Sonntag, 29. Mai 2022

Wenn die Worte fehlen und du den Boden verlierst

Predigt zu Römer 8

(mit großem Dank an Juliane Rumpel, die - ohne es zu wissen - mein Seufzen über den Predigttext gehört hat und mir mit Ideen und Worten geholfen hat, mir selber eine Predigt zu schreiben, die ich gerade gebraucht habe)


 I.
Manchmal hast du keinen Boden mehr unter deinen Füßen.
Manchmal sitzt du im Keller ohne Ausgang und dir bleibt die Luft weg.
Eine Diagnose. Ein Abschied. Ein Krieg. Ein Virus. Alle Sicherheit ist „futsch“.
Die beste Altersvorsorge, die beste Haftpflichtversicherung,
die beste Ausbildung kann nicht verhindern, dass du vor einem Nichts stehst.

Atmen. Und tief seufzen.

Seufzen geht immer, da braucht man nämlich keine Worte für.
Im Gegensatz zum Beten. Das glauben jedenfalls die meisten:
dass Gebete Worte brauchen, vielleicht sogar besondere Worte.
Dabei stimmt das gar nicht. Beten ohne Worte geht auch.

Manchmal reicht ein Seufzen, so eines aus tiefstem Herzen,
eines, bei dem ich unendlich müde werde und vielleicht ein paar Tränen fließen...
Manchmal ist es aber auch weniger tief, nur so dass ich die Schultern hochziehe...
wie auch immer: Seufzen ist Beten ohne Worte.
Wenn dir der Boden weggerissen ist, hast du keine Worte mehr.
Nur noch Seufzen. Und vielleicht noch nicht mal das.

II.
Ich glaube, so geht es den Jüngern und Jüngerinnen von Jesus gerade*.
Jesus ist gegangen und der Heilige Geist noch nicht gekommen.
Für sie bleibt nur eins zurück: Leere. Bodenlose Leere.
Alles andere als stark, alles andere als wortreiche Beter und Beterinnen.
Eher zaghaft stammelnd, sich irgendwie aneinander klammernd,
warten sie, ob da noch was kommt nach dieser Leere.

Auch Paulus kennt diese Bodenlosigkeit. Und die Menschen, an die er schreibt, auch.
Sie leben in Rom in großer Armut, verdienen mit schwerer Tätigkeit kleines Geld.
Sklaven und Sklavinnen.
Ausgesetzt einer römischen Machtpolitik wissen sie nicht, was morgen sein wird.
Da ist nicht viel Boden, auf dem sie stehen können.

III.
Und an sie schreibt er:
„Der Geist Gottes steht uns selbst da bei, wo wir selbst unfähig sind.
Wir wissen ja nicht einmal, was wir beten sollen.
Und wir wissen auch nicht, wie wir unser Gebet in angemessener Weise vor Gott bringen.
Doch der Geist selbst tritt mit Flehen und Seufzen für uns ein.
Dies geschieht in einer Weise, die nicht in Worte zu fassen ist.
Aber Gott weiß ja, was in unseren Herzen vorgeht. Er versteht, worum es dem Geist geht.
Denn der Geist tritt vor Gott für die Heiligen ein.

Wir wissen aber: Denen, die Gott lieben, dient alles zum Guten.
Es sind die Menschen, die er nach seinem Plan berufen hat.
Die hat er schon im Vorhinein ausgewählt.
Im Voraus hat er sie dazu bestimmt, nach dem Bild seines Sohnes neu gestaltet zu werden.
Denn der sollte der Erstgeborene unter vielen Brüdern und Schwestern sein.
Wen Gott so im Voraus bestimmt hat, den hat er auch berufen.
Und wen er berufen hat, den hat er auch für gerecht erklärt.
Und wen er für gerecht erklärt hat, dem hat er auch Anteil an seiner Herrlichkeit gegeben.


IV.
Wenn du keinen Boden unter den Füßen hast, brauchst du einen, der dich hält.
Wenn du im Dunkeln sitzt, brauchst du eine, die dir die Hand reicht.
Eine, die für dich spricht, für dich betet, für dich seufzt,
für dich sogar schweigt und die ganze Ohnmacht aushält.
Vor Gott musst du nicht die richtigen Worte finden. Und auch keine richtigen Erklärungen.

Und wenn du ehrlich bist, kennt dein Glaube überhaupt keinen festen Boden.
Es ist der Tanz auf einem wackelnden Seil, auf dem dein Fuß keinen wirklichen Halt findet.
Du versuchst die Balance zu halten. Bloß nicht abstürzen.
Wenn du ehrlich bist, gibt es auch in deinem Glauben die Dunkelheit,
die Enge, das Gefühl, keinen Ausweg zu wissen.

