Samstag, 31. Dezember 2022

Ein Wunder voll Käseschmiere

Von Maria, Ana, Hirten und einem Kind.

Predigt zu Weihnachten 2022


(in der Predigt zitiere ich ein Video einer Whiskey-Marke, das mich sehr berührt hat, weil es eine besondere Wundergeschichte erzählt. Ich verlinke es unten)

I.

Es ist ein Wunder.
Mitten in der Nacht wird es hell. Draußen auf einem Feld irgendwo.
Und ein Engel spricht zu Hirten, die Angst haben.
Männer, die für wenig Geld auf Tiere aufpassen. Schafe und Ziegen.
Irgendwo bei einem Dorf namens Bethlehem. Hier im Nichts, wo sie nichts haben, außer ihren kleinen Job und den Schutz, den sie sich gegenseitig geben können.
Ausgerechnet hier und ausgerechnet zu ihnen spricht ein Engel.

Ein Wunder, das sie überfordert.
Wieso gerade zu uns, fragen sie vielleicht.
Hier ist doch nichts. Wir sind nichts. Sind wirklich wir gemeint?

II.

Es ist ein Wunder.
Maria trägt es in ihren müden Armen. Legt es in den Futtertrog.
Und sie weiß, sie hat nochmal Glück gehabt.
Es ist warm und trocken hier. Zwischen den Tieren.
Irgendwo in einem Dorf namens Bethlehem.
Sie sind bei freundlichen Menschen untergekommen.
Die haben nur noch diesen Raum übrig, den sie mit den Tieren teilen müssen.
So ist das nun mal, wenn man niemanden kennt und arm oder im Krieg ist:
Da kann man froh sein, wenn wenigstens der Futtertrog frei ist.
Und etwas Platz zum Gebären mittendrin.

Maria trägt es in ihren Armen, das Wunder.
Den Messias. Den Gesalbten. Mary did you know?
Ein Engel hat es ihr gesagt, vor 9 Monaten.
Ausgerechnet zu ihr, die ja nur ein junges Mädchen ist. Sonst nichts. Wer ist sie schon?
Viele Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen. Und Sorgen.
Aber jetzt - im Moment der Geburt ist alles auf Null gesetzt.
Ein kleines schreiendes runzliges Wunder
Voll mit Käseschmiere und Blut und verkniffenden Augen.

Ein Wunder, das sie überfordert.
Das Licht zu hell. Die Tierlaute zu laut. Das Weinen zu verzagt. Die Zukunft unsicher.
Aber es ist da, dieses Wesen wie von einem anderen Stern.
Warm ist es. Und es braucht alle Wärme, die Tiere und Menschen ihm geben können.
Wärme und Windeln, Decke und Muttermilch, Haut und sanfte Hände.
Irgendwo in Bethlehem.
Und ja, es ist ein Wunder.

III.

Ein alter Mann in einem Dorf irgendwo. (1)
Eines Tages greift er nach dem Lippenstift seiner Frau und probiert ihn aus.
Die ersten Versuche missglücken. Er sieht eher wie ein Clown aus.
Er kauft sich weiteres Makeup und ignoriert den Blick der Verkäuferin.
Er übt. Jeden Abend. Vor dem Spiegel. Heimlich.
Manchmal steht er nachts auf, um zu üben. Seine Frau soll nichts merken.
Er steht an der Bushaltestelle und zeichnet mit dem Finger auf dem Werbeplakat die Augen des Models nach. Und irgendwann ist es perfekt: Sein Makeup.

Eines Mittags – es ist Weihnachten:  Ein Motor brummt. Autotüren klappen.
Seine Familie kommt unter fröhlichem Lachen. Kinder und Enkelkinder.
Und da ist die 26jährige Ana, die sich noch nicht traut, Ana zu sein.
Jedenfalls nicht in der Familie. Nicht an Weihnachten.

Für die Familie ist sie Alvaro. Ein schüchterner, stiller junger Mann im schwarzen Anzug.
Als alle den Tisch decken, nimmt der Großvater Ana, die noch Alvaro heißt, an die Hand
und führt sie nach nebenan.
Dann greift er zum Makeup und schminkt sie. Das, was er Abend für Abend geübt hat.
Behutsam, liebevoll, nimmt sich alle Zeit der Welt.
Ana weiß nicht, wie ihr geschieht. Das Wunder überfordert sie.
Aber als sie beide wieder zur Familie stoßen, staunen die anderen.
Und dann klatschen sie und nehmen Ana in den Arm.
Und endlich ist Ana angekommen. Mitten an Weihnachten. Irgendwo in einem Dorf.
Es ist ein Wunder.

IV.

Es ist ein Wunder.
Maria hält es in den Armen.
Ana spürt es auf der Haut.
Anas Großvater im Herzen.
Und die Hirten trauen ihren Augen nicht.
Ein Wunder, das die Menschen überfordert und verändert. Das die Seele heilt.
Ein Wunder, das allen gilt.

Es ist ein Wunder: voller Käseschmiere und nassen schwarzen Haaren.
Im Futtertrog. In einem Dorf irgendwo.
Dort, wo gelacht wird und geweint, gestritten und versöhnt.
Ein Wunder für die, die denken, dass sie es sowieso nicht verdienen.
Sie rechnen nicht damit, weil sie nicht so „wichtig“ sind wie Augustus oder Herodes.
Menschen wie die Hirten. Wie Maria. Oder wie Ana.
Irgendwo.

V.
Ja, es ist das Wunder Gottes, dass jeder Mensch liebenswert ist.
Du und ich und deine Nachbarin und das Kind in Kiew.
Ihr seid wert zu lieben. Zu achten.

Dieses Wunder Gottes glänzt in den Augen von Ana.
Es ist der Großvater, der in Anas Seele blickt und sieht, wie allein sie ist.
Und wie sehr sie sich danach sehnt, offen und frei zu leben, was sie ist.
Es ist Maria, die das runzlige Kind hält und wärmt und das Große und Weite sieht, was in ihm schlummert. Yes, Maria, you did know.
Es ist ihre Stimme, die sie erhoben hat, weil Gott es ihr zutraut.
Es ist der Mut der Hirten, auf einmal zu predigen.
Ja, sie haben was zu sagen, obwohl sie doch sonst nichts zu sagen haben.

Es ist der Engel, der zu ihnen sagt: Fürchtet euch nicht.
Denn heute ist der Heiland geboren. Geboren wie ihr. Geboren wie alle Menschenkinder.
Wunderbar gemacht, aber Gott sei Dank nicht perfekt.
Geliebt. Gewollt. Voller Sehnsucht.
Wie ihr. (2)


VI.

Ich wünsche dir dieses Wunder heute.
Ich wünsche dir, dass dich jemand in den Arm nimmt.
Dich ansieht, wie du gesehen werden willst.
Dass du spürst, wie sehr Gott dich lieb hat. Gerade dich.
Ich wünsche dir, dass du etwas erlebst, womit du nicht rechnest.
Irgendwo in Pforzheim: zuhause oder auf der Straße oder hier in den Bänken.
Ein Augenzwinkern vielleicht. Oder ein Lächeln. Oder ein Wort, ein Licht, ein Lied.
Eine Wärme, die sich wie eine Decke um deine Schultern legt.

Ich sehne mich nach diesem Wunder für die mutigen Frauen und Männer im Iran.
Dass sie leben dürfen, wie sie wollen. Frei und mutig und liebevoll.
Ich sehne mich nach diesem Wunder für die Menschen in der Ukraine.
Nicht die Herrscher Augustus und Herodes haben das Sagen,
sondern die Frauen, die ihre Haare wehen lassen und auf der Straße tanzen,
die Kinder in den U-Bahnhöfen Kiews, wo sie Schutz suchen –
und sie leben frei und müssen nicht mehr um ihr Leben fürchten.
Ja, nach diesem Wunder sehne ich mich.

Vielleicht überfordert es mich, mich und die Welt.
Aber wir brauchen dieses Wunder so sehr.

Ja, es ist dieses eine Wunder, das diese meine Sehnsucht weckt:
Das Wunder im Futtertrog irgendwo in Bethlehem -
mit Käseschmiere und rauher Stimme,
mit Tier-Atem und Armen, die es festhalten.

Es macht mein Herz weich, meine Augen hell und meinen Mut groß.
Ja, es ist ein Wunder. Ein Wunder auch für dich.
Amen.

(1) Der folgende Abschnitt erzählt das erwähnte Video nach. Zu sehen hier: https://www.youtube.com/watch?v=oOVVgEtuybk

(2) Die kursiv gedruckten Worte habe ich mir von der wunderbaren Predigerin Birgit Mattausch ausgeliehen. https://frauauge.blogspot.com/2022/12/in-diesem-jahr-meine-kleine_25.html

Montag, 12. Dezember 2022

Stimmen und Einstimmen

Von Trost und Tränen, Sprachlosigkeit und Stimmen der Hoffnung

Predigt zu Jesaja 40, 1-11

I. Tränen

»Tröstet, tröstet mein Volk!«, spricht euer Gott.
Redet herzlich mit Jerusalem, sagt über die Stadt:
»Ihre Leidenszeit ist zu Ende,
ihre Schuld ist restlos abgezahlt.
Denn für all ihre Vergehen wurde sie vom Herrn doppelt bestraft.
«

Nimm sie in den Arm, Gott. Nimm sie in den Arm und halte sie fest.
Die Mütter und Töchter in Teheran, in Saqqez und Shiraz und Zahedan.
Erschossen, weil sie ihre Haare frei wehen lassen.
Die Eltern der 16jährigen Mahak Hashemi, die ihre Tochter nur schweigend begraben durften.
Die Großmutter von der 7jährigen Hasti Naroui: Sie ging mit ihr zum Freitagsgebet und konnte sie nach einem Tränengasangriff nur noch tot im Schoß wiegen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Und sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.

Nimm sie in den Arm, die Mütter und Töchter aus Kiew und Charkiw und Mariupol.
Die die Massengräber öffneten und ihre Söhne und Väter und Töchter identifizierten.
Die sich versteckten und doch gefunden wurden von den Folterern.
Die ihre Heimat verließen und nun hier um ihre Liebsten bangen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.

Ist sie zu Ende?
Nichts wünscht du dir sehnlicher.
Dass Gott auch zu dir herzlich spricht und dich in den Arm nimmt.
Weil auch du manchmal nicht weißt, wohin mit deiner Not.
Weil dich die Tränen der Frauen und Mädchen im Iran und in der Ukraine berühren.
Weil du mit der Großmutter von Hasti weinst.
Und weil deine ganze verdammte Ohnmacht dich erdrückt.

