Mittwoch, 29. November 2017

Kirche muss unterbrechen

Rede im Haus der Begegnung, Ulm (27.11.2017)


(auf Einladung der Verantwortlichen für dieses Haus habe ich diesen Vortrag gehalten im Rahmen eines Symposions, das die Überlegungen zum Umbau des Hauses begleiten soll. Für mich war das ein willkommener Anlass über die Aufgabe des Unterbrechens nachzudenken. Ich bin damit noch lange nicht fertig...)

1.
Unterbrechen - das ist die Aufgabe der Kirche.
Unterbrechen.
Mehr nicht?
Ich finde das schon sehr viel.
Wenn wir es ernstnehmen. Und damit ernst machen.

Unterbrechen als Aufgabe der Kirche -
auf diese Idee hat mich mein Landesbischof gebracht.
Mit einer Bibelarbeit zu einer Szene, von der nicht ganz klar ist,
ob sie ursprünglich zum Johannesevangelium gehörte oder nicht,
die dennoch aber nicht mehr wegzudenken ist.
Es geht um Jesus und die Ehebrecherin.

Sie befindet sich im 8.Kapitel:
Jesus befindet sich im Tempel und lehrt.
Aufgebracht bringt eine Gruppe von Schriftgelehrten und Pharisäern eine Frau mit,
ich vermute mal, dass sie nicht freiwillig mitgekommen ist.
Sie bauen sich vor Jesus auf und sagen:
diese Frau hat Ehebruch begangen.
Nach dem Gesetz muss sie gesteinigt werden. Was sagst du?

Jesus bückt sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde.
Die zornigen Männer reden weiter auf ihn ein.
Er richtet sich auf und spricht dann den berühmten Satz:
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 

Dann bückt er sich wieder, schreibt weiter auf die Erde.
Die aufgebrachte Menge geht weg.
Zurück bleiben Jesus und die Frau.
Er richtet sich wieder auf,
fragt, wo die anderen sind und ob einer sie verdammt habe.
Sie verneint.
Und Jesus sagt: dann verdamme ich dich auch nicht.
Geh und sündige nicht mehr.

2.
Jesus unterbricht.
Mitten in der sehr aufgeheizten Stimmung
bückt er sich nieder und schreibt und schweigt.
Eigentlich kann Jesus gar keine richtige Antwort geben.
Er kann nur falsch antworten.
Sagt er: nein, die Frau soll nicht gesteinigt werden,
stellt er sich auf die Seite von Gesetzesbrechern.
Sagt er: ja, sie soll gesteinigt werden,
widerspricht er allem, was er bis dahin gepredigt und gelebt hat.
Jesus sitzt zwischen allen Stühlen.

Und unterbricht.
Er geht nicht einfach weg, taucht nicht einfach ab.
Aber er gibt die Mitte frei, indem er sich bückt.
Dadurch sehen sich die Aufgebrachten auf einmal in die Augen.
Und eine Pause entsteht.
Eine Pause zum Nachdenken.
Durchdenken. Atmen. Und weiterdenken.

Tun die Aufgebrachten das? Nachdenken?
Vielleicht noch nicht sofort.
Vermutlich sind sie erstmal nur perplex. Und überrascht.
Doch Jesus nutzt die entstandene Pause für einen einzigen Satz.
Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Er spielt den Ball zurück.
Die Umstehenden sollen sich nicht nur gegenseitig sehen,
sondern auch auf sich selbst.
Die berühmten 3 Finger, die zurückweisen,
wenn ich mit dem Finger auf andere zeige.
Jesus nötigt die Aufgebrachten zum Wechsel der Perspektive.
Ihr seid aufgebracht.
Ihr seht nur noch schwarz oder weiß
und merkt zugleich, dass das der Wirklichkeit nicht gerecht wird.
Nun sucht ihr eine einfache Antwort.
Schaut einmal mit anderen Augen auf die Sache.
Und dann merkt ihr: es gibt keine einfache Antwort.

Und dann unterbricht Jesus nochmal.
Bückt sich wieder herunter und schreibt und schweigt weiter.
Die Mitte ist wieder frei.
Raum zum Nachdenken und Weiterdenken.

Doch diesmal kommt Bewegung in die Sache.
Die aufgebrachten Männer merken,
dass sie gefangen waren im Schwarz-oder-Weiß,
im Richtig-oder-Falsch -
und Hauptsache, wir machen alles richtig
und lassen uns nichts zu schulden kommen.
In diesem ganzen waren sie so gefangen,
dass sie das Mensch sein vergessen hatten.
Auch ihr eigenes Mensch sein.
Das ist nämlich genauso wenig sündenfrei wie das der Ehebrecherin.

