Sonntag, 6. März 2022

Ich suche die Gnade. Denn sie ist da. Trotzdem.

Von Gegensätzen und Hoffnungsbildern

Predigt zu 2. Korinther 6, 1-11


I.
Wo ist Gottes Gnade? Wo kann ich sie entdecken?

Ich höre die Bundestagsdebatte und Worte wie Zeitenwende, Paradigmenwechsel und Aufstockung des Verteidigungshaushalts. 100 Milliarden werden mal eben zur Verfügung gestellt. Für Waffen. Dafür, wehrhaft zu sein. Verteidigungsbereit. Gnade?

Ich höre auch nachdenkliche Worte. Dass unsere Hände nicht sauber bleiben können. Dass wir nicht wissen, ob das, was jetzt richtig ist, auch gut ist. Ich höre, wie die Abgeordneten miteinander ringen, miteinander suchen. Ja, die Tage davor haben auch an ihnen gezerrt. Ich sehe sie als Menschen, die wissen, wir groß ihre Verantwortung ist. Und ich bitte für sie um deine Gnade.

Wo ist Gottes Gnade? Wo kann ich sie entdecken?

Ich sehe diesen gnadenlosen Machthaber im Kreml. Ich höre seine Lügen, seine Sätze voller Demagogie. Das Netz flutet mich mit Bildern, wie er mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd reitet. Und wie er am großen großen Tisch sitzt - allein. Am anderen Ende irgendwelche Berater, wenn sie denn Berater sind. Gnade?

Und ich denke: wie einsam musst du, Vladimir, sein? Was hat deine Seele so vergiftet? Warum hast du nur Berater um dich herum, die dir immer nur zustimmen? Sie wollen weder dein Bestes noch das des Landes. Und du auch offenbar auch nicht. Wie können wir dich bewegen, dein Herz zu spüren? Dein Mitgefühl nicht wegzudrücken? Und auch, wenn ich dich in die Hölle wünsche, ich bitte für dich um Gnade, Vladimir Putin.

II.
Wo ist Gottes Gnade? Wo kann ich sie entdecken?

Das sagt Paulus (2. Korinther 6, 1-11):
„Wir als Gottes Mitarbeiter bitten euch auch:
Nehmt die Gnade Gottes so an, dass sie nicht ohne Wirkung bleibt.
Denn Gott spricht:
»Ich habe dich zur rechten Zeit erhört und dir am Tag der Rettung geholfen. « (Jes 49)
Seht doch! Jetzt ist die rechte Zeit. Seht doch! Jetzt ist der Tag der Rettung.

Wir wollen auf gar keinen Fall Anstoß erregen.
Denn unser Dienst soll nicht in Verruf geraten.
Vielmehr beweisen wir in jeder Lage, dass wir Gottes Diener sind:
Mit großer Standhaftigkeit ertragen wir Leid, Not und Verzweiflung.
Man schlägt uns, wirft uns ins Gefängnis und hetzt die Leute gegen uns auf.
Wir arbeiten bis zur Erschöpfung, wir schlafen nicht und essen nicht.
Zu unserem Dienst gehören ein einwandfreier Lebenswandel,
Erkenntnis, Geduld und Güte, der Heilige Geist und aufrichtige Liebe.
Zu unserem Dienst gehören außerdem die Wahrheit unserer Verkündigung
und die Kraft, die von Gott kommt.
Wir kämpfen mit den Waffen der Gerechtigkeit, in der rechten und in der linken Hand.

Wir erfüllen unseren Auftrag,
ob wir dadurch Ehre gewinnen oder Schande, ob wir verleumdet werden oder gelobt.
Wir gelten als Betrüger und sagen doch die Wahrheit.
Wir werden verkannt und sind doch anerkannt.
Wir sind vom Tod bedroht, und seht doch: Wir leben!
Wir werden ausgepeitscht und kommen doch nicht um.
Wir geraten in Trauer und bleiben doch fröhlich.
Wir sind arm und machen doch viele reich.
Wir haben nichts und besitzen doch alles!“


III.
Wo ist Gottes Gnade? Wo kann ich sie entdecken?

Paulus, du sagst, dass sie wirksam wird 
in jeder, die sie annimmt.
Es ist, als ob du mir einen riesigen Container hinstellst mit lauter Müll drin und ganz ganz unten oder irgendwo dazwischen ist die Gnade. Kram sie hervor, sagst du. Sie ist ja da, die Gnade. Siehst du sie etwa nicht?

Nein.
Sie ist untergegangen im Feuer im Atomkraftwerk, in den Schüssen auf die Hochhäuser von Kiew, im Wimmern der Altern, die sich in den U-Bahn-Schächten verstecken müssen und nicht wissen, ob sie in ihre Wohnungen zurück können. Mit den Waffen der Gerechtigkeit kommen wir nicht mehr weiter. Aber ohne sie auch nicht.
Non vi sed verbo, hat einst Luther gesagt. Keine Gewalt, nur das Wort. Aber das zählt gerade nicht.
Ja, auch jetzt ist von einer Zeitenwende die Rede. Aber es ist die der Eskalation, der militärischen Stärke. Nicht die Zeitenwende, die der Gnade Raum gibt. Nicht die, die auf den einzelnen blickt.

IV.
Und doch ist sie da, sagst du, Paulus: die Gnade. Die Menschenfreundlichkeit Gottes.
Seine Liebe. Seine bedingungslose Liebe zu allem, das lebt und atmet und liebt und lacht und weint. Vielleicht ist sie verschüttet, aber sie ist da. Suche nach ihr, sagst du.