Und vielleicht singst du mit mir:
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal. (EG 7,4)

II. Wüstenbahn

Eine Stimme ruft: »Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn!
Ebnet unserem Gott in der Steppe eine Straße!
Alle Täler sollen aufgefüllt werden, Berge und Hügel abgetragen.
Das wellige Gelände soll eben werden und das hügelige Land flach.
Der Herr wird in seiner Herrlichkeit erscheinen, alle Menschen miteinander werden es sehen.
Denn der Herr selbst hat es gesagt.
«

Eine Stimme ruft: Gott kommt und verändert die Welt.
Gott kommt und alles gerät in Bewegung. Oder alles stoppt. Jedenfalls ist alles anders.
Gott stellt sich vor die russischen Panzer.
Gott nimmt ihren Hijab ab und tanzt auf der Straße.
Gott singt „Baraye“, aber verweigert die Nationalhymne eines Terrorregimes.

Gott ist da – gerade dort, wo du ihn nicht vermutest.
In der Wüste, im Stall, am Kreuz.
Gott steht am Fließband bei Amazon. Putzt die Schultoilette. Friert auf der Parkbank.
Trinkt müde einen Kaffee in der Cafeteria der Klinik, bevor es zur nächsten OP geht.
Gott kommt. Gott ist da. Und Gott sei Dank kann das niemand verhindern.

Ich höre diese Stimme. Du auch? Ich möchte dieser Stimme glauben. Mehr denn je.
Und auch wenn es mir schwer fällt, so singe ich leise (und du vielleicht mit):
Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht. (EG 16,5)

III. Kraftlosigkeit

Eine Stimme spricht: »Verkünde!«

Manchmal ist sie zu laut, diese Stimme vom Advent.
Manchmal will ich nichts als Stille. Alles scheint so vergeblich.

Ich fragte: »Was soll ich verkünden? Alle Menschen sind doch wie Gras.
In ihrer ganzen Sch
önheit gleichen sie den Blumen auf dem Feld.
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind des Herrn darüber weht.
Nichts als Gras ist das Volk!
«

Ich teile die Worte der Iranerinnen im Netz.
Aber wird es ihnen helfen? Ist das Regime nicht doch stärker?
Ich habe Decken für die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine zum Diakoniepunkt gebracht.
Aber was nützt das ihren Verwandten? 
Ich sehe, wie viel zu viele Menschen zu viel arbeiten.
Ich selber arbeite zu viel.
Will Hoffungsworte verkünden und mühe mich mit ihnen ab. Brauche selbst dafür zu viel Kraft.

Kennst du das?
Mich macht das müde. Und sprachlos. Mir fehlen die Worte.
Und es tut mir gut, auch dieses Fehlen in der Bibel zu finden.

IV. Stimme der Hoffnung

»Ja, das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit.«
Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin für die Stadt Zion!
Verkünde deine Botschaft mit kraftvoller Stimme, du Freudenbotin für Jerusalem!
Verkünde sie, hab keine Angst! Sprich zu den Städten Judas:
»Seht, da kommt euer Gott!

Hab keine Angst, sagt die Stimme.
Sei eine Freudenbotin. Verstumme nicht.
Wenn du kannst, sei laut.
Aber auch deine leise Stimme ist wichtig.
Vielleicht ist sie brüchig, heiser, zitternd.
Es ist deine Stimme, mit der du zu Gott betest.
Es ist deine Stimme, mit der du ein kleines gutes Wort sagst in einer Welt,
die diese guten kleinen Worte so nötig hat.
Es ist deine Stimme, die die Zwischentöne einbringt.
Hab keine Angst, sagt die Stimme.

Hörst du die Stimmen, die rufen: Frauen. Leben. Freiheit!?
Hast du die andere Stimme gehört, die einst rief: Ich habe einen Traum. I have a dream.
Vor 60 Jahren.
Die schwarze Stimme eines Predigers in der Wüste einer rassistischen Welt.
Martin Luther King:

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erh
öht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.
Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück.
Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.

Sei Freudenbote. Sei Freudenbotin.
Hau einen Stein der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Das Wort unseres Gottes lässt sich nicht aufhalten.
Dass jeder Mensch ein Kind Gottes ist und unvergleichlich ist
und niemand niemand niemand das Recht hat, das anzuzweifeln –
das ist stärker als jede Verzweiflung, jedes Verstummen, jede Patrone.
Ein großes Wort. Ein kleines Wort.
Stark genug, um ewig zu sein und eine Welt zu verwandeln.
Licht in der Nacht.

Stimmst du mit ein?
Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht, es hat Hoffnung und Zukunft gebracht; es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis, Not und Ängsten, ist wie ein Stern in der Dunkelheit.

IV. Weitergehen

Tröste, tröste sie, Gott.
Nimm die Frauen und Töchter in den Arm, die in Teheran und Shiraz, in Mariupol und Charkiw.
Nimm Sabine in den Arm, die um ihre Mutter weint.
Und Frida, deren Opa zum Schluss niemanden mehr erkannte.
Trockne ihre Tränen. Schreie mit ihnen.
Tröste, tröste mich, Gott.
Gib mir meine Stimme zurück. Hilf mir, sie zu erheben.
Für sie. Für die Welt. Für dich.

Seht, Gott, der Herr! Er kommt mit aller Macht und herrscht mit starker Hand.
Seht, mit ihm kommt sein Volk! Die er befreit hat, ziehen vor ihm her.
Wie ein Hirte weidet er seine Herde:
Die Lämmer nimmt er auf seinen Arm
und trägt sie an seiner Brust.
Die Muttertiere führt er sicher.
«

Darauf hoffe ich, Gott.
Mit dir zünde ich die 3. Kerze heute an.
Mit dir gehe ich durch die Wüste.
Mit dir flüstere ich das kleine, unscheinbare Wort, das so viel Kraft hat.
Mit dir haue ich die Steine der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Mit dir träume ich von einer Welt,
die Platz hat für wehende Haare in Teheran, Frieden in der Ukraine und sichere Häfen für alle.
Von einer Welt, in der auch die kleine, leise Stimme des Friedenskindes gehört wird.

Und mit dir stimme ich an:
Peacechild, in the sleep of the night, in the dark before light you come, in the silence of stars, in the violence of wars
Savior, your name.

Amen.

Montag, 5. Dezember 2022

Liebe und Frühling im Winter

Von Barbara, Blütenzweigen, Liebespaaren und einem Gott voller Sehnsucht

Predigt zum Hohelied 2, 8 - 13 am 2. Advent

(mit großem Dank an Kathrin Oxen, deren Predigtentwurf die Grundlage für meine Predigt war. Link s.u.)

I. Barbara: passt nicht


Barbara weiß, was sie will und was nicht.
Jesus will sie. Heiraten will sie nicht. Und das geht in ihrer Zeit gar nicht.  Wie es genau mit ihr war, weiß niemand. Vielleicht gab es sie auch gar nicht. Aber es gibt ihre Geschichte. Und deswegen ist heute ihr Tag: Der Tag der Heiligen Barbara, schön und klug. Immer müssen die schönen und klugen Jungfrauen sterben in solchen Heiligengeschichten. Weil es noch nie jemand aushalten konnte, wenn Frauen schön und klug zugleich sind?

In Barbaras Fall ist es ihr Vater. Er kann nicht ertragen, dass sie zu keinem Mann gehören will, bloß zu Jesus. Und da lässt er sie in einen Turm sperren, wo sie auf ihre Hinrichtung warten muss. Auf dem Weg in den Turm verfängt sich ein trockener Zweig in ihrem Gewand. Den stellt sie in ihren Becher. Und er blüht an dem Tag, als sie stirbt.
Der Barbarazweig.

Eine Geschichte voller unpassender Sehnsucht. Barbara sehnt sich danach, ein eigenes Leben zu leben und nicht den Erwartungen anderer zu gehorchen. Überhaupt nach Leben, blühendem Leben, auch und gerade, als sich alles um sie herum dunkel und tot und ohne Ausweg anfühlt. Sie sehnt sich nach Frühling und Liebe in Tod und Winter.

Mit Heiligen haben wir es in der evangelischen Kirche ja nicht so. Selbst die katholische Kirche hat Barbara inzwischen aus ihrem Heiligenkalender aussortiert. Aber die Sehnsucht lässt sich weder wegsperren noch aussortieren. Sie dringt noch durch die kleinsten Ritzen von Mauern und Fenstern und verschlossenen Türen. Sie blüht, auch im Dezember.

II. Hohelied: zwei, die zusammen passen

Er weiß, was er will - oder besser: wen er will und wer zu ihm passt. Sulamit, die schöne Geliebte. Und Sulamit weiß, wen sie will: ihren Geliebten, niemanden sonst. Ihre Sehnsucht macht die beiden Verliebten schier wahnsinnig und lässt Worte aus ihrem Herzen fließen ohne Scham, ohne Scheu, voller Poesie. Diese Worte haben ihren Platz in unserer Bibel gefunden.
Hören wir auf sie im Hohelied:

Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon!
Er springt über die Berge, hüpft herbei über die Hügel.
Mein Liebster gleicht der Gazelle oder einem jungen Hirsch.
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter.
Mein Liebster redet mir zu:
»Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!
Denn der Winter ist vorüber, der Regen vorbei, er hat sich verzogen.
Blumen sprießen schon aus dem Boden, die Zeit des Frühlings ist gekommen.
Turteltauben hört man in unserem Land.
Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen. Die Reben blühn, verströmen ihren Duft.
Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!


III. Worte, die nicht passen

Worte voller Sehnsucht im Advent.
Nun ja, denkst du vielleicht: Das kenn ich gut. Verliebt und voller Sehnsucht. Jede Faser deines Körpers tut weh und will berührt werden von ihm, von ihr, von diesem zauberhaften Wesen, das sich in dein Herz gestohlen hat. Aber ehrlich: was hat das mit Advent zu tun?

Vielleicht denkst du: So ein Liebeslied, das vom Frühling erzählt, von sexueller Leidenschaft, von großem Verliebtsein, das passt doch nicht hierher. Und übrigens haben wir Dezember.
Und du hast recht. Erstaunlich, dass dieses Lied einen Platz in der Bibel bekommen hat. Da ist noch nichtmal von Gott die Rede. Irgendwann geriet das Lied der Liebeslieder in das Buch der Bücher. Wie genau, das bleibt ein Geheimnis.
Ich bekenne: ich bin Gott froh darüber. Ich bin froh, dass auch die Leidenschaft, die sich an keine Regeln hält, Teil der Bibel ist.

Die jüdische Tradition hat daraus eine Leidenschaft zwischen Gott und seinem Volk Israel gemacht. Die christliche Tradition hat das übertragen auf Christus und die Kirche. Und ich vermute, wenn es Barbara gegeben hat, hat sie es genauso gelesen: Christus ist ihr Geliebter, der sich nach ihr verzehrt. Und sie sich nach ihm. Nur er ist wichtig. Niemand sonst.