Ja, Jesus hat Raum geschaffen durch seine Unterbrechung.
Und es kam Bewegung in die Sache.
Heilsame Bewegung.
Denn auch die Ehebrecherin kann einen neuen Weg gehen.

3.
Unterbrechung - die brauchen wir.
Nötiger denn je.

Arbeiten, Termine, Besprechungen.
Nachrichten rund um die Uhr und aus allen Ecken der Welt.
Terroranschläge. Vulkanausbrüche. Überschwemmungen.
Dax-Kurs. Aktien. Flüchtlinge im Mittelmeer. Scheiternde Koalitionsverhandlngen.
An Sonntagen besondere Verkaufsaktionen. Black Friday auch in Deutschland.
Mails und WhatsApp und ein dringender Gesprächstermin.

Perfekt wollen wir sein. Keine Fehler machen.
Und wir als Kirche machen da mit.
Ich auch.
Die Verwaltung meines Kirchenbezirks ist hoffnungslos überlastet.
Die Pfarrer und Pfarrerinnen
und Gemeindediakone und -diakoninnen
wissen nicht mehr, wie sie ihre Arbeit bewältigen sollen.
Und wir spiegeln damit nur wieder,
wie es den meisten Menschen in Deutschland geht.
Ich kenne eigentlich kaum jemanden,
der - wenn er eine Arbeit hat - nicht mehr hinterher kommt.
Die einzigen Unterbrechungen, die wir uns erlauben, sind Urlaub
oder Krankheit.

Wir brauchen die Unterbrechung.

Populismus ist das Schüren von Ängsten.
Ein Horrorszenario wird ans andere gereiht.
So bleibt die Luft weg.
Und man meint, einfachen Parolen hinterherrennen zu können.
Fake-News nähren die Angst.
Die Like-Klicks und Clickbaits feuern noch zusätzlich an.
Das Karussell des Populismus dreht sich immer schneller.
Und die, die nicht mitmachen, stehen hilflos vor diesem Karussell
und wissen nicht, wie sie es stoppen können.

Wer weiß es schon wirklich?
Auslachen? Ein Mahnmal im Nachbargarten eines Höcke aufbauen?
Mit Rechten reden? Ignorieren? Ernstnehmen?
Alles das kursiert in den Köpfen derer,
die dem Populismus, besonders dem Rechtspopulismus nicht auf den Leim gehen.
Sie möchten dem Rad in die Speichen greifen (Bonhoeffer),
das Karussell anhalten.
Aber es macht auch sie schwindlig.

Wir brauchen die Unterbrechung.

Pforzheim, wo ich lebe, hat ein enormes Haushaltsdefizit.
Die Gemeinderäte wissen nicht, wie sie es bewältigen können.
Es gibt einen neuen Oberbürgermeister.
Gewählt von vielen, die Pforzheim vor allem als bürgerliche Stadt sehen.
Und so sind die ersten Maßnahmen für Ordnung und Sicherheit da
und für 30 Minuten freies Parken in der Innenstadt.
Dafür wurde er gewählt.
Aber was ist mit den Kindern, die unter Armut leiden?
Über 20% sollen es in Pforzheim sein.
Ja, und der Gedenktag für die Zerstörung der Stadt am Ende des 2.Weltkriegs
soll wieder still werden.
Kein Protest gegen die Instrumentalisierung,
die durch Rechtsextreme auf dem Wartberg stattfindet,
soll die Ruhe  stören.

Wir brauchen die Unterbrechung.
Nötiger denn je.

.... (Jazz-Musik)

4.
Wir brauchen die Unterbrechung.
Den Raum zum Nachdenken und Weiterdenken.
Den Blickwechsel zwischen denen auf der anderen Seite und mir.
Wir brauchen einen Freiraum,
der entsteht, weil einer in den Sand schreibt.
Der uns eine Pause verschafft
und uns irritiert
und fragend stehen lässt.
Ja, stehen und mal nicht rennen.
Oder meinetwegen auch mal aufs Sofa setzen.
Auf jeden Fall Halt machen.
Stopp. Still sein. Nachdenken.
Steine weglegen.
Neue Wege denken. Neues schmecken. Neues malen.
Neues schreiben.
Oder sogar das Neue unterbrechen.