Aber sollte es nicht eigentlich anders sein?
Hast du auch wie ich ein anderes Bild davon, wie richtiger Glaube aussieht?
Fester Glaube. Fester Halt. Lichtdurchflutet.
Nichts kann mich umhauen, wenn ich nur richtig glaube?

Nein, sagt Paulus.
Für ihn gehört es zum Menschsein dazu, dass das Leben fragil ist, verletzlich.
Und zum Glauben an den Gekreuzigten erst recht.
Die Balance auf einem Seil, ohne doppelten Boden.
Die Sprachlosigkeit. Das Dunkel. All das gehört zu mir als Christin.

V.
Paulus macht mir Mut, meine Bodenlosigkeit und das Fehlen von Worten zu akzeptieren.
Mir hilft das. Dir auch?

Aber wer bin ich, dass ich überhaupt von Bodenlosigkeit und Dunkel spreche?
In diesen Tagen, da dieser unsägliche Krieg in der Ukraine tobt,
seit drei Monaten dort schon Menschen sterben,
junge Soldaten auf beiden Seiten und Zivilist*innen Tag für Tag ihr Leben lassen müssen,
Mütter in Keller hocken, weinend mit ihren Babys?
Ich sitze in keinem Keller, weine selten,
niemand, den ich kenne, sitzt in einem Keller und zittert schlaflos, weil Fliegeralarm ist...

Und doch: Jeder Mensch hat seinen Keller.
Und vielleicht ist einer dunkler als der andere
und vielleicht sitzt manche kürzer in ihrem Keller als der Nachbar, aber die Keller sind da...
sie tragen bei den meisten von uns nicht den Namen Krieg und Fliegeralarm,
sie heißen anders:

Schlaganfall der Ehefrau heißt ein Keller und nun versuchen sie wieder im Alltag anzukommen,
für beide ist das nicht leicht, alles neu und von jetzt auf gleich alles anders.
Eigentlich wollten sie sich um die Enkel kümmern,
jetzt kümmern sich die Kinder wieder um die Mutter.

Versetzungsgefährdet und 10. Klasse Abschluss, den schafft der nie.
So heißt ein anderer Keller, die alleinerziehende Mutter könnte ihn auch anders nennen.
Sie kommt grad so über die Runden, aber grad wird alles schwieriger.
Dass der Große im September eine Ausbildung anfängt, war ihr große Hoffnung.
Doch nun? Was soll nur werden?

Dass er trinkt, heißt ein anderer Keller. Dass er trinkt, das war schon immer so.
Ob er krank ist, weiß sie nicht, kann sich nicht erinnern an eine Zeit ohne Flasche,
sehnt sich nach einer andern Ehe, hat aber keine Kraft mehr.

Einsamkeit, ein großer Keller, den sich viele teilen ohne einander darin zu begegnen.
Auch und vielleicht gerade hier in diesem reichen Land, das uns manchmal vorgaukelt,
es ginge allen gut und niemand seufzt sich in den Schlaf.

Wie komme ich jetzt wieder da raus?
Aus den Kellern dieser Welt, aus den Kellern der Nachbarschaft, aus meinem eigenen Keller?!

VI.
Paulus gibt eine klare Antwort,
wenn auch nicht auf die Frage, wie man aus dem Keller kommt,
sondern, wie man dort in der Zwischenzeit die Hoffnung nicht verliert:
Denen, die Gott lieben, dient alles zum Guten!

Und das meint nicht, dass dein Leben objektiv betrachtet gut und gelungen sein muss,
es geht nicht um das Job, das Auto, um Haus oder Reichtum oder eine gute Ehe.

Nein, wenn du das, was dir passiert, für das Beste hältst
und wenn es dir gelingt, auch im Keller noch zu seufzen
oder auf das stellvertretende Beten des Geistes zu hoffen,
wenn du nach einer Hand fassen kannst, die dich festhält,
dann liebst du Gott und er liebt dich und du gehörst zu ihm,
und du hast Anteil an seiner Herrlichkeit.

Ich möchte Paulus gerne glauben.
Ich möchte glauben, dass ich aus der Liebe Gottes nicht herausfallen kann.
Dass ich auch im dunklen Keller nicht ohne den Geist Gottes bin,
der mit mir seufzt und Worte stammelt und schweigt.
Ich möchte gerne annehmen, dass es nichts über meinen Glauben aussagt,
ob ich im Keller oder auf einem Seil bin.
Ich will nicht mehr so tun, dass ich nur richtigen Worte finden muss, damit alles gut wird.
Es hängt nicht an mir, ob es gut wird oder nicht, ob ich die Balance finde und einen Ausgang.