Und ja, mit dieser Übertragung hat man alles Anstößige rausgenommen. Die Sexualität wurde verbannt aus der Bibel. Besonders im Christentum. Dass es mitten in der Bibel Szenen gibt, die davon erzählen, dass es Sex außerhalb der Ehe gibt - puh, da hat man lieber nicht hingeschaut.

Deshalb ist es gut, diese Lieder der Lieder auch als das zu sehen, was sie sind: orientalische erotische Lyrik - mit allem, was dazu gehört. Und das ganze Buch riecht nach Thymian und Lavendel, nach Wein und Heu und Feigen, nach Sex, Schweiß, Parfum und Bettlaken.
Und das passt in die Bibel. Punkt.

IV. Gottes Liebeslied: passt zum Advent

Ja, es ist ein Liebeslied. Ein Lied von Frühling und Liebe. Durch und durch menschlich.
Und gerade deshalb ist auch ein Liebeslied Gottes, ein adventliches Liebeslied:
Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon!
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter.


Probiere es aus. Höre es dann doch mal als Liebeslied Gottes:
Gott ist wie ein junger Mann, der weiß, was er will, wen er will. Er hat es eilig, zu seiner Freundin zu kommen, so wie es alle jungen Männer immer eilig haben, zu ihrer Freundin zu kommen. Oder besser: Alle, die lieben, zu denen, die sie lieben.
Wie eine Gazelle, wie ein Hirsch kommt Gott. Mühelos überwindet er die Berge und die Hügel, so jung und voller Kraft. Springend und hüpfend kommt Gott, als Überschuss an Kraft und Leben.
Still steht Gott erst vor dem Haus der Geliebten, an ihrer Tür oder vor ihrem Fenster. Gott bleibt stehen an dem Ort, wo sich die Geliebten, die Liebhaber immer schon eingefunden haben, wo schon seit Jahrtausenden ihr Ort war. Wo er immer sein wird.

Und dann ist da nur noch die Tür zwischen den beiden. Die Geliebte riecht ihn förmlich, seinen Körper. Es braucht kein Zeichen mehr, kein Klopfen oder Rufen. Denn sie kommt ihm ja schon entgegen und öffnet ihm mehr als nur eine Tür.

Eine Szene, so alt wie die Welt und das Leben: Es kommt einer, der will nur zu mir. Kommt über die Berge und Hügel, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit der U-Bahn. Kommt und steht vor meiner Tür, mit Wind in den Haaren und dem Geruch von draußen in seiner Jacke und will zu mir.

Wie in dem Film „Tatsächlich Liebe“, wo Jamie wochenlang portugiesisch lernt, dann am heiligen Abend nach Marseille fliegt, statt mit seiner Familie zu feiern, und seiner Aurelia mitten im Restaurant einen Heiratsantrag macht.

Tatsächlich Liebe. Tatsächlich ist Gott diese Liebe - der Winter ist vorbei und es ist Frühling. Ganz egal, ob es draußen wirklich Frühling ist. Auch egal, ob es gerade der Frühling meines Lebens ist oder sein Sommer, Herbst oder Winter. Denn es kommt einer, der will nur zu mir.
Und er redet mir zu: »Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!

V. Unpassende wilde Liebe

Ein Lied vom Frühling und von der Liebe.
Ein Adventslied von einem leidenschaftlichen Gott, der sich nach dir sehnt, der weiß, was er will.

Dass er die Liebe ist, das hast du bestimmt schon oft gehört. Aber nicht so, oder?
Vielleicht eher wie eine Liebe nach vielen gemeinsamen Jahren, an einem Tisch, in einem Bett, auf einem Sofa vor einem Fernseher: Ich kenne dich gut. Bei mir kannst du sein, wie du wirklich bist. Zu mir kannst du immer zurückkommen. Und ja, das hat seinen Wert.

Aber Gott als Geliebter, als Liebhaber? Gott will nur zu dir, kann es nicht erwarten, bei dir zu sein und ruft dich: Schnell, meine Schöne, komm! Dass das einer zu dir sagt und es wirklich so meint. Dass der Frühling wiederkommt, wo schon lange Winter ist. Passt das?

Ja, Gottes Liebe ist auch zahm und fürsorglich, aber heute ist sie die junge und wilde Liebe, wie ein junger Mann mit zu viel Kraft und Wind in den Haaren. Mit Gerechtigkeitsempfinden und Leidenschaft für die Schwachen. Leidenschaft für dich.
Gott steht gleich hinter der Wand, weil er bei dir sein will, nur bei dir. Er riecht nach Thymian und Lavendel, Wein und Heu, Feigen und Schweiß und er lernt portugiesisch - nur für dich.

VI. Es passt

Passt das in die Kirche? Passt das in den Advent? Ein Lied von Frühling und Liebe?
Wir haben übrigens Anfang Dezember, sagst du. Und Angst, dass es wieder ewig dauert mit dem Frühling. Oder irgendwann sowieso vorbei ist damit, weil wir die Welt verkommen lassen und zerstören.

Man kann sich einmauern lassen von solchen Gedanken, wie Barbara in ihren Turm. Aber man sollte es nicht auch noch selber tun, dieses Einmauern.

Barbara hat in ihren Turm ein drittes Fenster brechen lassen. Das erzählt eine andere Geschichte von ihr. Ihr Vater hat getobt. Denn dies war ein Zeichen für den dreieinigen Gott, für Gottes unterschiedlichen Gestalten, bekannt und vertraut und wild und jung und voller Sehnsucht. Sieh, da steht er hinter unserer Mauer, schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter.

Gott weiß, was er will.
Gott will dich.
Und darum singt er ein Lied voller Liebe. Menschlich und göttlich zugleich.
Und die Geschichte von dem Zweig, der mitten im Winter blüht, sie erzählt von diesem Gott:
er steht vor deiner Tür. Mach ihm auf.

Amen

*Kathrins wunderbare Predigt ist nachzulesen unter: Nachzulesen unter https://www.facebook.com/kathrin.oxen/posts/pfbid0bmjZLaW6pRvb9mkjktaJoUNs7et32Y3AomPDQvnGXpGNe1MDzngZt9vEFUa1mYsSl

Mittwoch, 16. November 2022

Schaut nicht weg! Hört ihr Flehen!

Von einer toughen Witwe, iranischen Frauen und Männern, jüdischen Familien und der "Letzten Generation"

Predigt zu Lukas 18,1-8

Jesus erzählte er seinen Jüngern ein Gleichnis: »In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende nocheinen Schlag ins Gesicht.‹«

Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehrdenen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt,wird er so einen Glauben auf der Erde finden?«


 I. Toughe Witwe

Sie hat nichts mehr zu verlieren. Die Witwe, von der Jesus erzählt.
Sie kämpft um ihre Existenz, um ihr Überleben. Denn Witwen zur Zeit von Jesus haben nichts. Sie sind darauf angewiesen, dass die Familie sie unterstützt. Offenbar funktioniert das hier aber nicht. Vielleicht will ihr jemand das letzte Stück Land nehmen. Oder ihr Haus. Wie auch immer: Sie besteht auf ihr Recht. Offensichtlich ist das nötig. "Ich lass mich hier nicht abspeisen. Schon gar nicht von so einem Richter, der skrupellos und willkürlich zu sein scheint."
Ihre Nachbarinnen lachen sie vielleicht aus.  Ihre männlichen Verwandten lästern über sie (die ist ja hysterisch) oder verbieten ihr den Mund, wie es damals üblich war. Frau, schweig. Aber sie hat nichts zu verlieren.
Eine toughe Frau. Eine die sich zeigt und die laut ist und anstrengend. Und vermutlich richtig unangenehm. Und der Richter? Irgendwann gibt er klein bei.
Diese Witwe ist mir lästig. Darum will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen.
Und endlich sieht und hört er auf sie.

II. Frauen, Leben, Freiheit

Sie haben nichts mehr zu verlieren. Sie rennen auf die Straßen, springen auf Mauern, tanzen in der U-Bahn und reißen sich die Kopftücher von den Haaren. Sie schneiden sich die Haare ab, singen laut den Song Baraye, setzen Fotos und Videos ins Netz und niemand kann sie aufhalten. Kein Polizist, kein Militär, kein Gefängnis, kein Richter, kein Parlament. Die Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche, Studierende, Arbeitende, Alte, Mütter und Väter, Söhne und Töchter im Iran: Frauen, Leben, Freiheit skandieren sie.
Und sie flehen und bitten mit dem jungen Shervin für alles, was mir so selbstverständlich ist. Für die Angst sich zu küssen. Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben. Für das Kind, das im Müll wühlt, und für seine Träume. Für diejenigen, die im Gefängnis sind. Für das Mädchen, das sich wünschte ein Junge zu sein.
Freiheit. Azadi. Sie sprühen es auf die Wände, malen es auf die Spiegel der Toiletten, auf ihre Haut, auf die Autos. Dichten dichte Worte. „Dass der Wind auf der Straße durch meine Haare weht, ist mein Recht“.
Wir wollen unser Recht auf Leben, auf unsere Würde. Rufen sie. Und mit weniger geben wir uns nicht mehr zufrieden. Lassen uns nicht mehr abspeisen. Und lassen uns nicht mehr unsichtbar machen.
Schaut nicht weg. Seht hin. Verbreitet die Videos und Fotos auf der ganzen Welt.
Und ja, sie haben unser aller Sympathie. Aber reicht das?

III. Hinschauen

Vor über 80 Jahren haben unsere Vorfahren weggeschaut. Und weggehört. Als die Synagoge in der Zerrennerstraße in Brand gesteckt wurde, als der jüdische Professor Berufsverbot bekam, als die jüdische Familie aus ihrer Wohnung vertrieben wurde und nach Gurs verschleppt wurden. Ihr Weinen wurde nicht gehört. Ihr Bitten. Ihr Flehen. Und die meisten schwiegen.

Heute schweigen wir nicht. Hören wir von 2 Familien (1):

Hermann Reinheimer, geb. 1878 in Habitzheim, wuchs in einer jüdischen Familie auf und war ab 1911 Metzgermeister in Pforzheim. Er war verheiratet mit Mina, geb. Löwenstein aus Weingarten. Die beiden hatten einen Sohn, Werner Siegfried.
Ab 1935 konnte Hermann Reinheimer die Großmetzgerei nicht mehr betreiben, da ihm auf behördliche Anweisung hin keine Tiere mehr verkauft werden durften.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde er von der Gestapo aus der Wohnung gezerrt und schwer misshandelt. Seine Frau Mina versorgt den schwer misshandelten Ehemann und flieht mit ihm im Januar 1939  über Hamburg nach Brasilien, wohin der Sohn schon 1935 geflohen war. Als Folge der Misshandlungen erblindet Hermann Reinheimer 1949 völlig. Er stirbt am 4. März 1958 in Sao Paulo. Weiteres ist zum Schicksal der Familie nicht bekannt.

