Sonntag, 25. September 2016

An den Tischen vom Café Himmelreich

(Predigt zum Römerbrief 14,17-19 - gehalten am 25.9.2016, Ort: Altstadtkiche Pforzheim)
 
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.
Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig
und bei den Menschen geachtet.
Darum lasst uns dem nachstreben,
was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.


I.
Im Café Himmelreich ist was los. (1)
Der Kuchen sieht richtig lecker aus.
Kaffeegeruch strömt durch die Kirche.
Leider kann man dann nicht draußen sitzen.
Es wird langsam zu kalt.
Aber im Anbau neben der Kirche ist ja auch Platz.
Die Mitarbeiterinnen haben die Tische liebevoll gedeckt.
Und diesmal kommen noch ein paar mehr als letzte Woche.
Ob auch die alte Dame von der Straße dahinten kommen wird?
Bisher hat sie sich noch nicht so richtig getraut, jedenfalls nicht alleine.
Vielleicht müsste man sie mal abholen?
Und hoffentlich kommt mal die eine Familie mit den 3 Kindern.
Kinderlachen tut den alten Menschen gut.
Und schön, wenn auch zwei oder drei vom Kappelhof (2) da sind.
Und kommen vielleicht sogar zum Essen nächsten Sonntag.
Wenn es warm ist, stoppen auch mal Radfahrer, und trinken einen Kaffee.
Sie schauen dann in die Kirche hinein.
Locker geht es dann zu - fast wie im Urlaub.
Dabei haben nicht gerade wenige ihr „Päckle“ zu tragen.
Ob es die Familie ist, wo der Vater immer noch arbeitslos ist,
oder die alte Dame, die sich nicht mehr aus dem Haus traut.
Oder der alte Mann, der sich Sorgen um seine Tochter macht.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.


II.
Wenn die Vesperkiche im Januar los geht, ist die Stadtkirche rappelvoll. (3)
Kohl und Kartoffeln, Nudeln und Hackfleisch, Reis und Geschnetzeltes -
Kaffee und Apfelkuchen,
Tische mit Schach und Mensch-ärgere-dich-nicht und Malstiften,
in der Sakristei wartet ein Arzt auf den Besuch
und ab und zu kommt auch eine Friseurin.
Jeden Mittag kommen sie:
die alten Frauen, die einsamen Männer, die jungen Familien -
Menschen, deren Heizung zuhause abgedreht wurde,
weil sie sie nicht mehr bezahlen können.
Menschen, die nicht alleine essen mögen.
Menschen, die wissen, dass sie hier akzeptiert werden,
auch wenn ihr Mantel etwas schäbig aussieht,
oder sie immer noch fremd sind.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.


III.
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken.
Also machen wir das Café Himmelreich wieder zu?
Und die Vesperkirche und das Essen nächsten Sonntag brauchen wir auch nicht?
Paulus,
vielleicht kennst du noch nicht die Erzählung von Jesus,
wie er Zachäus vom Baum herunter holt und mit ihm isst und trinkt.
Und am Ende sagt er: „Diesem Haus ist Heil widerfahren.“ 
Oder wie er vom zurückkehrenden Sohn erzählt,
und der bekommt erstmal ein richtiges Festmahl serviert.
„Lasst uns essen und fröhlich sein!“ ruft der Vater und nimmt seinen Sohn in den Arm.
5000 Menschen hören Jesus nicht nur zu, sondern werden auch satt bei ihm.
„Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden,
die zu Tisch sitzen werden im Reiche Gottes“. (Lukas 13,29)

Und selbst wenn du die Worte von Jesus noch nicht kennst, so kennst du doch Jesaja.
Und der verspricht ein Freudenmahl, das Gott mit allen Völkern halten wird.
Ein fettes Mahl wird es geben!
Und du, Paulus, sagst:
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken!

Schau genau hin, sagt Paulus.
Essen und Trinken sind gut. Ja, sogar heilsam.
Aber in der Gemeinde von Rom gibt es Streit.
Da gibt es Gemeindeglieder, die auf Nummer Sicher gehen
und sich an die jüdischen Speisevorschriften halten wollen.
Fleisch, das aus dubiosen Quellen kommt, wollen sie lieber nicht anrühren.