VII.
So viele Menschen vor mir haben die Keller ihres Lebens überstanden.
So viele Menschen haben die Balance verloren und sind doch angekommen.
Auch ohne doppeltem Boden.
Die Jünger und Jüngerinnen, Paulus, die Christen und Christinnen in Rom.

Sie haben gemerkt, dass sie letztlich nie ganz allein sind.
Dass es andere gibt, die mit ihnen leiden, zu ihnen stehen, für sie beten.
Sie haben auch gemerkt, dass Gott sie nicht in Stich lässt.
Dass er seinen Geist schickt. Und dieser Geist verbindet sie mit uns.
Auf den Seilen dieser Welt greifen wir nach der einen Hand.  Und wir halten uns gegenseitig.
In den Kellern dieser Welt seufzen wir und beten und hoffen, dass uns da einer rausholt.
Und dieser eine ist Jesus:
Der ist noch tiefer als in den tiefsten Keller gegangen.
Ist auferstanden von den Toten.
Und er nimmt mich mit ans Licht.

Amen.

*es ist der Sonntag "Ex-audi": er steht für die Wartezeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten und in der die Jünger*innen (und damit auch wir) eigentlich überhaupt nicht wissen, was noch passieren wird. Im Grunde stehen die Jünger*innen ziemlich alleine da!

Sonntag, 22. Mai 2022

Die Wahrheit wird euch frei machen

Von Mut und Feigheit, einer befreienden Wahrheit
und dem großen Gelehrten Johannes Reuchlin.

Eine Predigt zu Johannes 8 und zum Reuchlin-Jubiläum
(500. Todestag)

 

I.

Da hat nicht mehr viel gefehlt und die Steine wären geflogen.(1)

Aufgebrachte Männer, vielleicht noch angestachelt durch jede Menge Gerüchte, was die Frau vielleicht noch alles getan habe.

Fake-News. Eins kommt zum anderen.

 

Das Urteil steht fest. Die Ehebrecherin muss gesteinigt werden.

Sie gehen zum Tempel, zu Jesus. Wollen wissen, wie er damit umgeht.

Er kann ja gar nicht anders, als ihnen zuzustimmen.

Sonst würde er ja gegen das Recht verstoßen. Denken sie.  Und irren sich.

 

Jesus macht es ganz geschickt. Er antwortet nämlich nicht sofort.

Mitten in der sehr aufgeheizten Stimmung bückt er sich nieder, schreibt und schweigt. Er geht nicht einfach weg, taucht nicht einfach ab.

Aber er gibt die Mitte frei, indem er sich bückt.

 

Da ist plötzlich Raum für die Wahrheit.

Die Aufgebrachten sehen sich auf einmal in die Augen. Und eine Pause entsteht. Eine Pause zum Nachdenken. Durchdenken. Atmen. Und weiterdenken.

 

II.

Jesus nutzt die entstandene Pause für einen einzigen Satz: 

Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Die berühmten 3 Finger, die zurückweisen, wenn ich mit dem Finger auf andere zeige. Jesus nötigt die Aufgebrachten zum Wechsel der Perspektive: Schaut einmal mit anderen Augen auf die Sache.

 

Und dann bückt sich Jesus wieder herunter und schreibt und schweigt weiter.

Und nun merken die aufgebrachten Männer,  dass sie gefangen waren im Schwarz-oder-Weiß, im Richtig-oder-Falsch, Wir und die - in diesem Ganzen waren sie so gefangen, dass sie das Mensch sein vergessen hatten.  Auch ihr eigenes Mensch sein, das nicht sündenfrei sein kann. 

Jesus hat einen Raum geschaffen, einen Raum für die Wahrheit.

 

III.

Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus ein paar Sätze später.

Die Wahrheit….

Die Wahrheit macht euch frei vom Schwarz-Weiß-Denken, von Hass, von diesem Wir-und-die. Die Wahrheit lässt euch nachdenken, weiterdenken.
Sie nimmt euch die Steine aus der Hand.
Ihr erkennt sie nur, wenn ihr die Perspektive wechselt.

 

IV.

Die vergiften unsere Brunnen!
Die ermorden unsere Kinder und trinken ihr Blut!

Die verhexen unsere Frauen!

Das und noch viel mehr wurde den Juden und Jüdinnen vorgeworfen,
als Johannes Reuchlin lebte.

Bereits 200 Jahre vor seiner Geburt entsteht im 13. Jahrhundert die Pforzheimer Margarethen-Legende. Nach ihr wird eine Kapelle in der Schlosskirche benannt.