Friedrich Meier wurde 1886 in Nonnenweier bei Lahr geboren. Er wuchs als Jude auf und zog als junger Mann nach Pforzheim und heiratete Nelly … Zwei Kinder wurden in den folgenden Jahren geboren, welche Martin und Amalie hießen.
Er führte ein größeres Textilgeschäft in der Deimlingstraße. Als die Nazis kamen, musste er 1936 sein Geschäft aufgeben und versuchte dann, von Zuhause aus das Geschäft zu erhalten. Am 22. Oktober 1940 wurde er mit seiner Familie aus der Wohnung gezerrt und nach Gurs in Frankreich deportiert. Vom Internierungslager Drancy wurde er am 17. August 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet.


Schaut nicht weg. Seht hin!
Und darum wurden für die Familien Meier und Reinheim Stolpersteine verlegt, ganz hier in der Nähe, wie weitere über 300 Stolpersteine in der ganzen Stadt.
Damit wir hinsehen. Nicht mehr wegschauen. Nie mehr.
Damit wir das, was ihnen angetan wurde, nicht verschweigen.
Damit wir sie ins Recht setzen: ihren Namen nennen, der ausgelöscht werden sollte.
Damit wir eine Stimme sind für die Gedemütigten und Verfolgten.
Eine Stimme für die, die sich nicht so wehren können wie die Witwe, von der Jesus erzählt.
Eine Stimme für die, die unsere Unterstützung brauchen.

IV. Ermutigen

Gott schaut hin. Und Gott hört hin. Er ist nicht wie dieser Richter, von dem Jesus erzählt.
Darum holt er sein Volk aus Ägypten heraus. Er lässt nicht zu, dass es weiterhin gedemütigt wird. Und sein Volk schafft die Flucht, weil es Menschen gibt, die sich vom Pharao und seinen Soldaten nicht einschüchtern lassen. Gott ermutigt sie dazu.

V. Letzte Generation

23 Jahre ist sie alt. Aimee van Baalen. Für Fridays for future hat sie sich engagiert und merkt: viele schöne Worte, aber es passiert nichts. Die Erwachsenen hören uns nicht zu. Sie ignorieren uns. Sie ignorieren, dass wir keine Zeit mehr zu verlieren haben. Aimee hat nun ihren Job aufgegeben für die Zukunft unserer Welt, für ihre Zukunft. Geht dafür ins Gefängnis und riskiert sogar ihr Leben. Aimee ist Aktivistin der „Letzen Generation“.

Ja, die jungen Frauen und Männer der letzten Generation sind überzeugt: sie haben nichts mehr zu verlieren - wenn sich nicht jetzt was tut, dann ist es zu spät. Dann kippt das Klima und 4 Milliarden Menschen werden nicht mehr dort existieren können, wo sie jetzt leben.

Darum ketten sich Aimee und Samuel und Lotta an Rathaustore, kleben sich an Brückengeländer fest, blockieren Autobahnen, werfen Kartoffelbrei gegen ein mit Glas gesichertes Gemälde von Monet. Sie lassen sich beschimpfen, auslachen, machen sich unbeliebt. Und vorletzte Woche geschah etwas Furchtbares in Berlin: eine Radfahrerin von einem Betonmischer ist überfahren worden und ums Leben gekommen. Es gab einen Stau auf der A100, der von den viel zu vielen Autos, aber auch von 2 Aktivisten der letzten Generation auf einer Brücke mitverursacht wurde.
Obwohl der Fall noch nicht aufgeklärt ist, stürzen sich nun alle auf die Letzte Generation: Klimaterroristen, Klima-RAF, Klimasekte - und die bayrische Landesregierung nimmt Aktivisten und Aktivistinnen schon mal unverurteilt in Vorbeugehaft.

Aimee war letzten Dienstag in Magdeburg und sprach zu über 120 Synodalen der Evangelischen Kirche in Deutschland. Eingeladen von der Präsidentin der Synode, Anna-Nicole Heinrich, auch erst 26 Jahre alt. Und Aimee redet den Kirchenleuten ins Gewissen (2):

„Es ist an der Zeit Risiken einzugehen. Denn jetzt zu schweigen ist das größte Risiko von allen. (…)
Letztendlich war Jesus selbst ein Widerständler, der sich gesellschaftlichen Regeln und Normen entgegensetzte, wenn seine moralische Pflicht es verlangte. Er setzte sich immer für unterprivilegierte Menschen ein und riskierte letztendlich dafür den Tod. (…)
Wir brauchen die Hilfe der Evangelischen Kirche. SIE haben die Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben für die Menschen im Globalen Süden und auch hier in Deutschland. Fordern Sie die Regierung auf, sich an ihre eigenen Klimaziele und das Grundgesetz zu halten! Unterstützen Sie uns! […]
Wir müssen uns jetzt trauen, etwas zu sagen, auch wenn es nicht einfach ist, sonst lassen wir Milliarden Menschen weltweit und die junge Generation im Stich. Wir als junge Generation brauchen Sie als Institution Kirche, aber auch als Einzelpersonen. Brechen Sie ihr Schweigen! Wir brauchen Sie, nicht nur um das Hoffen, sondern auch das Fordern einer lebenswerten und gerechten Zukunft aufrechtzuerhalten. Helfen Sie uns bitte!“



VI. Zum Recht verhelfen

Wir könnten jetzt diskutieren, ob wir die Maßnahmen der Letzten Generation richtig finden oder nicht oder gar für gefährlich. Aber viel wichtiger ist doch die Frage an uns:
Hören wir ihr Flehen? Sehen wir hin?
Es geht um das Recht der Jungen auf eine lebenswerte Zukunft. Um das Recht der Armen auf Nahrung, Wasser, Land. Es geht um die Noch nicht geborenen. Um ihr Leben.

Ich bin überzeugt, Jesus stellt sich an ihre Seite - so wie er sich an die Seite der mutigen Frauen und Männer im Iran stellt. Sonst stünde dieses Gleichnis von der Witwe nicht in der Bibel. Eine Witwe, die dem Richter so lästig ist, wie die Letzte Generation den Autofahrern und die iranischen Frauen dem Mullahregime. Eine Witwe, die genauso wenig zu verlieren hat wie Aimee in Deutschland und Shervin im Iran. Stellen wir uns an ihre Seite. Hören wir hin. Und schauen wir hin. Wie auf die Stolpersteine.

Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden?«

Amen.

(1) Die Konfirmanden und Konfirmandinnen der Friedensgemeinde hatten sich am Tag vor dem Gottesdienst mit den Stolpersteinen in Pforzheim auseinandergesetzt und die Kurzbiographien der beiden genannten Familien auf diese Weise zusammengefasst.

(2) Nach zu hören unter https://www.youtube.com/watch?v=zR-bF2JA1N0&fbclid=IwAR1tVlBYonZ1s27SjjRNpsq9Mikz_Y9nm8UILZOmh6yBCz73dypfqcRt51A


Sonntag, 25. September 2022

Unperfekte Supergirls und -boys

Von Fanny, Tilda, Oskar und Paulus

Predigt zu Brief an die Galater 5,25 – 6,10

(kursiv gesetzte Zitate sind dem Predigttext entnommen)


1. Anders sein

Fanny isst gerne Vanille-Eis. Sie kennt die Geschichten von Superman auswendig und weiß, dass er un1d seine Cousine von einem anderen Planeten, vom Krypton kommt. Morgens ist Fanny immer Müsli, in die Schule nimmt sie immer ein Toastbrot mit - mit Butter von Sommerglück - und eine Karotte in Folie eingewickelt. Mittags isst sie immer Nudeln von Giulia mit Ketchup von Hans. Und nur das. Zur Not geht auch Vanilleeis.

Fanny hasst es, wenn jemand lügt. Sie erträgt es nicht, wenn man sie anfasst ohne sie zu fragen. Sie liebt das Lied von der Biene Maja und denkt viel nach. Sie versucht die Menschen um sich herum zu verstehen, aber es gelingt ihr nicht. Sie will ihnen glauben, dass sie es gut mit ihr meinen. Aber oft tun sie es nicht. Die Nachbarskinder mobben sie und lachen: Hey, Fanny, wie siehst du denn heute aus? Und dann verzweifelt sie, weiß aber nicht, was sie tun kann. Wenn sie nicht mehr weiterweiß, krabbelt sie unter die Matratze ihres Betts und klopft auf den Bettrahmen, dreht das Lied von der Biene Maja laut auf. Oder sie geht in den Bauwagen, der im Garten steht. Dort sind alle ihre Superman-Bücher. 
Fanny ist 8 Jahre alt und sie ist autistisch.

Ein jeder wird seine eigene Last tragen.

2. Normal sein wollen

Seit über einem Jahr trägt Fanny einen Supergirl-Anzug, den ihr ihre Mutter zum Fasching genäht hatte. Und sie trägt nur den.
Fanny weiß, dass sie anders ist als die anderen Kinder. Sie will so sein wie sie. Aber sie kann es nicht. Und so ist sie für die anderen zwar keine Systemsprengerin, aber ein Fehler im System. Wegen ihr muss die Lehrerin manchmal den Unterricht unterbrechen. Und die anderen Kinder lachen über ihren Anzug. Eines Tages kommt sie im Schlafanzug in die Schule, weil ihre Eltern sie baten, mal was anderes anzuziehen. Da lachten sie noch mehr. In der Schule hat Fanny aber keine Matratze, unter die sie krabbeln kann.

Der Vater hat einen guten Job, ist dadurch aber viel weg. Wenn er zuhause ist, ist er derjenige, der mit Fanny reden kann und er bringt Ruhe hinein. Aber meistens ist die Mutter, Tilda, alleine zuständig. Sie war mal Flugbegleitering. Nun arbeitet sie bei einer Autovermietung und sorgt dafür, dass Fanny den Rhythmus hat, den sie braucht - und sie versucht sie zu schützen. Und hat das Gefühl, sie ist die einzige, die das tut.

Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

3. Alles richtig machen

Fannys Mutter Tilda sträubt sich heftig gegen professionelle Hilfe. Sie hat Angst vor Psychologinnen und Psychiatern, weil ihre eigene Mutter psychisch krank war. Sie will alles richtig machen, will, dass alles „normal“ ist. Tilda setzt sich dadurch unter so großen Druck, dass sie selber immer öfter zusammenbricht. „Ich will endlich mal was tun, was ich richtig gut kann,“ sagt sie zu ihrem Mann. „Mutter sein kann ich nicht. Aber in meinem früheren Beruf Flugbegleiterin - da war ich richtig gut.“

Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

4. Gemeinde sein

Alles richtig machen - das wollen die Christen und Christinnen in Galatien auch. Sie wollen gleich sein, wollen sich an die Regeln halten, die es seit jeher für Gottgläubige gab. Beschneidung, Essen, Fasten - alles, was es so gab, um dazu zu gehören. So war halt das System.