Gott ist die Unterbrechung.
Er unterbricht die Woche am 7.Tag
und hält das Meer auf, damit es die Israeliten in Ruhe lässt.
Er zieht dem Mose die Schuhe aus
und hält ihn eine halbe Ewigkeit auf dem Sinai fest,
damit er die 10 Gebote in Stein hauen kann.

Gott begegnet dem Elia als sanftes Säuseln
und durchbricht damit den Lärm.

Gott kommt als ein Kind in den Stall
und unterbricht die Nacht.

Ein junges lediges schwangeres Mädchen singt von der großen Unterbrechung des Lebens.
Und ihr Sohn wird die Barmherzigen und Traurigen und Sanftmütigen selig preisen -
ausgerechnet die.
Ja, ein leidender, mitleidender Gott...
Er -
Tritt an die Seite der Gebrochenen.
Und lässt seine Liebe gewinnen.

Gott ist die Unterbrechung.
Er unterbricht alles, was Menschen bricht,
und schafft neue Räume und Dimensionen und Wege.

5.
Ich will, dass wir uns davon inspirieren lassen.
Dass wir es wie Jesus machen und -

- unterbrechen.

Was könnte dann geschehen?
Wenn wir uns und andere unterbrechen und uns unterbrechen lassen?
Das sind keine rhetorischen Fragen, auf die ich schon längst eine Antwort habe.
Diese Fragen unterbrechen mich selber in meinen Selbstverständlichkeiten
und ich würde gerne darüber mit Ihnen nachdenken.
Und nicht sofort daran denken müssen,
ob das vernünftig, effektiv, zukunftsweisend oder theologisch richtig ist.
Und ob es gut für Ihre Überlegungen für das Haus der Begegnung ist.

6.
Denken wir doch gemeinsam darüber nach:
Was könnte geschehen, wenn wir unterbrechen?
Und uns unterbrechen lassen?
Wenn wir also tun, was Jesus tut.

Vielleicht wären wir dann nicht mehr so perfekt, aber menschlicher.
Wir würden auch unseren Schwächen und Fehlern ihren Raum geben,
weil sie zu uns gehören und uns so unverwechselbar machen.
Und wir würden endlich Gottes Gnade ernstnehmen.

Vielleicht würden wir uns mehr und ernsthafter mit Modellen beschäftigen,
die die Arbeit menschenfreundlicher gestalten
und in denen niemand sich verbiegen muss, um anderen zu gefallen.
Und wir könnten diese Modelle ausprobieren - gerade in der Kirche.
Und davon dürfen auch einige scheitern.

Oder wir würden einfach nur nichts tun.
Einen Raum mit Sand befüllen, uns hinhocken und in diesen Sand schreiben.
Worte, die mit einer Handbewegung weggewischt werden
und dennoch wichtig sind.

....

Was könnte geschehen, wenn wir unterbrechen?

Vielleicht würden wir Räume schaffen für die Opfer von Populismus und Gewalt.
Die Fremden, die Aufrechten, die Widerständigen, die Andersgläubigen.
Für sie.
Wir würden sie beherbergen, ihnen zuhören
und sie ins Zentrum rücken und nicht die Täter.

Und wir würden eine sehr bunte Gegenwelt erdenken -
eine Gegenwelt zu den ganzen Horrorszenarien,
säkulare Zukunftsforscher einladen
und darüber nachdenken,
wie wir diese Gegenwelt Wirklichkeit werden lassen.
In dieser Welt wäre Platz für all die Sinners and Saints (Nadia Bolz-Weber),
die wir sonst so leicht ausschließen und mit Steinen bewerfen.

....

Was könnte geschehen, wenn wir unterbrechen?

Vielleicht würden wir aufhören, uns in unserer bürgerlichen Nische wohlzufühlen.
Vielleicht wären Sicherheit und Ordnung nicht mehr so wichtig,
aber stattdessen Kreativität und Phantasie und durchaus auch mal etwas Chaos.
Die Steine aus der Hand legen.
Und dafür bunte Papierflieger in die Hand nehmen oder Graffitispraydosen.
Mal Rapper und Punker zu Wort kommen lassen, auch hier.
Und statt eines entweder-oder ein Und proklamieren -
und wenigstens in unseren kirchlichen Räumen das auch leben.

