder seinem Frühstück zu.
„Sollte ihm die Farm genommen werden, muss die Familie Hungers sterben“,
sagt der Pfarrer.
Der Kleine Lord, der die ganze Zeit über aufgeregt von einem zum anderen geguckt hat, mischt sich ins Gespräch ein: „Mein Großvater wird das nie und nimmer erlauben!“ Der Großvater verzieht das Gesicht. „Wir haben einen Philantropen in unserer Mitte“, schnaubt er. Sein Enkel geht um den großen Tisch herum, stellt sich hinter ihn und legt ihm die Hände auf die Schulter. Der Großvater verzieht das Gesicht bei so viel un-englischer, so un-aristokratischer Nähe, aber der Kleine Lord sagt mit dem ganzen Ernst und der ganzen Überzeugungskraft eines Zehnjährigen:
„Keiner in der ganzen Welt hat so ein gutes Herz wie du, Großvater,
das weiß ich ganz bestimmt. Ich weiß, du wirst Higgins helfen. Das steht sowieso fest.“


Das sind die Momente, wo das Herz auftaut. Das Herz vom alten Earl und meines auch.
Hier sagt einer: In dir ist mehr Gutes als du denkst. Das steht sowieso fest.
Du bist ein Kind Gottes. Die Welt weiß es noch nicht.
Du selbst vielleicht auch nicht. Aber ich weiß es. Es steht sowieso fest.
Irgendwann sagt der alte Earl unter Tränen zu seinem Anwalt:
„Ich bin kein Mensch zum Gernhaben. Und doch… er vermag mich gernzuhaben.“

4. Jesus, der kleine Lord

Jesus, der große kleine Lord in der Krippe, der konnte und kann das auch:
Gernhaben, bei wem es allen anderen sonst schwerfällt. Sehen, was sonst keiner sieht.
Das Gute, das Gotteskind in der Seele. Das, was sowieso feststeht, obwohl es niemand zu hoffen wagt.

So sieht er Zachäus (Lukas 19) auf dem Baum. Ein korrupter Zollbeamter, über den alle die Nase rümpfen, weil er sie übers Ohr haut. Jesus erkennt in ihm nicht nur jemanden, über den man im Himmel ein Freudenfest feiert, sondern auch den, zu dem man sich unbedingt mal zum Essen einladen muss. Und das allein krempelt diesen Zachäus so um, dass er auf einmal alles teilt, was er hat. Er braucht seinen Schutzpanzer aus Kälte und Geld und Macht nicht mehr. Er ist frei zu lieben und zu leben wie - wie ein Kind Gottes.

Das hat der kleine große Lord Jesus geschafft, der wie Cedric keine Berührungsängste kennt. Inmitten der kaputten und verqueren Welt sieht er eine neue Welt schon anbrechen. Wasser wird zu Wein, Kranke werden geheilt, Armen wird das Evangelium verkündet. Und das alles fängt in einem Stall an und mit Hirten und Engeln und einem Kind in der Krippe. Einem Gotteskind.

5. Kraft der Veränderung

„Keiner in der ganzen Welt hat so ein gutes Herz wie du, Großvater,
das weiß ich ganz bestimmt.“
Cedric verändert den alten griesgrämigen hartherzigen Earl. Die Seele vom Earl schält sich heraus aus der Bitterkeit und er fängt an, seine Welt mit anderen Augen zu sehen. Sieht die Not seiner Pächter unterhalb von seinem Schloss und nimmt sich ihrer an. Selbstkritisch sagt er zum kleinen Lord: "Wenn du Earl sein wirst, sei verantwortungsvoller, als ich es gewesen bin.“ Er lernt Fußballspielen mit einer Blechdose und holt Cedrics Mutter ins Schloss. Und am Ende lädt er alle zu einem Weihnachtsfest ein. Der bisher so kalte und traurige Festsaal wird mit Tannengirlanden und Kerzen geschmückt. Die Tische biegen sich unter Truthähnen und Spanferkeln, helles Gelächter hallt durch den Raum, am Tisch sitzen nicht nur seine amerikanische Schwiegertochter, sondern auch ein Schuhputzer aus Brooklyn, der Pfarrer aus dem Dorf, die Bediensteten des Schlosses und sogar Mr. Higgins, der verschuldete Pächter.
Und der ehemals so kühle Earl sagt mit leicht feuchten Augen:
„Das ist das fröhlichste Weihnachtsfest, das ich gefeiert habe.“


In dir ist mehr Gutes als du denkst, denn du bist ja ein Kind Gottes.
Das Kind in der Krippe lässt jedenfalls genauso wenig locker wie Cedric, der kleine Lord. Es bahnt sich seinen Weg durch unsere Herzen wie durch das Schloss von Dorincourt. Und es verändert uns, weil es das Gute sieht. Das Gotteskind in mir und in dir.