Paulus hält das für falsch. Niemand soll er erst Jude werden müssen, um Christ zu sein. Die Christen und Christinnen sollen unterschiedlich sein dürfen. Es sind ja Sklavinnen und Bürger, Frauen und Männer, Familienoberhäupter und Kinder, Schwarze und Weiße. Niemand von ihnen ist wichtiger oder besser als die anderen. Die Hierarchien, die sie aus ihrer Umwelt kennen, die soll es in der Gemeinde nicht geben. Die weltlichen Maßstäbe zählen nicht. Was zählt, ist: wir müssen gar nichts tun, um liebenswert zu sein, um richtig zu sein. Jeder und jede ist ein Geschenk Gottes - wertvoll und von Gott geliebt. Gehört zu Gott. Mit Geist erfüllt.

Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.

Wer glaubt, er oder sie ist die einzige und müsse alles alleine können, täuscht sich. Und überfordert sich selbst. Wie Tilda. Gefangen in einem Teufelskreis aus Normalseinwollen und alles richtigmachen und Druck von außen und sich nicht helfen lassen können. Wie gut kenne ich das von mir.

Gott hat dich lieb, so wie du bist. Sagt Paulus zu Tilda.
Gott hat dich lieb, so wie du bist. Sagt Paulus zu Fanny.
Gott hat Fanny lieb, so wie sie ist. Sagt Paulus zu Tilda und zu den Nachbarskindern.
Seid füreinander da. Ihr braucht euch doch. Niemand muss es alleine schaffen. Niemand kann es alleine schaffen. Zeigt das, sagt Paulus. Zeigt, wie gut ihr euch ergänzt. Zeigt, dass ihr Gottes Kinder seid. Unterstützt euch. Stärkt euch und tragt eure Lasten gemeinsam.

Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden;
denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen.



5. Füreinander da sein

Eines Morgens trifft Fanny in ihrem Bauwagen auf einen alten Mann. Es ist Oskar, ihr Opa. Ihre Mutter Tilda hat ihr nie was von einem Opa erzählt, denn sie schämt sich für ihren Vater und ist wütend auf ihn. Er hat sie in Stich gelassen und ist dann sogar noch im Gefängnis gelandet. Wegen Unterschlagung. Ein Hochstapler ist Oskar. Einer, der gerne Geschichten erzählt und die Wirklichkeit gekonnt ignoriert. Nun ist er aus dem Gefängnis entlassen und steht alleine da. Ein Außenseiter. Einer, dem es nichts ausmacht, im Bademantel durch die Stadt zu laufen oder die spießige Nachbarin vorzuführen.
„Ich habe keinen Opa“, sagt Fanny zu dem alten Mann. Also stellt er sich als Professor Krypton vor. Er erkennt sofort, dass Fanny ein besonderes Kind ist, ein Supergirl, wie von einem anderen Planeten. Und irgendwie scheint auch er von einem anderen Stern zu kommen. Warum also nicht von Krypton, wie Superman? Fanny akzeptiert das - und die beiden freunden sich an.

Natürlich bekommt das irgendwann auch Tilda mit. Nach dem ersten Entsetzen sieht sie die Chance, mit Oskars Hilfe wieder in ihren Beruf einzusteigen. Oskar kann ja für ein paar Tage auf Fanny aufpassen. Natürlich geht dann alles drunter und drüber. Zwei Außerirdische, die sich nicht an die Normen halten. Sie kaufen mit Tüten auf dem Kopf ein, setzen Sonnenbrillen im Schatten auf, essen Vanilleeis zu Mittag und wollen das Supertalent von Fanny herausfinden.

Oskar ist aber für Fanny endlich einer, der sie nicht nur akzeptiert, sondern weiß, dass sie was zu bieten hat. So wie sie ist. Und er schafft es, auch die anderen Kinder davon zu überzeugen.
Und Fanny ist für Oskar endlich eine, die ihn nicht ändern will, sondern der er helfen kann - mit seiner Begabung Geschichten zu erfinden. Er hat ja nicht mehr viel Zeit, weil er alt ist.

Einer trage des anderen Last.

Und Tilda: sie kann endlich akzeptieren, dass ihr Kind anders ist und dass sie als Familie nicht „normal“ sein müssen. Sie akzeptiert endlich, dass andere es genauso gut machen können, auch wenn sie es ganz anders tun. Nicht nur sie weiß, was für Fanny gut ist. Und als sie das akzeptiert, findet sie ihre Freiheit wieder.


6. Im Geist leben

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.

Oskar, das Schlitzohr und Fanny Supergirl - so heißt der Film, den ich euch gerade erzählt habe. Und er handelt von uns - von unperfekten Supergirls und Superboys.

Wir sind Gottes Kinder. Wir sind Fanny und Oskar und Tilda. Gott hat uns lieb, so wie wir sind. Wir brauchen nicht stärker oder besser oder normaler zu sein. Feiern wir unsere Vielfalt. Lasst uns nicht irgendwelche Normen erfüllen oder gar noch Schranken aufbauen, wer dazu gehört und wer nicht. Laden wir die anderen Fannys und Oskars und Tildas ein – hier in die Kirche. Oder noch besser: gehen wir mit einem Tisch raus und laden die ein, die da noch in unserer Stadt unterwegs sind: die mit den Tüten auf den Kopf und den Sonnenbrillen im Schatten.

Wir gehören doch zusammen, wir Gottes Kinder. Und wir brauchen uns. Lasst uns unsere Lasten gemeinsam tragen. Teilen wir unsere Sorgen. Unterstützen wir uns und ganz besonders die, die unter ihrer Last zusammenbrechen. Am himmlischen Tisch haben wir alle unseren Platz. Da können wir ausruhen und verrückte Pläne aushecken. Pläne wie von einem andere Stern. Und ganz oben - am oberen Ende vom Tisch - da sitzt der, der für uns da ist: Jesus. Und er nimmt uns alle Last ab.

Amen.



Sonntag, 11. September 2022

Ich bin dann mal weg - zwei Gottsucher, die Gott finden und überrascht werden

Predigt zu Elija und Hape Kerkeling*

1.Teil: Elija

Sein Name ist Programm.  Elija - das heißt: Mein Gott ist allein Jahwe, niemand sonst.
Und dafür tritt er vor gut 2.800 Jahren ein, wie keiner sonst -
dafür nimmt er sogar blutige Opfer in Kauf.
Heute würden wir ihn als Fanatiker sehen, und in der Tat geht es für ihn um Leben oder Tod.
Es gibt nur ein Entweder-Oder, keine Zwischentöne. Kennen wir gerade, nicht wahr?
Jedenfalls gibt ihm dieses Entweder-Oder Power,
so viel, dass er als Sieger gegen seine Gegner, die Baalspriester, hervorgeht.
Aber dann geht er zu weit und lässt sie umbringen.
Das Ringen um die göttliche Wahrheit endet mit einem Blutbad.
Auch das kommt mir bekannt vor. 


Nun ist Elija selbst in einer schwierigen Lage.
Klar, dass die Königin Isebel auf der Gegnerseite diese Taten nicht ungesühnt lassen will.
„Das lasse ich mir nicht gefallen“ - lässt sie ihm ausrichten.
„Ich werde mich an dir rächen, spätestens morgen.“
Elija bangt um sein Leben.

Hört selbst, wie es im 1.Buch der Könige geschrieben steht:
Da packte Elija die Angst, und er floh, um sein Leben zu retten. In Beerscheba an der Südgrenze von Juda ließ er seinen Diener zurück und wanderte allein weiter, einen Tag lang nach Süden in die Steppe hinein. Dann setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod herbei. „Herr, ich kann nicht mehr“, sagte er. „Lass mich sterben! Ich bin nicht besser als meine Vorfahren.“ Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein.
    Aber ein Engel kam und weckte ihn und sagte: „Steh auf und iss!" Als Elija sich umschaute, entdeckte er hinter seinem Kopf ein frisches Fladenbrot und einen Krug mit Wasser. Er aß und trank und legte sich wieder schlafen. Aber der Engel des Herrn weckte ihn noch einmal und sagte: „Steh auf und iss! Du hast einen weiten Weg vor dir!“ Elija stand auf, aß und trank und machte sich auf den Weg. Er war so gestärkt, dass er 40 Tage und Nächte ununterbrochen wanderte, bis er zum Berg Gottes, dem Horeb kam. Dort ging er in die Höhle hinein und wollte sich darin schlafen legen.
    Da hörte er plötzlich die Stimme des Herrn: „Elija, was willst du hier?“ Elija antwortete: „Herr, ich habe mich leidenschaftlich für dich, den Gott Israels und der ganzen Welt, eingesetzt; denn die Leute von Israel haben den Bund gebrochen, den du mit ihnen geschlossen hast... Nun bin ich allein übriggeblieben, und nun wollen sie auch mich noch töten.“
   Der Herr sagte: „ Komm aus der Höhle und tritt auf den Berg vor mich hin! Ich werde an dir vorübergehen!“ Da kam ein Sturm, der an der Bergwand rüttelte, dass die Felsbrocken flogen. Aber der Herr war nicht im Sturm. Als der Sturm vorüber war, kam ein starkes Erdbeben. Aber der Herr war nicht im Erdbeben. Als das Beben vorüber war, kam ein loderndes Feuer. Aber der Herr war nicht im Feuer. Als das Feuer vorüber war, kam ein ganz leiser Hauch. Da verhüllte Elija sein Gesicht mit dem Mantel, trat vor und stellte sich in den Eingang der Höhle. Und Gott sprach zu ihm: „Geh den Weg zurück, den du gekommen bist!“ (1. Könige 19)


2.Teil: Kerkeling und der Camino

Sein Name steht für Programm. Hape Kerkeling steht für Unterhaltungsprogramm - und das seit fast 40 Jahren. Kaum jemand in Deutschland, der ihn nicht kennt. International berühmt geworden als einer, der als Königin von Holland oder als Horst Schlämmer auftrat, steht er in den 90er und Nuller Jahren voll im Geschäft und setzt alle Power ein, die er hat.
Auch er nimmt Opfer in Kauf: seine Gesundheit. Seine Ganz-oder-gar-nicht-Haltung in Bezug auf seine Arbeit führt zu einem Hörsturz und dem Verlust der Gallenblase. Diese Erfahrung zwingt ihn zu einer Pause, damit er weiterleben konnte.
„Ich will mal weg!“ sagt er sich und macht sich 2001 tatsächlich auf den Weg - aber nicht nach Mallorca oder auf die Malediven, wie damals die meisten eher vermutet hätten, sondern auf den Pilgerweg nach Santiago di Compostela, einmal quer durch Spanien.
      