Kann sein, dass wir dann noch lauter und unbequemer werden
für die, die sich nicht stören lassen wollen.
Und wir nennen das, was unrecht ist und den Frieden kaputt macht, beim Namen.
Wahrscheinlich würden wir damit auch einige verärgern, bestimmt sogar viele.
Aber vielleicht muss das dann so sein?
Vielleicht?

....

7.
Vielleicht ist das alles auch gar nicht so neu.
Nein, ist es nicht.
Mir fallen viele heilsame Unterbrechungen ein, die es schon gibt:
die Atelierkirchen zum Beispiel.
Oder das House of One in Berlin
oder in Pforzheim das Sonntagscafé mit Flüchtlingen und Studierenden,
die jetzt anfangen, zusammen Musik zu machen.

Das ist nicht alles neu.
Aber bisher sind es nur (nur?) Nischen der Unterbrechung.
Wichtig, ermutigend, inspirierend.
Wie können wir diese Nischen öffnen?
Oder muss vielleicht noch nicht mal das sein?

Jede Unterbrechung ordnet die Wirklichkeit neu.
Wenn der Raum zum Nachdenken und Weiterdenken größer wird
und den Blick freigibt auf die anderen und auf mich.
Und das möchte ich ermöglichen -
und ich möchte, dass meine Kirche das ermöglicht.
Ich möchte, dass meine Kirche unterbricht.
Mich. Die Aufgebrachten. Die Bequemen. Die Ängstlichen.
Und ganz besonders die, die glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben
und damit andere klein machen.
Ja, auch die soll meine Kirche unterbrechen.

8.
Ich will, dass wir unterbrechen.
Ordnen wir die Wirklichkeit neu.
Unterbrechen wir, wo es nur noch schwarz oder weiß gibt.
Ja oder nein. Oder gut und böse.

Unterbrechen wir,
wo unterschieden wird zwischen „die gehören dazu“ und „die nicht“.
Greifen wir dem Rad in die Speichen, wo Menschen ausgeschlossen werden.

Fragen wir, wo die Antworten allzu schnell kommen
und keine Rücksicht auf Minderheiten nehmen.
Fragen wir - denn auch das ist Unterbrechung.

Unterbrechen wir, indem wir auch mal unhöflich sind
und bei allzu geschliffenen Sätzen lachen.
Sagen wir laut, dass der Kaiser nackt ist und keine Kleider anhat,
auch wenn er es behauptet.

Und unterbrechen wir die Spirale des „Das ist nun mal so“
oder des „Das geht nicht anders“.
Es geht fast immer anders.
(und dieses Anders darf auch Spaß machen)

Wir brauchen die Unterbrechung.
Wir brauchen den freien Raum.
Und wir brauchen einen, der sich bückt
und in den Sand schreibt.
Der unseren Blick auf die Welt verändert,
uns mit in die Welt nimmt
und die Steine aus der Hand.

Und darum unterbreche ich nun zum letzten Mal meine Rede.
Sie hat genug Worte und ist noch lange nicht zu Ende.

Aber denken wir doch nun gemeinsam darüber nach:
Was könnte geschehen, wenn wir es wie Jesus machen:
Wir unterbrechen und wir lassen uns unterbrechen. Was dann?




Sonntag, 19. November 2017

Ausbrechen aus dem "Ich kann nicht anders"

Von einem mutigen Mädchen, einem ehrlichen Wissenschaftler und einem klugen Verwalter
Predigt zu Lukas 16,1-8 - gehalten am 19.11.2017 in Mühlhausen

Es war ein reicher Mann, der hatte einen Verwalter;
der wurde bei ihm beschuldigt, er verschleudere ihm seinen Besitz.
Und er ließ ihn rufen und sprach zu ihm:
Was höre ich da von dir?
Gib Rechenschaft über deine Verwaltung;
denn du kannst hinfort nicht Verwalter sein.
Da sprach der Verwalter bei sich selbst:
Was soll ich tun?
Mein Herr nimmt mir das Amt;
graben kann ich nicht,
auch schäme ich mich zu betteln.
Ich weiß, was ich tun will,
damit sie mich in ihre Häuser aufnehmen,
wenn ich von dem Amt abgesetzt werde.
Und er rief zu sich die Schuldner seines Herrn, einen jeden für sich,
und sprach zu dem ersten: 

Wie viel bist du meinem Herrn schuldig?
Der sprach: Hundert Fass Öl.
Und er sprach zu ihm:
Nimm deinen Schuldschein, setz dich hin und schreib flugs fünfzig.
Danach sprach er zu dem zweiten:
Du aber, wie viel bist du schuldig?
Der sprach: Hundert Sack Weizen.
Er sprach zu ihm: Nimm deinen Schuldschein und schreib achtzig.
Und der Herr lobte den ungerechten Verwalter, 

weil er klug gehandelt hatte.
Denn die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger 

als die Kinder des Lichts.