Zu schön, um wahr zu sein? Vielleicht. Aber sowas passiert immer wieder.

Als meine Tochter 4 Jahre alt war, hat sie mich gelehrt, ganz anders und neu auf meinen Vater zu schauen. Meine Mutter war alleinerziehend, mein Vater war lange der, der meine Mutter sitzen ließ. Es gab zwar immer wieder gemeinsame Ausflüge, aber herzlich war das Verhältnis zwischen ihm und mir nie. Kurz vor seinem Tod bat er mich, ihn zu besuchen. Mein Mann überredete mich, der Bitte nachzugeben. Und so gingen wir hin. Für meine Tochter war das aufregend. Endlich würde sie ihren Opi kennenlernen. Sie strahlte ihn an. Für mich war er der Mann, der mir fern war und fremd. Für sie war es der Opi, der ihr ein tolles Buch schenkte. Sie umarmte ihn mit kindlicher Liebe und kindlichem Vertrauen.
Meinen Vater hat sie nicht verändert, aber mich. Ich sah in seinen Augen das Glück über seine Enkeltochter. Und vorsichtigen Blicke zu mir, als wollte er um Verzeihung bitten. Mein Herz wurde weicher. Meine Seele öffnete sich für ihn.

6. Befreiung

Vielleicht hast du sowas auch schon mal erlebt?

Und vielleicht kann diese unsere Welt das auch erleben, dass sie verwandelt wird, dass die Seelen weit werden? Ich jedenfalls hoffe mit aller Kraft meines kindlichen Herzens darauf. Und vielleicht wird die neue Welt so sein wird wie Weihnachten auf Schloss Dorincourt. Da ist die strenge Sitzordnung aufgehoben, da sitzen hohe Herrschaften und Untergebene Seite an Seite. Leute, die noch in der letzten Woche in München Polizisten über den Haufen rannten, schenken diesen Wein ein und gemeinsam prosten sie sich zu.  Ein Bewohner des Eutinger Tals (das ist unsere "Earls Lane") reicht dem Oberbürgermeister eine Putenkeule. Geflüchtete vom Lager an der griechischen Grenze finden hier auch noch Platz und von irgendwoher erklingt Streichermusik. .

Naiv? Zu schön um wahr zu sein. Vielleicht.

Aber ich versuche, Jesus zu glauben, wenn er zu mir sagt:
Keiner in der ganzen Welt hat so ein gutes Herz wie du, das weiß ich ganz bestimmt.“
Denn ich bin ein Kind Gottes. Und du bist ein Gotteskind.
Und wenn es offenbar wird, werden wir Gott ähnlich sein. 

Fang darum schon mal mit mir an, du kleiner Lord in der Krippe.
Befreie meine Seele mit deiner Liebe.
Amen.



 

Montag, 27. Dezember 2021

Am Straßenrand der Welt

Predigt zu Heiligabend (Micha 5,1-4)*

(mit Dank an Friederike Erichsen-Wendt, Friederike Goedicke, Michaela Jecht, Anne Gideon und Stephanie Höhner für Ideensplitter und Coaching)

1. Ausgerechnet dort


Ein kleiner Punkt auf der Landkarte.
Irgendwo in einer römischen Provinz.
Bethlehem - Haus des Brotes heißt es. Ein Dorf. Mehr nicht.
Das Klima scheint rauh zu sein. Kein Platz für Fremde, noch nicht mal für Hochschwangere.
Außer in einer Absteige, die gerade mal gut genug für das Vieh ist.
Robuste Gesellen auf den Feldern, die niemand im Blick hat.
Dort am Straßenrand der Welt.
Was kann schon Gutes aus Bethlehem kommen?

2. Micha 5,1-4

Viel. Sagst du, Gott.
Und dein Prophet Micha schreibt ein paar Jahrhunderte zuvor:

Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, 
aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei,
dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.  
Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat.
Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten.
Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des Herrn
und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes.
Und sie werden sicher wohnen;
denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde.
Und es wird der Friede sein.