Wie kommt ein Komödiant und Entertainer dazu, den Jakobsweg, den Camino zu pilgern?
Kerkeling selbst sagt dazu:
„Was verspreche ich mir eigentlich von dieser Pilgerschaft? Ich könnte losziehen mit der Frage im Kopf: Gibt es Gott? Seit meiner frühesten Kindheit beschäftigt mich die Frage nach dem großen unbekannten Wesen. Als Kind hatte ich nie den leisesten Zweifel an der Existenz Gottes, aber als vermeintlich aufgeklärter Erwachsener stelle ich mir heute durchaus die Frage: Gibt es Gott wirklich? Was aber, wenn dann am Ende dieser Reise die Antwort lautet: Nein, tut mir sehr leid. Der existiert nicht. Da gibt es NICHTS. Könnte ich damit umgehen? Mit Nichts? Wäre dann nicht das gesamte Leben auf dieser ulkigen kleinen Kugel vollkommen sinnlos? Natürlich will jeder, mutmaße ich, Gott finden... oder zumindest wissen, ob er denn nun da ist...
Vielleicht wäre die Frage besser: Wer ist Gott? Oder wo oder wie? ...Nur: Wer sucht denn hier eigentlich nach Gott? Ich! Hans Peter Wilhelm Kerkeling, 36 Jahre, Sternzeichen Schütze, Aszendent Stier, Deutscher, Europäer, Adoptiv-Rheinländer, Westfale, Künstler, Raucher, Schwimmer, Autofahrer, Zuschauer, Komiker, Radfahrer, Autor, Kunde, Wähler, Mitbürger, Leser, Hörer...
Anscheinend weiß ich ja nicht mal so genau, wer ich selbst bin. Wie soll ich da herausfinden, wer Gott ist? Meine Frage muss also erst mal ganz bescheiden lauten: Wer bin ich? Also gut - als Erstes suche ich nach mir; dann sehe ich weiter. Vielleicht habe ich Glück und Gott wohnt gar nicht so weit weg von mir.“ (S.20-22)


Also begibt sich Herr Kerkeling auf die Suche nach sich selbst und nach Gott und macht sich auf den Weg. Und er ist allein und ziemlich bald frustriert. Der Weg ist alles andere als romantisch.
Es regnet wie aus Kübeln, der Rucksack zieht ihn zu Boden, seine Füße schmerzen. Er kann nicht mehr.

Kerkeling begegnet dann aber doch im richtigen Augenblick den richtigen Menschen, die ihn stärken oder wieder aufhelfen - so wie der Engel bei Elija. Und so wandert er weiter - trotz aller Zweifel, ob er es schaffen wird oder es überhaupt das Richtige ist, was er da tut.
Er ist froh, wenn er Menschen trifft, die ähnlich wie er ihre Zweifel haben. Mit Pilgern und Pilgerinnen, die selbstsicher und großspurig wissen, wo es lang geht, kann er nichts anfangen. Und im Laufe der Wanderung kommt er sich selbst und Gott immer näher.

Kerkeling spürt immer mehr, wie die Außenwelt des Jakobswegs sein Innenleben widerspiegelt:
sei es der steile Anstieg, die endlose Weite, oder z.B. der Kreuzgang eines Klosters, der ihn dazu bringt, seine eigenen Schattenseiten genauer zu betrachten. Bei Elija ist es der Ginsterbusch, die Wüste und die Höhle: Sich den Dornen des Lebens stellen, die Leere annehmen und die dunklen Abgründe. Die in ihm selbst.

Kann man nur dann Gott begegnen? Ich weiß es nicht.
Aber Elija ist erst nach diesen Konfrontationen mit sich selber statt mit den Baalspriestern reif für den Ewigen im Windhauch.

Und auch Kerkeling erreicht seinen persönlichen Berg Horeb und begegnet Gott:
„Bei mir war es gestern so weit. Ich stehe mitten in den Weinbergen und fange aus heiterem Himmel an zu weinen. Warum, kann ich gar nicht sagen. Erschöpfung? Freude? Alles auf einmal? Weinen in den Weinbergen!? Ich muss gleichzeitig darüber lachen.
Ja, und dann ist es passiert! Ich habe meine ganz persönliche Begegnung mit Gott erlebt.
‚Yo y Tu‘ - ich und du - war am Anfang meiner Wanderung an der Grundschule zu lesen und das klingt für mich wie ein Siegel der Verschwiegenheit. In der Tat, was dort passiert ist, betrifft nur mich und ihn. Nur diese drei Worte: ‚Ich und du.‘ Die Verbindung zwischen ihm und mir ist etwas Eigenständiges.
  Um Gott zu begegnen, muss man vorher eine Einladung an ihn aussprechen, denn ungebeten kommt er nicht. Auch eine Form von gutem Benehmen. Wir haben die freie Wahl. Zu jedem baut er einen individuelle Beziehung auf. Dazu ist nur jemand fähig, der wirklich liebt.
  Ich werde hier von Tag zu Tag freier und das Hin und Her in meiner Gefühlswelt auf dem Camino ergibt plötzlich einen klaren Sinn. Durch alle Emotionsfrequenzen habe ich mich langsam auf die eine Frequenz eingetunt und hatte einen großartigen Empfang. Totale gelassene Leere ist der Zustand, der ein Vakuum entstehen lässt, das Gott dann entspannt komplett ausfüllen kann. Also Achtung! Wer sich leer fühlt, hat eine einmalige Chance im Leben! Gestern hat etwas in mir einen riesigen Gong geschlagen. Und der Klang wird nachhallen.... Eigentlich ist mein Camino hier beendet, denn meine Frage ist eindeutig beantwortet. Ab jetzt kann der Weg mir eigentlich nur noch Freude bereiten.“ (S. 240-241)


3.Teil: Elija und Kerkeling auf ihrem Weg

Zwei Menschen haben sich auf den Weg gemacht. Sie haben Gott gesucht und gefunden. Sie haben sich selbst ganz neu erlebt und somit sich selbst neu gefunden. Vielleicht ist das der Schlüssel dieser Wegerfahrung?

Elija, der fanatische und selbstsichere Gotteskämpfer muss erst ans Ende seiner Kräfte kommen,
um zu sich selbst zu finden. Er muss den Weg durch die Wüste gehen - den Weg zu sich selbst, den Weg durch das Nichts - er muss alles hinter sich lassen, nicht nur seine Diener, sondern auch seinen Anspruch, besser zu sein als die anderen. Sein Entweder-Oder und seinen Wahrheitsanspruch.
40 Tage und Nächte muss er gehen: 40 - eine heilige Zahl. 40 - der Zeitraum für Veränderung. 40 - die Zahl für Vollendung und Reife. Nach 40 Tagen ist Elija ein anderer geworden und begegnet Gott ganz neu.

Und Gott - ja, er erscheint dem kleingewordenen Elija so, wie der ihn in seiner Situation einzig wahrnehmen kann: nicht donnernd, bebend und gewaltig - das wäre er ja gewohnt gewesen -, sondern leise, ja, fast unscheinbar. Gott begegnet dem Schwachen als Schwacher.  Und darum kann der Schwache wieder stark werden und wieder aufbrechen.
    
Hape Kerkeling geht es ähnlich: Auch er wechselt seine Rolle und versteht selbst kaum noch, auf was er sich da einlässt. Auch er, der selbstsichere Entertainer muss loslassen, alles hinter sich lassen, muss den Weg durch die innere Wüste gehen, leer werden und ganz er selbst werden.
Auch er braucht über 40 Tage und Nächte bis zum Ziel und kann Gott ganz neu begegnen.
Gott begegnet dem frei gewordenen Kerkeling als ein freier und nicht festzuhaltender Gott. Und darum kann der Freigewordene sich auch wieder binden und Verantwortung übernehmen. Er steht mehr denn je zu seiner Homosexualität und trifft später dann mit 50 Jahren sogar die Entscheidung, dass er den ganzen Rummel nicht mehr braucht.

Und du - welchen Weg gehst du? Was ist deine Wüste, welches ist dein Camino?
Gelingt es dir loszulassen, das, was dich schwächt und klein macht, hinter dir zu lassen?
Wo sind deine Momente, wo du über dich nachdenkst und über Gott, - ist es hier, in der Kirche?
Oder im Wald? Oder im Lied?
Welche Engel stärken dich unterwegs und schicken dich wieder auf den Weg?

Unsere Welt braucht Menschen wie Elia und Kerkeling - Menschen, die nach Gott suchen und merken, dass ihre Bilder im Kopf womöglich nicht die richtigen sind. Unsere Welt braucht die Zweifelnden, Suchenden, Fragenden. Vielleicht jetzt mehr denn je. Sie braucht Menschen, die den Mut haben, schwach und verletzlich zu sein, frei zu sein für einen überraschenden Gott, für den menschlichen und leisen Gott.

Unsere Welt braucht Menschen, die das Leise hören, dem Zweifel Raum geben und den Lücken zwischen Entweder und Oder und die sich selbst nicht mehr so wichtig nehmen.
 
Gott meint es gut mit dir und öffnet dir den Horizont. Zieht bei dir ein und schickt dich los.
Auf den Camino. Zum Berg Horeb. In die Welt. 
Und irgendwo - da bin ich ganz sicher - irgendwo dort triffst du Gott.

Amen.



*Hape Kerkeling, "Ich bin dann mal weg!"

Sonntag, 29. Mai 2022

Wenn die Worte fehlen und du den Boden verlierst

Predigt zu Römer 8

(mit großem Dank an Juliane Rumpel, die - ohne es zu wissen - mein Seufzen über den Predigttext gehört hat und mir mit Ideen und Worten geholfen hat, mir selber eine Predigt zu schreiben, die ich gerade gebraucht habe)


 I.
Manchmal hast du keinen Boden mehr unter deinen Füßen.
Manchmal sitzt du im Keller ohne Ausgang und dir bleibt die Luft weg.
Eine Diagnose. Ein Abschied. Ein Krieg. Ein Virus. Alle Sicherheit ist „futsch“.
Die beste Altersvorsorge, die beste Haftpflichtversicherung,
die beste Ausbildung kann nicht verhindern, dass du vor einem Nichts stehst.

Atmen. Und tief seufzen.

Seufzen geht immer, da braucht man nämlich keine Worte für.
Im Gegensatz zum Beten. Das glauben jedenfalls die meisten:
dass Gebete Worte brauchen, vielleicht sogar besondere Worte.
Dabei stimmt das gar nicht. Beten ohne Worte geht auch.