Sie erzählt von einem toten Mädchen: es sei von einer alten Frau an die Juden verkauft worden, die töteten es  und warfen es dann in den Fluss - angeblich.

Ein sogenannter Ritualmord und diese Anschuldigung führte dazu, dass der Pforzheimer Rabbiner und seine 3 Söhne hingerichtet wurden.

Solche Verschwörungserzählungen gehen die nächsten Jahrhunderte weiter und heizen die Stimmung immer weiter auf - die Stimmung gegen Juden und Jüdinnen.

Und, ja, hier fliegen Steine. Und noch viel Schlimmeres.


V.

Auch Johannes Reuchlin, 1455 in Pforzheim geboren, ist nicht frei von antisemitischem Argwohn - wie fast alle Humanisten seiner Zeit.

Für ihn sind die Juden zunächst vor allem Missionsobjekte.
Doch zugleich sucht er - wie alle Humanisten - die Wahrheit. Die Wahrheit….

Darum befasst er sich wie kaum ein anderer mit den alten Sprachen. Von seiner Ausbildung her ist Reuchlin eigentlich Jurist. Aber seine Leidenschaft gilt den hebräischen Schriften. In ihnen erschließt sich ihm eine neue Welt.

Und Reuchlin erkennt:
Christen sollen diese Quellen achten, um ihren eigenen Glauben besser zu verstehen.
Und er schreibt:

„Jedes Mal, wenn ich Hebräisch lese, glaube ich Gott selbst zu sehen, der mit mir spricht.
Ich bedenke dann, dass es die Sprache ist,
in der Gott mit den Menschen verkehrt hat.“ (2)

 

VI.

Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus.

1510 ist das Jahr, in dem Reuchlin sich zur Wahrheit bekennt.
Gegen Verleumdung und Verschwörungserzählungen.
Gegen Fake-News der damaligen Zeit.

Ein gewisser Johannes Pfefferkorn behauptet,
Juden verhöhnten den christlichen Glauben und wollten das Reich zerstören.
Er fordert die damalige Obrigkeit auf, die rabbinischen Schriften zu verbrennen
und die Juden aus dem Land zu vertreiben.

Kaiser Maximilian und einige Bischöfe geben Gutachten in Auftrag.
Die Professoren in Köln, Mainz und Erfurt unterstützen Pfefferkorn.
Auch Reuchlin wird um ein Gutachten gebeten.
Und er ist der einzige, der gegenhält.

Er schreibt:

„Man soll die Kommentare der Leute,
die ihre Muttersprache von Jugend auf gründlich gelernt haben,
keineswegs unterdrücken,
sondern, wo immer solche existieren, sie zugänglich machen,
pflegen und sehr in Ehren halten,

als Quellen, aus denen der wahre Sinn der Sprache

und das Verständnis der Heiligen Schrift uns zufließt.

Wir sollen das wahre Wissen weit richtiger an der Quelle

als in den Abflüssen suchen.“

Mit anderen Worten: Schaut genau hin. Wechselt die Perspektive!

„Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!
Die Bücher der Juden enthalten die Lehre des Glaubens.

Damit beleidigen sie keinen anderen Menschen.
In ihrem Glauben sind sie, genau wie die Christen, allein Gott verantwortlich.“

Respektiert, dass andere anders sind.
Respektiert, dass sie einen anderen Standpunkt haben.
Schaut von einem anderen Blickwinkel aus auf die Sache!

„Die Juden sind in Dingen, die ihren Glauben betreffen,
einzig ihresgleichen und sonst keinem Richter unterworfen.“

Gebt ihren Perspektiven den Raum, der ihnen zusteht! Lasst die Juden in Ruhe.

 

Reuchlin macht es wie Jesus.

Er bückt sich und schreibt und gibt Raum zum Nachdenken, zum Weiterdenken.

Raum für die Wahrheit.

Und letztlich setzt sich Reuchlin gegen Pfefferkorn durch.

Die Juden werden nicht ausgewiesen, ihre Bücher nicht zerstört. (Noch nicht....)

 

VII.

Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus.

Die Wahrheit macht euch frei vom Hass.

Sie lässt euch nachdenken, weiterdenken. Nimmt euch die Steine aus der Hand.

Ihr erkennt sie nur, wenn ihr die Perspektive, eure Sichtweise wechselt.

 

Es ist dieser Raum für die Wahrheit, den Jesus geschaffen hat,
als eine Frau verurteilt und getötet werden sollte.
Es ist diese Wahrheit, die Reuchlin erkennt, als sie Juden und Jüdinnen vertreiben wollen.