3. Der kleine David aus Bethelehem

Ein kleiner Punkt auf der Landkarte. Irgendwo in der Provinz.
Unwichtig. Unbedeutend. Alltäglich.
Dorthin wurde einst der alte Prophet Samuel hingeschickt, um einen neuen König zu salben.
Dorthin? Fragte er. Ja, dorthin, sagte Gott.
Stattliche Männer werden ihm, dem alten Propheten, vorgeführt. Aber sie waren es nicht.
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an.
Und so wird ein Jugendlicher mit roten Haaren vom Feld weg geholt.
David heißt er. Ein Träumer, spielt Harfe, schreibt Gedichte.
Alles andere als ein starker Held. Viel zu zart für eine schwere Rüstung. Aber er ist es.
Er wird von dem alten Samuel gesalbt. Auf ihm ruht alle Hoffnung.
Ein großer König soll er werden. Obwohl ihn niemand im Blick hat.

Und er wurde ein großer König – nebenan im großen Jerusalem.
Weg vom Straßenrand der Welt.
Aber die Hoffnung auf Frieden konnte auch er nicht erfüllen.
Seine Sehnsucht nach Macht, nach Großsein war vielleicht zu verführerisch.
Und so blieb letzlich die Hoffnung auf einen neuen David.
Einer, bei dem wirklich alles gut wird. Auch der Straßenrand.

4. Stern über Bethlehem

Viele hundert Jahre später machen sich drei Sterndeuter auf den Weg.
Sie haben ihn entdeckt: Einen kleinen Punkt am Nachthimmel.
Sie wissen, dass da oben eine besondere Konstellation aus Sternen zu sehen ist.
Eine, die sie in die große Stadt Jerusalem zum großen Palast des Herodes führt,
weil sie etwas Großes, Königliches erwarten. Sie suchen das Große im Großen.
Aber dort finden sie es nicht.
Nur eine zweifelhafte Macht,
die sich an den letzten Strohhalm klammert und keinen Trick auslässt.
Der kleine helle Punkt am Nachthimmel führt sie aber weiter zum kleinen Dorf Bethlehem,
das sie nicht im Blick hatten.
Dorthin? Fragen sie. Ja, dorthin, sagt der Stern.
Dort, wo es klein und rauh und robust zugeht.
Von wo nichts Gutes, nichts Großes zu erwarten ist.
Am Straßenrand der Welt.
 
5. Im Stall in Bethlehem

Und dort ist dieses Kind, auf dem alle Hoffnung ruht.
Auch nicht viel größer als ein Punkt, jedenfalls vom Palast aus gesehen.
Geboren in einem nichts.  
Und die drei Fremden stehen vor einer Scheune.
Vielleicht hören sie ein leises Weinen oder wie sich Josef schneuzt.
Vielleicht riechen sie das Heu und den Tierdung und den Schweiß von Maria.
Vielleicht sehen sie, wie von weiter hinten dunkle Gestalten vom Feld kommen,
mit müden Schritten - auf der Suche nach was Großem, wie sie.
Und bestimmt sehen sie das Kind.
Gottes Kind, das das erste Mal atmet und schreit
und dessen Augen zum ersten Mal zwischen hell und dunkel unterscheiden.

6. Der eine Moment

Ein kleiner Punkt im Leben, ein kleiner Moment,
eigentlich ein Nichts, und doch so voller Leben und darum so wunderbar groß.
Du kennst das, oder? 


Ein Moment, den man am liebsten festhalten möchte.
Weil er so ganz anders ist, als der Rest der Zeit.
Und weil er kurz vergessen lässt, was da draußen los ist.

In so einem Moment fängt die Hoffnung an.
Vergangenheit und Zukunft verschwimmen. Ein Hirtenjunge wird gesalbt.
Ein Stern weist den Weg. Schmerzen in der Nacht kündigen das Wunder des Morgens an.
Und das Wunder liegt in deinen Armen.
Der Moment, wenn du nicht nur den einen Stern siehst,
sondern das ganze Weltall, das dich umarmt.
Weil hier im kleinen Punkt das Größte durchscheint.

7. Was das große Kind erzählt

Und dann ist dieser eine Punkt im Leben irgendwann vorbei. Der Stern zieht weiter.
Die Sterndeuter kehren in ihre Heimat zurück, die Hirten zu den Schafen,
Maria und Josef mit dem Kind nach Nazareth.