Manchmal reicht ein Seufzen, so eines aus tiefstem Herzen,
eines, bei dem ich unendlich müde werde und vielleicht ein paar Tränen fließen...
Manchmal ist es aber auch weniger tief, nur so dass ich die Schultern hochziehe...
wie auch immer: Seufzen ist Beten ohne Worte.
Wenn dir der Boden weggerissen ist, hast du keine Worte mehr.
Nur noch Seufzen. Und vielleicht noch nicht mal das.

II.
Ich glaube, so geht es den Jüngern und Jüngerinnen von Jesus gerade*.
Jesus ist gegangen und der Heilige Geist noch nicht gekommen.
Für sie bleibt nur eins zurück: Leere. Bodenlose Leere.
Alles andere als stark, alles andere als wortreiche Beter und Beterinnen.
Eher zaghaft stammelnd, sich irgendwie aneinander klammernd,
warten sie, ob da noch was kommt nach dieser Leere.

Auch Paulus kennt diese Bodenlosigkeit. Und die Menschen, an die er schreibt, auch.
Sie leben in Rom in großer Armut, verdienen mit schwerer Tätigkeit kleines Geld.
Sklaven und Sklavinnen.
Ausgesetzt einer römischen Machtpolitik wissen sie nicht, was morgen sein wird.
Da ist nicht viel Boden, auf dem sie stehen können.

III.
Und an sie schreibt er:
„Der Geist Gottes steht uns selbst da bei, wo wir selbst unfähig sind.
Wir wissen ja nicht einmal, was wir beten sollen.
Und wir wissen auch nicht, wie wir unser Gebet in angemessener Weise vor Gott bringen.
Doch der Geist selbst tritt mit Flehen und Seufzen für uns ein.
Dies geschieht in einer Weise, die nicht in Worte zu fassen ist.
Aber Gott weiß ja, was in unseren Herzen vorgeht. Er versteht, worum es dem Geist geht.
Denn der Geist tritt vor Gott für die Heiligen ein.

Wir wissen aber: Denen, die Gott lieben, dient alles zum Guten.
Es sind die Menschen, die er nach seinem Plan berufen hat.
Die hat er schon im Vorhinein ausgewählt.
Im Voraus hat er sie dazu bestimmt, nach dem Bild seines Sohnes neu gestaltet zu werden.
Denn der sollte der Erstgeborene unter vielen Brüdern und Schwestern sein.
Wen Gott so im Voraus bestimmt hat, den hat er auch berufen.
Und wen er berufen hat, den hat er auch für gerecht erklärt.
Und wen er für gerecht erklärt hat, dem hat er auch Anteil an seiner Herrlichkeit gegeben.


IV.
Wenn du keinen Boden unter den Füßen hast, brauchst du einen, der dich hält.
Wenn du im Dunkeln sitzt, brauchst du eine, die dir die Hand reicht.
Eine, die für dich spricht, für dich betet, für dich seufzt,
für dich sogar schweigt und die ganze Ohnmacht aushält.
Vor Gott musst du nicht die richtigen Worte finden. Und auch keine richtigen Erklärungen.

Und wenn du ehrlich bist, kennt dein Glaube überhaupt keinen festen Boden.
Es ist der Tanz auf einem wackelnden Seil, auf dem dein Fuß keinen wirklichen Halt findet.
Du versuchst die Balance zu halten. Bloß nicht abstürzen.
Wenn du ehrlich bist, gibt es auch in deinem Glauben die Dunkelheit,
die Enge, das Gefühl, keinen Ausweg zu wissen.

Aber sollte es nicht eigentlich anders sein?
Hast du auch wie ich ein anderes Bild davon, wie richtiger Glaube aussieht?
Fester Glaube. Fester Halt. Lichtdurchflutet.
Nichts kann mich umhauen, wenn ich nur richtig glaube?

Nein, sagt Paulus.
Für ihn gehört es zum Menschsein dazu, dass das Leben fragil ist, verletzlich.
Und zum Glauben an den Gekreuzigten erst recht.
Die Balance auf einem Seil, ohne doppelten Boden.
Die Sprachlosigkeit. Das Dunkel. All das gehört zu mir als Christin.

V.
Paulus macht mir Mut, meine Bodenlosigkeit und das Fehlen von Worten zu akzeptieren.
Mir hilft das. Dir auch?

Aber wer bin ich, dass ich überhaupt von Bodenlosigkeit und Dunkel spreche?
In diesen Tagen, da dieser unsägliche Krieg in der Ukraine tobt,
seit drei Monaten dort schon Menschen sterben,
junge Soldaten auf beiden Seiten und Zivilist*innen Tag für Tag ihr Leben lassen müssen,
Mütter in Keller hocken, weinend mit ihren Babys?
Ich sitze in keinem Keller, weine selten,
niemand, den ich kenne, sitzt in einem Keller und zittert schlaflos, weil Fliegeralarm ist...

Und doch: Jeder Mensch hat seinen Keller.
Und vielleicht ist einer dunkler als der andere
und vielleicht sitzt manche kürzer in ihrem Keller als der Nachbar, aber die Keller sind da...
sie tragen bei den meisten von uns nicht den Namen Krieg und Fliegeralarm,
sie heißen anders:

Schlaganfall der Ehefrau heißt ein Keller und nun versuchen sie wieder im Alltag anzukommen,
für beide ist das nicht leicht, alles neu und von jetzt auf gleich alles anders.
Eigentlich wollten sie sich um die Enkel kümmern,
jetzt kümmern sich die Kinder wieder um die Mutter.

Versetzungsgefährdet und 10. Klasse Abschluss, den schafft der nie.
So heißt ein anderer Keller, die alleinerziehende Mutter könnte ihn auch anders nennen.
Sie kommt grad so über die Runden, aber grad wird alles schwieriger.
Dass der Große im September eine Ausbildung anfängt, war ihr große Hoffnung.
Doch nun? Was soll nur werden?

Dass er trinkt, heißt ein anderer Keller. Dass er trinkt, das war schon immer so.
Ob er krank ist, weiß sie nicht, kann sich nicht erinnern an eine Zeit ohne Flasche,
sehnt sich nach einer andern Ehe, hat aber keine Kraft mehr.

Einsamkeit, ein großer Keller, den sich viele teilen ohne einander darin zu begegnen.
Auch und vielleicht gerade hier in diesem reichen Land, das uns manchmal vorgaukelt,
es ginge allen gut und niemand seufzt sich in den Schlaf.

Wie komme ich jetzt wieder da raus?
Aus den Kellern dieser Welt, aus den Kellern der Nachbarschaft, aus meinem eigenen Keller?!

VI.
Paulus gibt eine klare Antwort,
wenn auch nicht auf die Frage, wie man aus dem Keller kommt,
sondern, wie man dort in der Zwischenzeit die Hoffnung nicht verliert:
Denen, die Gott lieben, dient alles zum Guten!

Und das meint nicht, dass dein Leben objektiv betrachtet gut und gelungen sein muss,
es geht nicht um das Job, das Auto, um Haus oder Reichtum oder eine gute Ehe.

Nein, wenn du das, was dir passiert, für das Beste hältst
und wenn es dir gelingt, auch im Keller noch zu seufzen
oder auf das stellvertretende Beten des Geistes zu hoffen,
wenn du nach einer Hand fassen kannst, die dich festhält,
dann liebst du Gott und er liebt dich und du gehörst zu ihm,
und du hast Anteil an seiner Herrlichkeit.

Ich möchte Paulus gerne glauben.
Ich möchte glauben, dass ich aus der Liebe Gottes nicht herausfallen kann.
Dass ich auch im dunklen Keller nicht ohne den Geist Gottes bin,
der mit mir seufzt und Worte stammelt und schweigt.
Ich möchte gerne annehmen, dass es nichts über meinen Glauben aussagt,
ob ich im Keller oder auf einem Seil bin.
Ich will nicht mehr so tun, dass ich nur richtigen Worte finden muss, damit alles gut wird.
Es hängt nicht an mir, ob es gut wird oder nicht, ob ich die Balance finde und einen Ausgang.

VII.
So viele Menschen vor mir haben die Keller ihres Lebens überstanden.
So viele Menschen haben die Balance verloren und sind doch angekommen.
Auch ohne doppeltem Boden.
Die Jünger und Jüngerinnen, Paulus, die Christen und Christinnen in Rom.

Sie haben gemerkt, dass sie letztlich nie ganz allein sind.
Dass es andere gibt, die mit ihnen leiden, zu ihnen stehen, für sie beten.
Sie haben auch gemerkt, dass Gott sie nicht in Stich lässt.
Dass er seinen Geist schickt. Und dieser Geist verbindet sie mit uns.
Auf den Seilen dieser Welt greifen wir nach der einen Hand.  Und wir halten uns gegenseitig.
In den Kellern dieser Welt seufzen wir und beten und hoffen, dass uns da einer rausholt.
Und dieser eine ist Jesus:
Der ist noch tiefer als in den tiefsten Keller gegangen.
Ist auferstanden von den Toten.
Und er nimmt mich mit ans Licht.

Amen.

*es ist der Sonntag "Ex-audi": er steht für die Wartezeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten und in der die Jünger*innen (und damit auch wir) eigentlich überhaupt nicht wissen, was noch passieren wird. Im Grunde stehen die Jünger*innen ziemlich alleine da!

Sonntag, 22. Mai 2022

Die Wahrheit wird euch frei machen

Von Mut und Feigheit, einer befreienden Wahrheit
und dem großen Gelehrten Johannes Reuchlin.

Eine Predigt zu Johannes 8 und zum Reuchlin-Jubiläum
(500. Todestag)

 

I.

Da hat nicht mehr viel gefehlt und die Steine wären geflogen.(1)

Aufgebrachte Männer, vielleicht noch angestachelt durch jede Menge Gerüchte, was die Frau vielleicht noch alles getan habe.

Fake-News. Eins kommt zum anderen.

 

Das Urteil steht fest. Die Ehebrecherin muss gesteinigt werden.

Sie gehen zum Tempel, zu Jesus. Wollen wissen, wie er damit umgeht.

Er kann ja gar nicht anders, als ihnen zuzustimmen.

Sonst würde er ja gegen das Recht verstoßen. Denken sie.  Und irren sich.

 

Jesus macht es ganz geschickt. Er antwortet nämlich nicht sofort.

Mitten in der sehr aufgeheizten Stimmung bückt er sich nieder, schreibt und schweigt. Er geht nicht einfach weg, taucht nicht einfach ab.

Aber er gibt die Mitte frei, indem er sich bückt.

 

Da ist plötzlich Raum für die Wahrheit.

Die Aufgebrachten sehen sich auf einmal in die Augen. Und eine Pause entsteht. Eine Pause zum Nachdenken. Durchdenken. Atmen. Und weiterdenken.

 

II.