Und es gibt andere Gemeindeglieder,
die diese Nummer Sicher nicht mehr brauchen.
Wir können alles essen, sagen sie.

Und natürlich ist der Ärger vorprogrammiert, wenn es ans gemeinsame Essen geht.
Die einen wollen sich von den anderen nicht bevormunden lassen.
Sie finden das lächerlich, dass die anderen es so genau nehmen.
Die anderen ärgern sich über die Laschen.
„Ungläubig“ sagen sie zu denen.

IV.
Mich erinnert das an die immer wiederkehrende Kopftuchdebatte.
Den einen ist wichtig, dass sie ihren Glauben ernstnehmen.
Sie sind überzeugt, dass das Kopftuchtragen dazu gehört.
(das gibt es übrigens auch unter Christinnen!)
Die anderen finden das lächerlich.
Und sie wundern sich über solche strengen Vorschriften,
und dass Frauen sie auch noch freiwillig befolgen.

Oder der Streit beim Abendmahl: Wein oder Traubensaft?
Für die einen geht das gar nicht, dass ein Abendmahl ohne Wein stattfindet.
Die anderen verstehen das nicht.
Weil es in ihren Augen doch viel wichtiger ist,
dass möglichst alle teilnehmen können, auch Kinder und Alkoholkranke.

Kopftuch oder kein Kopftuch?
Wein oder Saft?
Korrektes Fleisch oder egal?
Allzu leicht bleiben wir bei solchen Fragen hängen.
Allzu leicht verlieren wir das Eigentliche aus dem Blick.
Nämlich, dass wir gemeinsam unterwegs sind.
Dass wir gemeinsam die Welt gestalten.
Dass wir zusammen leben, zusammen feiern, zusammen essen wollen.
Und keiner sollte das Gefühl haben, nicht mehr dazuzugehören,
nur weil er anders tickt.
Oder weil sie anders aussieht, anders spricht, anders glaubt.
Christus hat Mauern eingerissen.
Auch die Mauern der vermeintlichen Wahrheit.
Wir dürfen keine neuen bauen.
Auch nicht zwischen uns.

V.
Paulus sagt:
Mag sein, dass du Recht hast: Es ist nicht egal, was du isst.
Aber der, dem es egal ist, ist trotzdem dein Bruder.
Was sagt denn die Liebe dazu?
Die ist wichtiger,
wichtiger als dein Rechthaben,
also verurteile ihn nicht, sondern überlasse das Urteil Gott.

Paulus sagt:
Mag sein, dass du Recht hast: Es ist egal, was du isst.
Weil Christus dich frei gemacht hat.
Aber die, der es nicht egal ist, ist deine Schwester.
Was sagt denn die Liebe dazu?
Die ist wichtiger, also mach dich nicht lächerlich über deine Schwester.

Paulus sagt:
Mag sein, dass du Recht hast, und ganz korrekt glaubst.
Aber die Liebe ist wichtiger, als deine Rechthaberei.
Es ist wichtiger, dass du im anderen, in der anderen
die Schwester, den Bruder siehst.
Es geht nicht um dich, sondern um euch beide.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.
Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig
und bei den Menschen geachtet.
Darum lasst uns dem nachstreben,
was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.


Achtung! Das ist nicht Friede, Freude, ohne Eierkuchen.
Sondern harte Arbeit.
Denn keiner soll seine eigene Sichtweise verleugnen.

Und dann muss auch mal gestritten werden:
Auf wen muss am meisten Rücksicht genommen werden?
Wer kann sich am wenigsten wehren?
Und wer spielt die Rolle des Benachteiligten besonders perfekt?
(das gibt es ja auch immer wieder...)
Genau hinschauen - auch heftiges Ringen um den richtigen Weg -
das bleibt dir alles nicht erspart.
Doch verzichte darauf, unbedingt gewinnen zu müssen.
Schau vielmehr darauf, was gut ist für alle.
Dann hast du das Reich Gottes im Blick.

VI.
Und am Ende steht dann wirklich eine Festtafel
und an der können alle sitzen.
Der Heilige Geist hat sie schließlich doch zusammengebracht.
Die Safttrinker und die Weintrinker,
die Fleischesser und die Vegetarier,
die Kopftuchträgerinnen und die mit den offenen Haaren.
Auch die, die Angst vor Flüchtlingen haben oder vor Veränderung.
Und alle merken sie, dass es nicht darauf ankommt, wer Recht hat
und was auf dem Tisch steht und was den Kopf bedeckt.
Jeder ist willkommen.