Viele viele Punkte im Leben später,
da erzählt das große Kind aus der Krippe von all dem Kleinen am Straßenrand.
Schau hin. Sagt es.
Schau auf das kleinste Senfkorn, in dem das Reich Gottes steckt. Ein Punkt in der Hand.
In ihm steckt was Großes, was Überwältigendes.
Gib ihm Erde. Gib ihm Wasser. Lass ihn wachsen.
Und so ist es mit dir.
Noch in deinem kleinsten Glauben verbirgt sich die Kraft zu größter Veränderung.

Schau hin, sagt das Kind:
die Münze der armen Witwe zählt mehr als Gold,
die Kinder sind geschickt für das Himmelreich
und das kleine Stück Brot schmeckt nach der Liebe Gottes.

Und ich sage: ja!:
in einem kleinen Kind in der Krippe am Straßenrand verbirgt sich der Gott aller Welt.
Und dort beginnt der Frieden.

8. Friede beginnt mit einem kleinen Punkt

Dort am Straßenrand. Dort im Schmerz.
Dort beginnt der Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Dort, wo du nicht damit rechnest.
In einem kleinen Punkt auf der Landkarte oder in deinem Leben.
Der Frieden macht die groß, die klein gemacht werden.
Er kommt zu denen, die ihn nicht kennen.
Die um ihre Liebsten weinen und vor Trauer nicht wissen, was sie noch glauben können.
Denen die Tür vor der Nase zugeschlagen wird, weil man ihnen nicht traut.
Die nur einen Platz in der Krippe finden. Oder im Obdachlosenheim. Oder auf der Intensivstation.
Zu ihnen kommt er.
Die, die denken, sie seien es nicht wert: Ihnen legt Gott einen Säugling vor die Füße.
Ein Punkt in ihrem Leben. Nichts Großes.
Nur ein Schrei. Zwei Hände. Zwei Füße. Eine Nase. Zwei Augen. Ein Mund. Ein Kind.

9. Augen auf für das Kleine in deinem Leben

Ein Punkt im Leben. In deinem Leben.

So ein Punkt in meinem Leben war ein Busfahrer hier in Pforzheim.
Mein erstes Weihnachten hier. Meine erste Christvesper in der Stadtkirche.
Und ich hatte meinen 10jährigen Sohn dabei.
Ich weiß nicht mehr warum, aber wir hatten kein Auto dabei. Also Busfahren.
Warum auch nicht.

Als wir die Kirche verließen, schauten wir auf die Uhr.
Oh, wir müssen uns beeilen. Der letzte Bus fährt gleich.
Also rennen wir. Kommen an der Bushaltestelle an. Außer Atem.
Der Bus kommt. Ich krame nach meinem Geldbeutel. Mist. Ich hatte ihn nicht dabei.

Der Busfahrer schaut mich und meinen Sohn an.
Er wusste: es ist die letzte Fahrt für heute. Und wir die einzigen Fahrgäste.
Steigen Sie ein, grummelt er. Ich nehme Sie mit.
Erleichtert setzen wir uns auf die Plätze.
In meiner Manteltasche fühle ich einen Schokoweihnachtsmann -
einen von denen, die ich an die Mitarbeiter*innen verteilt hatte. Den hatte ich noch übrig.
Paar Stationen später müssen wir aussteigen.
Spontan gehe ich nach vorne zum Busfahrer, gebe ihm den kleinen Weihnachtsmann
und sage: Frohe Weihnachten!
Frohe Weihnachten, strahlt er zurück, und stellt ihn ehrfürchtig vor sich auf die Ablage.

Ein Punkt im Leben.
Ein Punkt, wo das Große aufblitzt. Das weite Herz. Der Mut zur Ausnahme.
Vielleicht auch heute. Wo du hier in der Kirche bist.  Oder zuhause am Tisch.
Und du zündest eine Kerze an oder viele. Lauter Punkte. Helle Punkte.
Und sie leuchten für dieses Kind in der Krippe.
Dieses Kind, das dir die Augen öffnet für das Kleine am Straßenrand der Welt.