I.
Ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht anders.
Der dumme Spruch in der Whatsapp-Gruppe war schnell geschrieben.
Diese fette Kuh, wer will die schon anfassen? Eklig.
Nadja hatte sofort ein schlechtes Gewissen.
Aber wenn ich nicht mitmache, bin ich draußen.
Und bevor es noch mich erwischt?
Am nächsten Tag konnte sie ihrer Tischnachbarin nicht in die Augen sehen.

Ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht anders.
Der junge Soldat bekam die Waffe in die Hand gedrückt und schoss.
Alte. Kinder. Frauen. Männer. Juden und Jüdinnen im tiefen Osten Europas.
Und in der Nacht dann die Albträume. Das Gewissen plagte.
Aber bloß nicht darüber reden.
Am nächsten Tag ging es weiter.
Schnell noch einen Brief an die Familie zuhause schreiben.
Er vermisste seine kleine Tochter sehr.

II.
Ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht anders.
Eine 15jährige Dresdnerin sah das nicht so.
Emilia heißt sie. Kind dieser Welt.
Ich KANN anders. Und HABE die Wahl.
Emilia ertrug es nicht mehr, dass ihre Klassenkameraden antisemitische Sprüche klopften.
Über den Tod von Millionen ermordeten Juden machten die sich lustig.
Hört auf, schrieb sie in der Whatsapp-Gruppe.
Aber keiner hörte auf. Und die Lehrer schritten nicht ein.
Also nutzte sie ihre gesetzlichen Möglichkeiten.
Sie zeigte ihre Mitschüler an.
Ich KANN anders. Es ist noch nicht zu spät.
Ich will mir noch in die Augen schauen können.

Doch sie zahlt ihren Preis. Der Shitstorm ist unbeschreiblich.
Denunziantin! Petze! Das sind noch die harmlosesten Beschimpfungen.
Und ich bin sicher, dass sie auch in der Klasse nun einen schlechten Stand hat.
War es das wert?
Haben sich ihr dennoch Häuser geöffnet? Und Herzen?

III.
Du HAST eine Wahl. Du KANNST anders.
Und es gibt kein Zuspät.
Jedenfalls nicht bei Jesus.

Jesus sitzt im im Haus eines Pharisäers.
Seine Freunde und Freundinnen sind bei ihm.
Vom Verlorenen erzählt er,
von einem entlaufenen Schaf;
von einem Sohn, den es in die Ferne zog;
von ein paar Groschen, die eine Witwe verlegt hatte.
Ja, sie sind Kinder dieser Welt, machen Fehler und bauen Mist.
Aber sie machen auch viel gut. Und das ist viel wichtiger.

Und dann erzählt er von einem Verwalter, auch einem Kind dieser Welt.
Auch er hat Mist gebaut und wird deswegen von seinem Chef einbestellt.
Alles ist vorbei. Denkt er.
Das weiß ich genau.
Was mach’ ich denn jetzt?

IV.
Normalerweise würde ein Mann in seiner Lage die Fehler noch schnell ausmerzen.
Bilanzen fälschen. Aus dem Minus ein Plus machen.
Oder die Schuld auf andere schieben.
Auf die Schuldner, die ihn angeblich übers Ohr gehauen hätten.
Oder die Untergebenen, die falsch rechneten.
Oder die Regierung, die mit ihren hohen Steuern zum Betrug zwingt.
Ja, normal ist es, am Ende doch selbst noch gut da zu stehen.
Ich konnte nicht anders.
Die anderen sind schuld.
Ich bin nur mitgelaufen.
Diese Sätze kenne ich von mir nur zu gut.
Auch aus der Geschichte.

V.
Gott sei Dank hält sich Jesus nicht daran, was normal ist.
Du kannst nicht anders, gibt es nicht bei ihm.
Doch, du kannst. Und du darfst.
Das Verlorene musst du nicht verloren geben.
Du bist nicht festgelegt auf deine Vergangenheit.
Und auf das, was die anderen von dir erwarten, auch nicht.
Du kannst ausbrechen.
Und wenn es erst im letzten Moment ist.
Oder im vorletzten.