Denn es kommt auf den an, der sie an den Tisch gebracht hat.
Es kommt auf Gott an.

Der Gott, der mit seinem Volk durch die Wüste zieht
und ins Exil geht, in die Fremde.
Der Gott, der die Rechthaber stolpern lässt
und selbst sogar den Dreck eines Stalles nicht scheut.
Der Gott, der die Bettler und Zukurzgekommenen von den Straßen und Zäunen in sein Haus lädt.
Dieser Gott lädt ein, der über Gute und Böse die Sonne aufgehen lässt.
Auch über Fromme und Nicht-so-fromme und über Christen und Muslime.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.


Das Café Himmelreich darf seine Tore öffnen.
Und nächsten Sonntag wird es hier nach dem Gottesdienst ein Essen geben.
Und das ist auch gut so.
Kaffee und leckere Kuchen, schön gedeckte Tische.
Aber so wichtig es ist, dass alles schön und lecker ist.
Das Reich Gottes ist mehr.
Das Reich Gottes ist dort, wo jeder spürt:
ich bin ein Kind Gottes.
Hier darf ich sein.


Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
es ist mehr als Essen und Trinken.
Es fängt da an,
wo die Mitarbeiterinnen sich mit an den Tisch setzen.
Es fängt da an, wo der alte Mann mit den Sorgen um seine Tochter nicht mehr allein ist.
Wo man darüber nachdenkt, wie der Vater eine neue Arbeit bekommt.
Und die Kopftuchträgerin vom Flüchtlingsheim darf das Kopftuch aufbehalten,
wenn ihr danach ist.
Keiner wird draußen gelassen. Die Türen stehen offen!

Ja, da fängt das Reich Gottes an.
Da sitzt man zusammen,
hört sich dann zu,
man streitet und tröstet und stärkt.
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
aber am gemeinsamen Tisch fangen wir an,
das Reich Gottes zu bauen -
miteinander und so wie es gerade geht.
Und der Heilige Geist weht kräftig über die Tische.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, 
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

(1) Das "Café Himmelreich" ist ein Projekt der Altstadtgemeinde in Pforzheim, das seit knapp 1,5 Jahren besteht und ein Bestandteil für die Entwicklung zu einer Diakoniekirche ist.
(2) Der "Kappelhof" ist eine Behinderteneinrichtung der Caritas in unmittelbarer Nähe zur Altstadtkirche.
(3) Die Vesperkirche wird ökumenisch getragen, ehrenamtlich geleitet und findet jährlich von Mitte Januar bis Mitte Februar in der benachbarten großen Stadtkirche in Pforzheim statt.

Sonntag, 11. September 2016

Meinen Hass bekommt ihr nicht - Predigt gegen den Geist der Furcht

Predigt zu 2.Timotheus 1,7-10 - gehalten in der Stadtkirche in Pforzheim


I.
Jeden Mittwoch treffen sich geflüchtete und einheimische Menschen im Weltcafé.
Hier in Pforzheim am Schlossberg.
Ehrenamtliche und Ratsuchende.
Deutschsprechende und Deutschlernende.
Auch an der Kegelbahn unter der Matthäuskirche kommen junge Erwachsene zusammen:
welche, die hier geboren sind, und welche aus Syrien oder aus dem Irak.
Jeden Freitag. Einfach so. Reden. Spielen. Sich begegnen.
Auch nach Ansbach und Würzburg. Auch nach Nizza und Paris.
Nicht nur auch - gerade deshalb.
Und obwohl sich der Geist der Furcht ausbreitet und alles beherrschen will.
Aber: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht...