10. Friede kommt aus dem Kleinen

Als die Sterndeuter zurückgehen, machen sie einen großen Bogen um das große Jerusalem.
Einen Bogen um den großen Königspalast und die großen Herren.
Weil von dort nicht der Friede kommt.
Sondern vom Kleinen. Vom Straßenrand.
Von einem Stall, wo es nach Tierdung riecht.
Wo Gott das erste Mal atmet und schreit, wo das Kind in der Krippe dich ansieht.
Wo Hirten ihre weiche Seite entdecken.
Von dort kommt der Friede.
Und von einem Busfahrer, der dich mitnimmt auf deinem Weg durch diese Welt.
Von dort? Ja, von dort.
Amen.

* wurde (leicht abgewandelt) bereits veröffentlicht unter https://predigten.evangelisch.de/predigt/am-strassenrand-der-welt-predigt-zu-mi-51-4-von-christiane-quincke

Sonntag, 12. Dezember 2021

Lichtpunkte in meine Seele gestreut

 Von Johannes, dem Täufer, Jesus und Jochen Klepper

Predigt zu Matthäus 11 und dem Lied "Die Nacht ist vorgedrungen" (EG 16)
Zum 3. Advent


1. Wie weit ist es noch?


Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern!
So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.

(Matthäus 11, 2-3)
Johannes saß im Gefängnis. Dort hörte er von den Taten des Christus.
Deshalb schickte er seine Jünger zu Jesus und ließ ihn fragen:
»Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?"


Ist es endlich so weit?
Johannes sehnt sich nach Zeichen der Hoffnung. Nach Licht. Eingekerkert, weil er zu direkt war. Zu laut in seiner Kritik. Nun ist er stummgeschaltet, ausgeliefert. Sitzt im Dunklen. Allein.
Wie so viele auch jetzt in Weißrussland und in Saudi-Arabien, in Äthiopien und in Myanmar. 
Für sie wurden am Freitag, am Tag der Menschenrechte, die Gebäude grün angestrahlt.
Menschen, wie Johannes, und die fragen: Ist es endlich so weit?

Jochen Klepper trieb diese Frage auch um, als der das Gedicht „Die Nacht ist vorgedrungen“ 1937 schrieb. Es war finster in Deutschland. Die Nazis hatten das Land vergiftet mit einer Ideologie, die die Menschen unterteilte in wertvoll und unwert. Jochen Klepper bekam das hautnah zu spüren, denn sein Frau Johanna und seine Stieftöchter waren Jüdinnen. Für Nazis unwert. Und es wurde immer dunkler um sie herum. Auch für Jochen Klepper, der wegen seiner Ehe mit einer Jüdin seinen Beruf als Journalist und Redakteur verlor. Selbst die Kirche schützte ihn nicht. Das schlimmste war vielleicht: 1937 war noch kein Ende der Naziherrschaft abzusehen.

Was blieb, war die Hoffnung, dass es irgendwann wieder gut wird.
Dass die Nacht ein Ende hat und der Morgenstern aufleuchtet.

Auch der Täufer Johannes hat nichts anderes als diese Hoffnung.
Ist es endlich soweit? Bist du, Jesus, der, der kommen soll? Der alles zum Guten wenden wird?

Ich sitze nicht im Gefängnis wie Johannes
und ich bin nicht verfolgt und gedemütigt wie Jochen Klepper,
aber auch ich sehne mich nach diesem Licht. Danach, dass es endlich gut werde.
Ist es so weit? Bist du es, Jesus?

2. Zeichen der Hoffnung

(Matthäus 11, 4-6)
Jesus antwortete ihnen: »Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht:
›Blinde sehen und Lahme gehen. Menschen mit Aussatz werden rein.
Taube hören, Tote werden zum Leben erweckt, und Armen wird die Gute Nachricht verkündet.‹
Glückselig ist, wer mich nicht ablehnt.«


Dem alle Engel dienen, wird nun ein Kind und Knecht.

Gott selber ist erschienen zur Sühne für sein Recht.

Wer schuldig ist auf Erden, verhüll nicht mehr sein Haupt.

Er soll errettet werden, wenn er dem Kinde glaubt.


Es ist so weit. Blinde sehen. Lahme gehen. Taube hören.
Und ich denke an die junge Schwedin Greta, die Millionen von Jugendlichen auf die Straße gebracht hat.
Ja, es bleibt nichts, wie es jahrhundertelang war.
Und so waren wir dieses Jahr endlich so weit und haben ein gemeinsame Chanukka-Advents-Fest geplant, christliche und jüdische Schwestern und Brüder. Nur die Pandemie konnte uns bremsen.