VI.
Soll ich weitermachen, fragte Rainer Moormann seine Frau.
Vor 10 Jahren war das,
da wies Moormann schon ein Jahr lang auf ein schwerwiegendes Sicherheitsproblem im Forschungszentrum Jülich hin.
Die Kugelhaufenreaktoren sind nicht sicher genug:
Ein Leck im Reaktor würde ausreichen,
damit der radioaktive Staub im Innenraum des Reaktors austritt.
Moormanns Kollegen und Vorgesetzte hielten seine Warnungen für Quatsch.
Doch er stocherte weiter und erneuerte seine Vorwürfe
Dafür zahlte er einen hohen Preis:
Kollegen bezeichneten Moormann als verrückt,
seine Arbeitsgruppe wurde aufgelöst,
im Büro saß er plötzlich allein.
Der promovierte Chemiker wurde von einer Stelle auf die andere geschoben.
Als sein Arbeitgeber ihn schließlich fallen ließ,
informierte er die Öffentlichkeit.

Drei Jahre später gab das Forschungszentrum Jülich schließlich bekannt,
die Forschung an den Kugelhaufenreaktoren einzustellen.
Zu dem Zeitpunkt arbeitete Moormann schon nicht mehr in Jülich,
Er war im vorgezogenen Ruhestand.
Durch den vorzeitigen Ruhestand habe er einige Hundert Euro weniger an Rente.
"Aber das ist der Preis, den ich dafür zahlen muss", sagt Moormann.
Er kann sich wieder in die Augen schauen.

VII.
Du KANNST noch anders. Du hast die Wahl.
Du kannst deiner Tischnachbarin sagen, dass es dir Leid tut,
was du geschrieben hast.
Und in der Whatsappgruppe,
dass es nicht in Ordnung ist, sowas zu schreiben.
Es kostet Überwindung.
Ja. Und wie.
Vielleicht zahlst du auch den Preis wie Emilia.
Aber du kannst dir wieder in die Augen schauen,
wenn du in den Spiegel blickst.
Und deiner Nachbarin auch.

Und es GAB die Soldaten im 2.Weltkrieg,
die nicht auf Zivilisten geschossen haben.
Ja, es gab sie.
Es gab die Befehlsverweigerer, die nicht alles mitgemacht haben.
Sie haben alles riskiert und wurden beschimpft.
Oder degradiert. Oder schlimmer.
Und wenn heute immer noch behauptet wird,
dass man ja nicht anders konnte,
dann schlägt man gerade diesen Soldaten, die anders konnten,
nochmal mitten ins Gesicht.

VIII.
Du KANNST auch anders. Du hast die Wahl.
Du, Kind des Lichts. Lerne von den Kindern der Welt.
Lerne vom klugen Verwalter.
Denn der macht im entscheidenden Moment nicht das,
was man so normalerweise macht.
Er tilgt nicht die eigenen Schuldscheine, sondern die der anderen.
Er nutzt seine Möglichkeiten, um den Spieß umzudrehen.
Er zahlt den Preis und trägt die Konsequenzen
Seine Weste ist auf einmal nicht weiß geworden.
Die Schmutzspuren sind noch da.
Aber er ist ausgebrochen aus der Logik des „Ich kann nicht anders“.
Er hält sich nicht an das „Normalerweise“.
Das eine Schaf wird gesucht.
Der verlorene Sohn wird mit offenen Armen empfangen.
Und der skrupellose Verwalter halbiert die Schulden der anderen.

IX.
Du KANNST anders. Du Kind des Lichts.
Denn Jesus ist anders.
Er sucht das Verlorene.
Jesus wirft die Schuldscheine sogar weg.
Und wird dafür dann beschuldigt:
Das ist viel zu freigiebig und viel zu „für alle“!*

Ja, Jesus ist anders.
Kommt aus dem Licht und stellt alles auf den Kopf.
Und plötzlich stehst du vor ihm.
Er nimmt dich in den Arm, auch wenn du nach Schweinemist und Schweiß stinkst.
Und er öffnet die Tür für dich zur Hütte bei Gott.*
Du setzt dich mit ihm an den Tisch.
Emilia und die Soldaten, die nicht geschossen haben, sitzen auch schon da.
Die Kinder dieser Welt.

Und die, die nicht anders konnten
Oder meinten, nicht anders zu können,
die holt ihr dann noch an den Tisch.
Du willst vielleicht nicht, dass sie auch da sind.
Denn normalerweise gehören sie nicht mehr dazu.