Jesus nutzt die entstandene Pause für einen einzigen Satz: 

Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Die berühmten 3 Finger, die zurückweisen, wenn ich mit dem Finger auf andere zeige. Jesus nötigt die Aufgebrachten zum Wechsel der Perspektive: Schaut einmal mit anderen Augen auf die Sache.

 

Und dann bückt sich Jesus wieder herunter und schreibt und schweigt weiter.

Und nun merken die aufgebrachten Männer,  dass sie gefangen waren im Schwarz-oder-Weiß, im Richtig-oder-Falsch, Wir und die - in diesem Ganzen waren sie so gefangen, dass sie das Mensch sein vergessen hatten.  Auch ihr eigenes Mensch sein, das nicht sündenfrei sein kann. 

Jesus hat einen Raum geschaffen, einen Raum für die Wahrheit.

 

III.

Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus ein paar Sätze später.

Die Wahrheit….

Die Wahrheit macht euch frei vom Schwarz-Weiß-Denken, von Hass, von diesem Wir-und-die. Die Wahrheit lässt euch nachdenken, weiterdenken.
Sie nimmt euch die Steine aus der Hand.
Ihr erkennt sie nur, wenn ihr die Perspektive wechselt.

 

IV.

Die vergiften unsere Brunnen!
Die ermorden unsere Kinder und trinken ihr Blut!

Die verhexen unsere Frauen!

Das und noch viel mehr wurde den Juden und Jüdinnen vorgeworfen,
als Johannes Reuchlin lebte.

Bereits 200 Jahre vor seiner Geburt entsteht im 13. Jahrhundert die Pforzheimer Margarethen-Legende. Nach ihr wird eine Kapelle in der Schlosskirche benannt.

Sie erzählt von einem toten Mädchen: es sei von einer alten Frau an die Juden verkauft worden, die töteten es  und warfen es dann in den Fluss - angeblich.

Ein sogenannter Ritualmord und diese Anschuldigung führte dazu, dass der Pforzheimer Rabbiner und seine 3 Söhne hingerichtet wurden.

Solche Verschwörungserzählungen gehen die nächsten Jahrhunderte weiter und heizen die Stimmung immer weiter auf - die Stimmung gegen Juden und Jüdinnen.

Und, ja, hier fliegen Steine. Und noch viel Schlimmeres.


V.

Auch Johannes Reuchlin, 1455 in Pforzheim geboren, ist nicht frei von antisemitischem Argwohn - wie fast alle Humanisten seiner Zeit.

Für ihn sind die Juden zunächst vor allem Missionsobjekte.
Doch zugleich sucht er - wie alle Humanisten - die Wahrheit. Die Wahrheit….

Darum befasst er sich wie kaum ein anderer mit den alten Sprachen. Von seiner Ausbildung her ist Reuchlin eigentlich Jurist. Aber seine Leidenschaft gilt den hebräischen Schriften. In ihnen erschließt sich ihm eine neue Welt.

Und Reuchlin erkennt:
Christen sollen diese Quellen achten, um ihren eigenen Glauben besser zu verstehen.
Und er schreibt:

„Jedes Mal, wenn ich Hebräisch lese, glaube ich Gott selbst zu sehen, der mit mir spricht.
Ich bedenke dann, dass es die Sprache ist,
in der Gott mit den Menschen verkehrt hat.“ (2)

 

VI.

Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus.

1510 ist das Jahr, in dem Reuchlin sich zur Wahrheit bekennt.
Gegen Verleumdung und Verschwörungserzählungen.
Gegen Fake-News der damaligen Zeit.

Ein gewisser Johannes Pfefferkorn behauptet,
Juden verhöhnten den christlichen Glauben und wollten das Reich zerstören.
Er fordert die damalige Obrigkeit auf, die rabbinischen Schriften zu verbrennen
und die Juden aus dem Land zu vertreiben.

Kaiser Maximilian und einige Bischöfe geben Gutachten in Auftrag.
Die Professoren in Köln, Mainz und Erfurt unterstützen Pfefferkorn.
Auch Reuchlin wird um ein Gutachten gebeten.
Und er ist der einzige, der gegenhält.

Er schreibt:

„Man soll die Kommentare der Leute,
die ihre Muttersprache von Jugend auf gründlich gelernt haben,
keineswegs unterdrücken,
sondern, wo immer solche existieren, sie zugänglich machen,
pflegen und sehr in Ehren halten,

als Quellen, aus denen der wahre Sinn der Sprache

und das Verständnis der Heiligen Schrift uns zufließt.

Wir sollen das wahre Wissen weit richtiger an der Quelle

als in den Abflüssen suchen.“

Mit anderen Worten: Schaut genau hin. Wechselt die Perspektive!

„Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!
Die Bücher der Juden enthalten die Lehre des Glaubens.

Damit beleidigen sie keinen anderen Menschen.
In ihrem Glauben sind sie, genau wie die Christen, allein Gott verantwortlich.“

Respektiert, dass andere anders sind.
Respektiert, dass sie einen anderen Standpunkt haben.
Schaut von einem anderen Blickwinkel aus auf die Sache!

„Die Juden sind in Dingen, die ihren Glauben betreffen,
einzig ihresgleichen und sonst keinem Richter unterworfen.“

Gebt ihren Perspektiven den Raum, der ihnen zusteht! Lasst die Juden in Ruhe.

 

Reuchlin macht es wie Jesus.

Er bückt sich und schreibt und gibt Raum zum Nachdenken, zum Weiterdenken.

Raum für die Wahrheit.

Und letztlich setzt sich Reuchlin gegen Pfefferkorn durch.

Die Juden werden nicht ausgewiesen, ihre Bücher nicht zerstört. (Noch nicht....)

 

VII.

Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus.

Die Wahrheit macht euch frei vom Hass.

Sie lässt euch nachdenken, weiterdenken. Nimmt euch die Steine aus der Hand.

Ihr erkennt sie nur, wenn ihr die Perspektive, eure Sichtweise wechselt.

 

Es ist dieser Raum für die Wahrheit, den Jesus geschaffen hat,
als eine Frau verurteilt und getötet werden sollte.
Es ist diese Wahrheit, die Reuchlin erkennt, als sie Juden und Jüdinnen vertreiben wollen.

Reuchlin war ja nicht von Anfang an der mutige Vertreter für die Toleranz gegenüber anderen Religionen. Er betrat diesen Raum der Wahrheit erst nach und nach.
Und so veränderte er seine Haltung.
Aber diese dann gefundene - die behielt er bei, selbst als er angefeindet und bedroht wurde.
Er stellte sich schützend vor Andersgläubige.

Und weil er eine hohe Position als juristischer Berater der Obrigkeit hatte, hörte man auf ihn.

„Ich rate dazu, dass diejenigen, die außerhalb unseres Glaubens stehen,
seien es Juden, Griechen oder Muslime,
durch keinerlei Gewaltmaßnahmen auf unsere Seite gezogen werden dürfen.“


VIII.

Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Wahrheit Jesu.

Die Wahrheit hat den Anklägern der sogenannten Ehebrecherin die Steine aus der Hand genommen. Sie hat Reuchlin frei gemacht, mutig zu schreiben. Die Wahrheit hat ihn befähigt, seine Haltung zu ändern. Neue Sichtweisen einzunehmen.  Sich den Verschwörungsmythen und Fake-News seiner Zeit entgegenzustellen.

Ja, die Wahrheit hat ihm den Blick dafür geöffnet, was auf dem Spiel steht. Dass es nicht nur um bedrucktes Papier oder Pergament geht, sondern um die Freiheit des Denkens und des Glaubens.

Und das ist hochmodern.
Verschwörungsmythen haben wieder Hochkonjunktur.

Es wird von Meinungsdiktatur gesprochen, dabei kann jede ihre Meinung sagen.

Immer wieder ziehen Demos durch Pforzheim und sprechen von westlicher Hetze,
dabei ist es der russische Präsident, der die Ukraine mit Gewalt überzieht.

Und wer in seinem Land gegen den Krieg ist, wird weggesperrt.

In Bremen hetzt ein Prediger gegen gleichgeschlechtlich Liebende
und wird dafür von seinen Fans gefeiert.

Und die Rechtspopulisten hier wollen immer noch eine deutsche Leitkultur einführen

und damit die Vielfalt an Sprachen und Kulturen einebnen.
Sie sprechen von „normal“ und meinen „deutsch“, heterosexuell, weiß.
 

Hier wird Wahrheit verdreht und gebogen. Reuchlin würde sich im Grabe umdrehen.

 

IX.

Und Jesus? Er bückt sich und schreibt und schweigt.
Durchdenken. Atmen. Und weiterdenken.

Jesus gibt den Raum, wo wir die Wahrheit finden. Wo wir uns ansehen als Menschen.
Wo wir uns nicht von Verschwörungserzählungen leiten lassen,
sondern genau hinsehen und sie gemeinsam suchen:
die Wahrheit mit den verschiedenen Perspektiven. 


Es ist manchmal nicht leicht, diese vielen Perspektiven auszuhalten.
Das gilt für die Diskussion um die Waffenlieferungen genauso wie für die um die Impfpflicht. Aber nur so kommen wir die Wahrheit näher.

Jesus bückt sich, damit wir einen neuen Raum betreten,
wo wir anders hinschauen und anders hinhören.
Dort geht es nicht um Rechthaben, sondern darum, Menschen ihr Leben zu ermöglichen.
Dieser Raum ist bunt und angefüllt mit den Sprachen und Religionen dieser Welt,
mit Menschen, die so unterschiedlich leben und lieben,
wie sie sind
und die sich nicht gegeneinander aufhetzen lassen.
Ein Raum, wo wir jedem Menschen würdevoll und respektvoll begegnen.

 

Jesus öffnet den Raum für uns.
Er ist schon längst da, dieser Raum der Wahrheit.

Es ist an uns, ihn zu betreten.
Vielleicht müssen wir uns dafür bücken und eine Pause einlegen oder in den Sand schreiben. Und hoffentlich wissen wir wie Reuchlin, wann wir für die Wahrheit einstehen müssen
und für die Menschen,
die für Macht, Verschwörungen und Fakenews geopfert werden sollen.

Ich bin sicher: wir wissen es dann.
Denn Jesus traut uns das zu.

Oder mit den Worten von Reuchlin,
die er kurz
vor seinem Tod verfasst - quasi sein Vermächtnis:

„Wir legen die Fundamente der Zukunft:
Die Wahrheit wird über der Welt aufgehen,

das Dunkel verschwinden, das Licht wird leuchten.“

Amen.

 

 (1) Johannes 8, 2-11:

2Frühmorgens aber kam Jesus wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.


(2) Die Zitate von Reuchlin (Kursiv und violett) sind diversen Aufsätzen und Zusammenstellungen entnommen.