Blinde sehen. Lahme gehen. Taube hören. Ja, es passiert was.
Postkartenaktionen für politische Gefangene haben Erfolg. Ein großes Bündnis schickt gleich mehrere Schiffe ins Mittelmeer, damit Flüchtlinge nicht ertrinken müssen. Und die 31jährige Reem Alabali-Radovan, die einst als Geflüchtete nach Deutschland kam, ist Integrationsbeauftragte der Bundesregierung geworden.

Natürlich sind das nicht die Zeichen des Heils, auf die Jesus hinweist. Aber sie sagen mir: ich hoffe nicht vergebens darauf, dass es besser werden kann.
Es gibt Zeichen der Hoffnung. Auch jetzt. Oft sind sie nur so klein wie der Morgenstern am Himmel. Oder noch kleiner. Aber sie sind da. Mir hilft das irgendwie.
Und ich nehme diese Hoffnungszeichen mit in mein Leben.



3. Rückkehr

Die Nacht ist schon im Schwinden, macht euch zum Stalle auf!

Ihr sollt das Heil dort finden, das aller Zeiten Lauf

von Anfang an verkündet, seit eure Schuld geschah.

Nun hat sich euch verbündet, den Gott selbst ausersah.

(Matthäus 11, 7a)
Die Jünger von Johannes gingen wieder zurück.

Auch wenn die ersten Zeichen da sind, dass es anders wird: die Welt ist noch dieselbe.
Johannes bleibt noch im Gefängnis und wird ermordet. Jochen Keppler nahm sich am 11. Dezember vor 79 Jahren das Leben. Und mit ihm seine Frau Johanna, seine Stieftochter Renate. Er hätte sich von ihnen scheiden müssen. Und sie wären deportiert und ermordet worden.
Ich trauere um diese Familie, die ich nie kennengelernt habe. Um einen Dichter, der sich dem Nationalsozialismus entgegenstellte. Ich trauere um all das sinnlose Leid, die wir Menschen uns gegenseitig zufügen. Um die verpassten Chancen, wo wir mutiger und barmherziger hätten sein sollen.
Und ich weiß: auch ich bin ein Teil dieser Dunkelheit
und umso mehr sehne ich mich nach einem Licht.
Nach dem Licht, dass dieses Kind in der Krippe in meine Welt bringt.

Ich nehme mir vor, die hoffnungsstiftenden Zeichen zu sehen - sie zu finden.
Den kleinen Herrnhuter Stern in der dunkelsten Ecke meiner Wohnung.
Die Vögel, die sich über die Körner freuen, die ich ihnen hingestreut habe.
Ein fröhlich stimmendes Musikstück auf YouTube.
Oder noch besser, wenn ich es gerade live hören kann. Hier in der Kirche zum Beispiel.
Eine liebevolle Karte, die mir eine Freundin schickt. Mit sehr freundlichen Socken.
Und die Kraft, die viele immer noch aufbringen, um anderen ein wunderschönes Weihnachtsfest zu ermöglichen.
Alles das sind kleine Lichtpunkte, die mir Jesus hinstreut, wie ich den Vögeln die Körner.
Nahrung für den Winter.

Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.

Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.

Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr,

von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.


4. Bald ist es so weit


Es gibt sie, die Hoffnungszeichen. Die Menschen, die ihr Licht verbreiten.
Sie klammern sich an die Hoffnung auf das Gute und machen einfach immer weiter.
Die Pfadfinder und Pfadfinderinnen, die das Friedenslicht von Bethlehem verteilen. Heute.
Die Ärztinnen und Krankenpfleger im Krankenhaus. Die Fridays-for-future-Kids. Die Leute von amnesty und seawatch. Der alte Mann, der mir mit rauher Stimme ein Weihnachtslied vorsingt.
Menschen wie Johannes und Greta und Reem Alabali-Radovan.
In ihnen allen erkenne ich das Kind aus dem Stall. Wenn ich genau hinschaue.
Und in Jochen und Johanna Klepper auch.

Gott wohnt im Dunkel und er macht es heller. Sie wischt die Tränen ab und streut mir Lichtpunkte hin wie Körner für den Winter. Worte und Gedanken und Ideen von Menschen. Ihre Liebe zum Leben und ihre Sehnsucht nach Licht.

Blinde sehen. Lahme gehen. Taube hören. Ja, das Licht ist da. Auch in mir. Es ist so weit.
Lichtpunkte in meiner Seele. Bitte, Gott, zünde sie in mir an.
Amen.

Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.

Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.

Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht.

Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.