Aber Jesus ist anders.
Jesus hält sich nicht an das Normale.
Jesus nimmt sie in seine Arme.
So wie dich.
Amen.

*) diese Formulierung habe ich von Andrea Kuhla

Sonntag, 12. November 2017

Du wirst sehen, was zurückkommt.

Liebe und tu Gutes statt wegzuschauen oder in Schubladen zu denken ....
Predigt zu Lukas 6,27-38 - gehalten am 12. November 2017 in der Stadtkirche Pforzheim

Ich sage euch, die ihr zuhört:
Liebt eure Feinde;
tut wohl denen, die euch hassen;
segnet, die euch verfluchen;
bittet für die, die euch beleidigen.
Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar;
und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht.
Wer dich bittet, dem gib;
und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück.
Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!

Und wenn ihr liebt, die euch lieben,
welchen Dank habt ihr davon?
Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen.
Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut,
welchen Dank habt ihr davon?
Das tun die Sünder auch.
Und wenn ihr denen leiht,
von denen ihr etwas zu bekommen hofft,
welchen Dank habt ihr davon?
Auch Sünder leihen Sündern,
damit sie das Gleiche zurückbekommen.
 

Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes
und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen.
So wird euer Lohn groß sein,
und ihr werdet Kinder des Höchsten sein;
denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.


I.
Sie schauten weg.
Sie zogen die Vorhänge zu.
Oder gingen einfach vorbei.
Damals -
als das Wort Jude auf das Schaufenster des Zigarrengeschäfts geschmiert wurde.
Als die Scheiben zu Bruch gingen und der Inhaber verprügelt wurde.
Und ins Gefängnis kam.

Sie schauten weg. Oder machten sogar mit.
Und gingen hinterher an die Kasse des Zigarrengeschäfts und plünderten sie.
Die Juden wurden zu Feinden erklärt.
Entmenschlicht. Entwürdigt.
Und sie machten mit.
Unsere Vorfahren.
Denn es waren ja die Feinde.
Volksverräter.
Welche, die dem Volk schadeten.
So wurden die Juden benannt. Und so glaubte man es.
Warum sich um ihretwillen in Gefahr bringen?

Es gab auch andere.
Die brachten sich in Gefahr.
Haben trotzdem in den Läden eingekauft.
Gingen trotzdem zum jüdischen Arzt.
Und halfen ihren Nachbarn das Land zu verlassen.
Es gab sie.
Sie weigerten sich,
in ihren jüdischen Nachbarn Feinde zu sehen.
Sie folgten Jesus und machten darum nicht mit.
Durchbrachen die Regel. Aber es waren zu wenig.

II.
Mach nicht mit, sagt Jesus.
Mach nicht mit, wenn es um Hass und Gewalt geht.
Mach nicht mit, wo Menschen zu Unmenschen werden.
Steig aus dieser Spirale aus.
Mach es anders.
Liebe und tu Gutes.
Und du wirst sehen, was zurück kommt.

III.
Jesus sagt aber noch mehr.
Liebe, auch wenn der andere wirklich dein Feind ist.
Liebe, auch wenn er dich hasst und dir Böses will.
Schlage nicht zurück, auch wenn er dich schlägt.
Schütze dein Eigentum nicht, auch wenn er es dir wegnimmt.

Ja, das ist schwer. Richtig schwer.
Und darum schaffen das auch nur wenige.
Der Probst von Coventry zum Beispiel.

Als seine Kathedrale von deutschen Piloten zerbombt wurde,
ging Probst Howard in die Ruine
und fügte aus großen Zimmermannsnägeln ein Kreuz.
Wir werden nicht hassen,
sagte er in seiner BBC-Ansprache zu Weihnachten.
„Mit Christus, der heute in unseren Herzen wiedergeboren wurde, versuchen wir
- so schwer es auch sein mag -
alle Gedanken an Rache zu verbannen.“

Probst Howard machte nicht mit.
Er - der Brite - verurteilte die britischen Bombenangriffe.
Und knüpfte Kontakte zu deutschen Brüdern und Schwestern.
Die tragen bis heute.
Wir sehen das an unserem Nagelkreuz hier. (1)
Mach nicht mit.
Mach es anders.
Liebe und tu Gutes.
Und du wirst sehen, was zurück kommt.