Reuchlin war ja nicht von Anfang an der mutige Vertreter für die Toleranz gegenüber anderen Religionen. Er betrat diesen Raum der Wahrheit erst nach und nach.
Und so veränderte er seine Haltung.
Aber diese dann gefundene - die behielt er bei, selbst als er angefeindet und bedroht wurde.
Er stellte sich schützend vor Andersgläubige.

Und weil er eine hohe Position als juristischer Berater der Obrigkeit hatte, hörte man auf ihn.

„Ich rate dazu, dass diejenigen, die außerhalb unseres Glaubens stehen,
seien es Juden, Griechen oder Muslime,
durch keinerlei Gewaltmaßnahmen auf unsere Seite gezogen werden dürfen.“


VIII.

Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Wahrheit Jesu.

Die Wahrheit hat den Anklägern der sogenannten Ehebrecherin die Steine aus der Hand genommen. Sie hat Reuchlin frei gemacht, mutig zu schreiben. Die Wahrheit hat ihn befähigt, seine Haltung zu ändern. Neue Sichtweisen einzunehmen.  Sich den Verschwörungsmythen und Fake-News seiner Zeit entgegenzustellen.

Ja, die Wahrheit hat ihm den Blick dafür geöffnet, was auf dem Spiel steht. Dass es nicht nur um bedrucktes Papier oder Pergament geht, sondern um die Freiheit des Denkens und des Glaubens.

Und das ist hochmodern.
Verschwörungsmythen haben wieder Hochkonjunktur.

Es wird von Meinungsdiktatur gesprochen, dabei kann jede ihre Meinung sagen.

Immer wieder ziehen Demos durch Pforzheim und sprechen von westlicher Hetze,
dabei ist es der russische Präsident, der die Ukraine mit Gewalt überzieht.

Und wer in seinem Land gegen den Krieg ist, wird weggesperrt.

In Bremen hetzt ein Prediger gegen gleichgeschlechtlich Liebende
und wird dafür von seinen Fans gefeiert.

Und die Rechtspopulisten hier wollen immer noch eine deutsche Leitkultur einführen

und damit die Vielfalt an Sprachen und Kulturen einebnen.
Sie sprechen von „normal“ und meinen „deutsch“, heterosexuell, weiß.
 

Hier wird Wahrheit verdreht und gebogen. Reuchlin würde sich im Grabe umdrehen.

 

IX.

Und Jesus? Er bückt sich und schreibt und schweigt.
Durchdenken. Atmen. Und weiterdenken.

Jesus gibt den Raum, wo wir die Wahrheit finden. Wo wir uns ansehen als Menschen.
Wo wir uns nicht von Verschwörungserzählungen leiten lassen,
sondern genau hinsehen und sie gemeinsam suchen:
die Wahrheit mit den verschiedenen Perspektiven. 


Es ist manchmal nicht leicht, diese vielen Perspektiven auszuhalten.
Das gilt für die Diskussion um die Waffenlieferungen genauso wie für die um die Impfpflicht. Aber nur so kommen wir die Wahrheit näher.

Jesus bückt sich, damit wir einen neuen Raum betreten,
wo wir anders hinschauen und anders hinhören.
Dort geht es nicht um Rechthaben, sondern darum, Menschen ihr Leben zu ermöglichen.
Dieser Raum ist bunt und angefüllt mit den Sprachen und Religionen dieser Welt,
mit Menschen, die so unterschiedlich leben und lieben,
wie sie sind
und die sich nicht gegeneinander aufhetzen lassen.
Ein Raum, wo wir jedem Menschen würdevoll und respektvoll begegnen.

 

Jesus öffnet den Raum für uns.
Er ist schon längst da, dieser Raum der Wahrheit.

Es ist an uns, ihn zu betreten.
Vielleicht müssen wir uns dafür bücken und eine Pause einlegen oder in den Sand schreiben. Und hoffentlich wissen wir wie Reuchlin, wann wir für die Wahrheit einstehen müssen
und für die Menschen,
die für Macht, Verschwörungen und Fakenews geopfert werden sollen.

Ich bin sicher: wir wissen es dann.
Denn Jesus traut uns das zu.

Oder mit den Worten von Reuchlin,
die er kurz
vor seinem Tod verfasst - quasi sein Vermächtnis:

„Wir legen die Fundamente der Zukunft:
Die Wahrheit wird über der Welt aufgehen,

das Dunkel verschwinden, das Licht wird leuchten.“

Amen.

 

 (1) Johannes 8, 2-11:

2Frühmorgens aber kam Jesus wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.


(2) Die Zitate von Reuchlin (Kursiv und violett) sind diversen Aufsätzen und Zusammenstellungen entnommen.