II.
Es liegt am Wesen des Angst-Geistes, dass er die Oberhand haben will.
Man kann mit dem Geist der Furcht Wahlen gewinnen,
Menschen jagen, Zivilisten bombardieren
und dafür sorgen, dass aus einem „Wir schaffen das“ ein „Merkel muss weg“ wird.
Der Geist der Furcht war schon seit jeher geeignet,
Menschen so sehr einzuschüchtern, dass sie auf billige Parolen hereinfallen.
Im Mittelalter war es die Angst vor der Hölle und vor dem Teufel.
Im dritten Reich war es die Angst vor den Juden und den Bolschewiken,
im kalten Krieg die Angst vor dem Kommunismus
oder auf der anderen Seite vor dem Kapitalismus.
Man jagte Hexen und Waldenser und Täufer,
Juden und Homosexuelle,
Kommunisten und Mauerflüchtlinge.
Seit 9/11 vor 15 Jahren wird Angst gegen den Islam geschürt,
und seit 2 Jahren wieder Angst gegen Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Hunger fliehen.
Dieser Geist wirft sämtliche Menschlichkeit oder Nächstenliebe über Bord.
Fliehende Menschen sollen wieder selektiert werden
zwischen kultureigener und kulturfremder Herkunft. (1)
Der Geist der Furcht hat gerade richtig viel Auftrieb und sorgt für Kälte.
Aber: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht....

III.
Furcht zu haben ist auch nicht nur falsch.
Denn das, was mich kaputt machen kann, ist ja gefährlich.
Der Tod ist beängstigend.
Gewalt macht Angst.
Krieg und Terror, blinder Hass - das ist alles zum Fürchten.
Aber ich will mich nicht von dieser Furcht beherrschen lassen.
Irgendwann fängt die Furcht an, mein Denken zu benebeln.
Der Moment, wo Liebe und Besonnenheit keinen Platz mehr haben,
Und der Punkt, wo die Furcht mich kraftlos macht - mutlos - ideenlos...

IV. (2)
Anfang 2. Jahrhundert.
Timotheus und seine Gemeindeglieder sind besorgt.
Wem sollen sie noch glauben?
Paulus ist schon lange tot.
Immer wieder kommen neue Lehrer in die Gemeinde.
Und sorgen für große Unruhe.
Droht vielleicht sogar eine Spaltung der Gemeinde? 
Außerdem bekommt die Gemeinde immer mehr Schwierigkeiten.
Sie fallen auf.
Je mehr Menschen sich zu ihnen bekennen,
und je mehr ihr Glaube öffentlich wird,
desto mehr müssen sie um ihre Sicherheit fürchten.
Droht uns das gleiche Schicksal wie Paulus?
Und sie halten sich fest an den Worten aus einem Brief,
den sie von einem Schüler von Paulus bekommen haben:

V.
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn
noch meiner, der ich sein Gefangener bin,
sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.
Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf,
nicht nach unsern Werken,
sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade,
die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt,
jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus:
Er hat dem Tode die Macht genommen
und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht
durch das Evangelium.
(2.Timotheus 1,7-10)


VI. (3)
Keine Furcht, sondern: Kraft, Liebe, Besonnenheit!
Beschenkt mit Gottes Geist - seit es mich gibt.
Und dieser Geist ist nicht irgendeiner
und schon gar keiner, der mich und andere das Fürchten lehrt.

Aber er ist eine Kraft, die mich bewegt.
Mich durchpustet und die Furcht aus unseren Herzen bläst.
Dieser Geist krempelt mich um.
Öffnet mir neue Perspektiven. Lässt mich hinstehen.
Lässt mich nicht nur Risiken, sondern auch die Möglichkeiten sehen,
doch ohne einfach blind drauflos zu fliegen.
Gott schenkt mir und dir mit seinem Geist
einen Denkraum ohne Angst.

Dieser Geist ist Liebe.
Ohne Liebe wird die Kraft blind
und verliert das Menschliche aus den Augen.
Liebe beginnt mit dem Hinsehen,
hin zu dem einzelnen Gesicht, das dich fragend anschaut.
Von dort aus sehen auch die großen Zahlen und Tabellen, die uns Angst machen, anders aus.
Liebe setzt sich dann fort
mit den kleinen, liebevollen Geschichten, die wir erzählen sollten,
Und damit, dass wir aufeinander zu gehen.

Und dieser Geist ist Besonnenheit.
Liebe kann blind machen.
Da braucht sie Besonnenheit, die sieht, die aufpasst, die hinschaut.
Nüchtern schauen, was jetzt der Fall ist.
Zahlen und Tabellen besonnen lesen und deuten.
Unaufgeregt zur Kenntnis nehmen, was jetzt zu tun ist.
Auch erkennen, dass das wir noch einen steinigen Weg vor uns haben.
Und deshalb den langen Atem einer liebevollen Besonnenheit brauchen.