IV.
Mach es anders.
Es fängt im Kopf an. Und im Herz.
Aber wo hört es auf?
Für Jesus noch nicht mal am Kreuz.
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.
Liebe pur.
Für alle, die ihn hassen.
Und ihm weh tun.
Und ihn töten.
Ich weiß nicht, ob ich das könnte.

(.....)

V.
Vermutlich könnte ich das nicht.
Aber ich will im Kopf und im Herzen damit anfangen.
Ich will aussteigen aus dem Schubladendenken.
Will Menschen nicht einteilen in brauchbar und unbrauchbar.
Ich will nicht hören auf die,
die mir Angst vor Fremden machen
und sie mir zu Feinden erklären.

Ich will auch nicht auf die hören,
die davor warnen, großzügig zu sein.
Ich will meinen Mantel teilen wie St. Martin.
Will mein Misstrauen wegpacken
und möglichst nicht mehr hervorholen,
wenn eine Bettlerin was von mir will.
Natürlich weiß ich auch, dass es Drückerbanden gibt.
Und dass ich mit ein paar Cent nicht die Welt rette.
Aber ich könnte mich ja auch zu ihr setzen
und mir ihr reden.
Oder ich kaufe ihr einen Kaffee.

Liebe und tu Gutes. Warte nicht auf Dank.
Mach es anders.

VI.
Christa und Hans, Christian und Mirzeta, Peter und Nicola,
sie und viele andere tun genau das,
wenn sie Flüchtlinge begleiten.
Mit ihnen Formulare ausfüllen,
Wohnung suchen, zum Gericht gehen,
Mit ihnen weinen oder lachen und mit dem Deutsch helfen.
Sie sind mit Kopf und Herz dabei.

Und wenn hier im Januar die Vesperkirche startet, (2)
passiert auch genau das:
Die Helfenden reißen ihre inneren Schubladen auf
und lassen sie offen.
Sie putzen und organisieren und verteilen
und setzen sich zu den Gästen.

Es ist harte Arbeit.
Aber bei ihnen allen,
ob die in der Flüchtlingsarbeit
und denen in der Vesperkirche,
Bei allen fängt es an mit dem Herzenssatz:
Wir lieben und wir tun Gutes.

Sie alle hätten auch was anderes zu tun.
Alle könnten sagen:
der oder die hat das gar nicht verdient.
Oder: vielleicht sind die sogar selber schuld?
Aber sie machen es anders.
Geben ihre Zeit und manche auch viel Geld.

VII.
Vor 79 Jahren wurden hier in Pforzheim wie überall in Deutschland
die jüdischen Geschäfte und die Synagoge zerstört.
Seit 3 Jahren laden die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Nichtjuden ein.
Ausgerechnet an diesem Tag, am 10.November.
Nachfahren der damaligen Täter laden sie ein.
Auch ich darf dabei sein -
obwohl meine Vorfahren Juden gehasst haben.
Nach der Gedenkfeier auf dem Platz der Synagoge
essen wir zusammen.
Trinken. Reden. Lachen. Und staunen.
Wir wissen um die Kostbarkeit dieses Augenblicks.
Dass wir keine Feinde mehr sind, sondern Freunde.

Sie, unsere jüdischen Geschwister tun genau das,
was Jesus sagt:
Sie tun wohl denen, die sie gehasst haben;
segnen, die sie verflucht haben.
Sie sind die Kinder des Höchsten.

VIII.
So weit gehen wir noch nicht mal in der Vesperkirche
und nicht mit den Flüchtlingen.
Denn die, denen wir hier helfen, sind nicht unsere Feinde.
Und sie hassen uns nicht
und verfluchen und beleidigen uns nicht.

Aber das, was viele von uns da tun, ist der Anfang.
Ganz klein und ganz einfach und vor allem im Herzen.
Liebe und tu Gutes.
Lass dich nicht aufhalten.
Lass dir nicht einreden, das sei unvernünftig.
Liebe und tu Gutes.

Ja, da fängt es an.
Und da hört es noch lange nicht auf.
Aber es verändert die Welt.
Und du wirst sehen, was zurück kommt.

Amen.

(1) Seit 2005 gehört die Stadtkirche zur Nagelkreuzgemeinschaft. Nähere Infos: http://www.nagelkreuzzentrum-pforzheim.de/
(2) Die Vesperkirche ist ein ökumenisches Projekt, ehrenamtlich getragen, und findet jedes Jahr von Mitte Januar bis Mitte Februar in der Stadtkirche statt.