Und ich denke an den Propheten, der sich Jesaja nennt. Er lebt im Exil weit weit weg von seinem Zuhause. Sieht, wie dreckig es seinen Leuten geht, wird selber verhöhnt. Und er doch hört er Hoffnungsworte von seinem Gott und die gibt er weiter.

„Sagt den Gefangenen: Geht heraus!, Sagt zu denen in der Finsternis: Kommt hervor! Ihr Erbarmer wird sie führen und sie an die Wasserquellen leiten. Ich will alle meine Berge zum ebenen Wege machen, und meine Pfade sollen gebahnt sein.“ (Jes 49)

Er sagt es, obwohl er weiß, dass das außer ihm niemand sonst sieht und hört.
Er klammert sich an Gott, an Gottes Worte, an das, was er versprochen hat:
ich bin da für euch - gerade für euch. Und gerade jetzt.

V.
Ja, es ist unser Auftrag, diese Gnade zu verkünden.
Gegen allen Augenschein. Gegen allen Pessimismus. Gegen allen Frust. Gegen den Tod.
Wir Christen und Christinnen klammern uns an diesen Gott.
Wir klammern uns an Jesus, der in die Wüste ging und mit dem Teufel kämpfte. Und als er ihm anbot, ihm die totale Macht zu geben, lehnte er ab. Weil er wusste: ich gehöre nach ganz unten.
Ich gehöre dorthin, wo die Menschen sind. Wo sie lachen und weinen, klagen und schreien.
Dort im U-Bahn-Tunnnel in Kiew und in den Flüchtlingslagern Griechenlands.
Dort am polnischen Grenzzaun, wo nur weiße Flüchtlinge durchgelassen werden.
Dort gehöre ich hin und nicht an den riesigen Tisch der Befehlshaber.
Und ja, an diesen Jesus klammere ich mich.

An den Jesus, der mit Spucke und Lehm die Augen eines Blinden beschmiert.
Der um seinen Freund Lazarus weint und sich im Jordan taufen lässt wie alle anderen Sünder auch.
Ich klammere mich an diesen Jesus, der sich bespucken lässt und verspotten,
der in einer Krippe geboren wird von einer jungen Frau, die nichts zählt.
An diesen Jesus halte ich mich, der seine Feinde liebt und mich auch und vermutlich sogar Putin.
Und ich bin froh, dass er es tut, denn ich kann es gerade nicht:
Putin lieben und die Menschenverächter dieser Welt.
Aber ich kann auf ihn zeigen, auf diesen Jesus.
Der kann das, was ich gerade nicht kann.
Und vielleicht genügt das ja, jedenfalls im Moment?

VI.
Wo ist Gottes Gnade? Wo kann ich sie entdecken?

Ich suche sie.
Und vielleicht finde ich sie gerade nur bei diesem Jesus, der all das Furchtbare aushält.
Der ans Kreuz geht. Und der die Armen und Traurigen selig preist und mir ein Senfkorn hinhält.
Hier sagt er: das ist das Reich Gottes. Das ist die große Liebe Gottes.
Sie macht sich klein und ist doch unendlich groß.

Ich suche nach der Gnade,
nach der unendlichen Liebe Gottes, die sich so klein macht,
dass ich sie übersehen und überhören könnte.

Und ich finde sie in den Worten von Annette Kurschus, der EKD-Ratsvorsitzenden, als sie in Berlin vor zigtausend Menschen spricht. Wenn sie sagt: „Lasst uns präzise bleiben in unserem Denken und Reden. In aller Empörung – wir bleiben dabei: Wir verweigern uns der Verführung zum Hass. Wir verweigern uns der Spirale der Gewalt. Wir werden der kriegslüsternen Herrscherclique in Russland nicht das Geschenk machen, ihr Volk zu hassen.“ (1)

Gnadenworte.

Und suche weiter nach der Gnade.

Und finde sie bei Anna und Ramon, die in Russland auf die Straße gehen und gegen Putin demonstrieren. Und ich finde sie bei Liane, die mich vor einer Woche anruft und von 5 Frauen und 13 Kindern aus der Ukraine erzählt und dass sie für sie Unterkünfte gefunden hat.
Ich finde die so große und so kleine Gnade bei Männern und Frauen in ukrainischen Dörfern, die sich mit bloßen Händen den russischen Panzern entgegenstellen und den russischen Soldaten zu essen geben.
Ich finde die Gnade in den Friedenslichtern, die vor einer Woche auf dem Leopoldplatz entzündet wurde.

VII.
Ist das die Gnade, die du, Paulus meinst?
Die ich annehmen soll, dass sie nicht ohne Wirkung bleibt?
Die Gnade in den Gegensätzen meines Lebens.

Du sagst:
Wir sind vom Tod bedroht, und seht doch: Wir leben!
Wir werden ausgepeitscht und kommen doch nicht um.
Wir geraten in Trauer und bleiben doch fröhlich.
Wir sind arm und machen doch viele reich.
Wir haben nichts und besitzen doch alles!


Und ich stimme ein:

Ich bin erschöpft und doch wach.
Ich habe Angst und klammere mich doch an die kleinen Hoffnungszeichen.
Ich erlebe Krieg und glaube doch und trotzdem an den Frieden.
Ich habe nichts vorzuweisen und habe doch alles -

Denn sie ist ja da, die Gnade, die unendliche Liebe Gottes.
Sie ist da und ich suche weiter nach ihr. Gerade jetzt.
Zusammen mit Jesus.
Amen.


(1) https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/220227_Rede_EKD-Ratsvorsitzende_Kurschus_auf_der_Friedenskundgebung_in_Berlin.pdf