VII.
Ein besonnener Mensch unserer Tage ist für mich Antoine Leiris.
Er hat seine Frau beim Anschlag im November 2015 in Paris verloren.
Er ist kein religiöser Mensch. Aber er schreibt:
„Es hätte auch ein Verkehrsrowdy sein können, der zu spät gebremst hätte,
ein Tumor, der ein bisschen bösartiger gewesen wäre als die anderen
oder eine Atombombe – entscheidend ist, dass sie nicht mehr da ist.
Die Waffen, die Kugeln die Gewalt,
all das ist nur Kulisse für die Szene, die sich eigentlich abspielt: ihr Fehlen.
(…) Wenn man einen Schuldigen zur Hand hat,
jemanden, auf den man seinen Zorn richten kann,
dann ist das wie eine halb offene Tür,
eine Möglichkeit, seinem Leid auszuweichen.
Und je abscheulicher das Verbrechen,
desto idealer der Schuldige,
desto legitimer der Hass. (4) 

Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.
Auch wenn ihr euch sehr darum bemüht habt;
auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten,
derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid.
Ihr wollt, dass ich Angst habe,
dass ich meine Mitbürger mit misstrauischem Blick betrachte,
dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere.
Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel. (...)
Selbstverständlich frisst mich der Kummer auf,
diesen kleinen Sieg gestehe ich euch zu,
aber er wird von kurzer Dauer sein. (...)

Wir sind zwei, mein Sohn und ich,
aber wir sind stärker als alle Armeen dieser Erde.
Ich will euch jetzt keine Zeit mehr opfern,
ich muss mich um Melvil kümmern, der gerade von seinem Mittagsschlaf aufwacht.
Er ist gerade mal 17 Monate alt;
er wird seinen Brei essen wie jeden Tag,
dann werden wir gemeinsam spielen wie jeden Tag
und sein ganzes Leben wird dieser kleine Junge euch beleidigen,
indem er glücklich und frei ist.
Denn nein, meinen Hass bekommt ihr nicht und den meines Sohnes auch nicht. (5)

VIII.
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen
und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht
durch das Evangelium.


Der Geist Gottes ist bereits da.
Du musst ihn nicht erarbeiten.
Die Macht des Todes ist gebrochen.
Der Tod meldet sich mit seinem Geist der Furcht zwar immer wieder zurück.
Aber gib ihm nicht den Raum, den er beansprucht.
Sondern gib Raum dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.
Ich muss sterben, dichtet Dorothe Sölle,
aber das ist auch alles, was ich für den Tod tun werde.

Darum taufen wir Kinder und Erwachsene. (6)
Darum feiern wir Gottesdienst und singen wir Loblieder.
Darum nehmen wir Fremde auf
und lassen uns nicht verrückt machen vom Geist der Furcht.
Darum schaffen wir das auch, mit Liebe dem Hass zu begegnen.
Der Geist hilft uns dabei.

IX.
Als Mitte der 60er Jahre das Politbüro der DDR versucht hat,
aufmüpfige Stimmen zum Schweigen zu bringen,
schrieb Wolf Biermann ein Gedicht mit dem Titel „Ermutigung“.
Du lass dich nicht verhärten - singt er.
Du lass dich nicht verbittern - ruft er.
Du lass dich nicht erschrecken.
Und in der letzten Strophe:
Wir woll‘n es nicht verschweigen
in dieser Schweigezeit
Das Grün bricht aus den Zweigen
wir woll‘n das allen zeigen
dann wissen sie Bescheid.

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen
und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht
durch das Evangelium.


Amen.

(1) So zur Zeit die Forderung der CSU (siehe z.B. http://www.sueddeutsche.de/politik/bayern-csu-will-vorrang-fuer-zuwanderer-aus-christlich-abendlaendischem-kulturkreis-1.3153027)
 (2) Für die Anregungen zu folgendem Abschnitt Danke an Sina Kaiser
(3) Danke an Silke Wolfrum und Juliane Rumpel für einige Formulierungen im folgenden Abschnitt
(4) aus Antoine Leiris, Meinen Hass bekommt ihr nicht, S.34-36
(5) ebd., S.59-61
(6) Vor der Predigt wurde ein kleines Mädchen getauft.