Sonntag, 23. Juli 2017

Keine Hindernisse mehr...

...sondern Leben, das zu dir gehört.
Oder:
Was haben ein äthiopischer Finanzminister, ein deutscher Sozialarbeiter, ein syrischer Balletttänzer gemeinsam?

Predigt zu Apostelgeschichte 8, 26 - 39 - gehalten in der Stadtkirche am 23.7.2017


26 Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach:
Steh auf und geh nach Süden auf die Straße,
die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist.
27 Und er stand auf und ging hin.
Und siehe, ein Mann aus Äthiopien,
ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake,
der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister,
war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten.
28 Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen
und las den Propheten Jesaja.

29 Der Geist aber sprach zu Philippus:
Geh hin und halte dich zu diesem Wagen!
30 Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las,
und fragte: Verstehst du auch, was du liest?
31 Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?
Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.
32 Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese (Jesaja 53,7-8):
»Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird,
und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt,
so tut er seinen Mund nicht auf.
33 In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben.
Wer kann seine Nachkommen aufzählen?
Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.«
34 Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach:
Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das,
von sich selber oder von jemand anderem?
35 Philippus aber tat seinen Mund auf
und fing mit diesem Schriftwort an
und predigte ihm das Evangelium von Jesus.

36 Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser.
Da sprach der Kämmerer:
Siehe, da ist Wasser;
was hindert's, dass ich mich taufen lasse?
38 Und er ließ den Wagen halten
und beide stiegen in das Wasser hinab,
Philippus und der Kämmerer,
und er taufte ihn.
39 Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen,
entrückte der Geist des Herrn den Philippus
und der Kämmerer sah ihn nicht mehr;
er zog aber seine Straße fröhlich.


I.
Hakki ließ sich am Freitag taufen.
Im Garten vom Lukaszentrum.
Hakki hat türkische Eltern
und ist in Mönchengladbach geboren.
Religion spielte keine Rolle in seinem Leben.
Als er 11 Jahre alt war, zogen sie wieder in die Türkei.
Aber seine Heimat blieb Deutschland.
Dorthin kehrte er zurück als er 20 Jahre war.
Wollte sein Leben leben, das zu ihm gehört.
Suchte nach dem Sinn.
Sehnte sich nach einem Willkommen.
Und wurde Sozialarbeiter.
Hakki heiratete
und fing schließlich bei der Diakonie an.
Den christlichen Glauben hat er schon vor ein paar Jahren kennengelernt.
Doch hier sind nun Menschen, die ihn willkommen heißen.
Die freuen sich, dass er da ist.
Sie zeigen: du bist uns wichtig. Und wir brauchen dich.

Und dann stellte er die Frage:
Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?
Und der Diakoniepfarrer sagte:
Niemand hindert dich.
Du bist ein wunderbarer Mensch und gehörst dazu.
Zu uns. Und vor allem zu Gott.
Lebe dein Leben, das zu dir gehört.
Keine Hindernisse mehr.
Und Hakki feierte ein fröhliches Fest in Pforzheim.

II.
Ahmad Joudeh ist ein syrischer Tänzer. (1)
Tanzen ist unmännlich, schrie ihn sein Vater an.
Trotzdem fing er an mit Ballett.
Mit dem Krieg kamen die Terroristen.
Sie verbrennen Tänzer.
Doch Ahmad tätowierte sich in den Nacken „Dance or die“
Und er tanzte auf den Dächern der Häuser.
Und im Theater von Palmyra
Er wollte sein Leben leben, das zu ihm gehört.

Dann wurde das Holländische Nationalballett auf ihn aufmerksam,
Was hindert uns, dass du bei uns tanzt?
Niemand und nichts.
Sie besorgten ihm ein Visum
Und holten ihn nach Amsterdam.
Lebe dein Leben, das zu dir gehört.
Du bist ein wunderbarer Mensch und gehörst dazu.
Keine Hindernisse mehr.
Und so tanzt Ahmad fröhlich auf den Bühnen von Holland.

III.
Keine Hindernisse mehr.
Denn du bist ein wunderbarer Mensch.
Ein Kind Gottes.
Du Fremder mit dunkler Haut.
Du kommst aus Äthiopien und fährst durch die Wüste.
Du bist in Jerusalem gewesen und hast Gott gesucht.
Mag sein, dass du in deinem Land was zählst.
Aber hier nicht.

Die was zu sagen haben, zeigen dir:
du gehörst nicht dazu.
Du Andersgläubiger.
Und noch schlimmer:
Eunuch. Kein richtiger Mann mehr.
Eher queer.
Auf jeden Fall sexuelle Minderheit.
Mit dir redet man hier nicht.
Du, Mensch im Wagen.
Suchender und Lesender.

Doch dann kommt Philippus dazu.
Einfach so. Wie vom Himmel gesandt.
Er - ein Fremder für dich - spricht mit dir.
Nimmt dich ernst.
Hört dir zu.
Fragt nicht, woher du kommst
und was du glaubst und wer du bist.
Teilt dich nicht in Schubladen ein.

Will nur, dass du verstehst, was du liest.
Damit du das Leben lebst, das zu dir gehört.
Nicht mehr abhängig vom Wohlwollen der anderen.
Sondern als freies Gotteskind.

IV.
Keine Hemmungen mehr, Fremder.
Philippus will, dass du fragst und suchst und forscht.
Und ja: Der Gottesknecht fasziniert dich.
Das Schaf, das zur Schlachtung geführt wird
und stumm bleibt.
Vielleicht rührt dich das an:
Das Ausgeliefertsein?
Das Ausgelacht werden.
Dass er angespuckt wird.
Und genauso wenig dazu gehört wie du,
sondern immer fremd bleibt.

Und dann erzählt dir Philippus von Jesus.
Erzählt er dir davon,
dass er ebenfalls ein Ausgestoßener war?
Draußen vor den Toren Jerusalems starb er wie ein Verbrecher.
Ihn spuckten sie an und riefen:
Du gehörst nicht zu uns.
Und schon gar nicht zu Gott.
Du bist ein Fremder.
Und wirst immer ein Fremder bleiben.
Anders als wir.
Und den Armen und Schwachen viel zu nah.

Aber Gott hat diesen Verstoßenen zu sich geholt.
Hat sich zu ihm bekannt:
Das ist mein geliebter Sohn.
Er gehört zu mir.
Und ich zu ihm.
Nichts gibt es, was ihn daran hindert, mein Kind zu sein.
Und niemand hindert mich daran, dass ich ihn liebe.

Hat dir Philippus das erzählt?

V.
Jedenfalls gibt es für dich kein Halten mehr.
Du siehst Wasser:
was hindert's, dass ich mich taufen lasse?

Denn das hast du nun verstanden:
Du gehörst dazu.
Du Andersgläubiger.
Du queerer Mensch.
Suchender. Zweifelnder. Ausgestoßener.
Du bist ein wunderbarer Mensch und gehörst dazu.
Zu Gott. Zu Jesus. Zur Liebe. Zu uns.
Lebe dein Leben, das zu dir gehört.
Keine Hindernisse mehr.
Und du ziehst fröhlich deine Straße.

VI.
Ich bin sicher:
für Philippus gab es am Anfang große Hindernisse.
Die im Kopf:
Kann ich mich einfach zu einem Fremden dazu setzen?
Und einfach so taufen, nur weil er mich darum bittet?
Woher weiß ich denn, ob der wirklich glaubt?

Und ich denke an meine Scheu,
an der Bushaltestelle die Frau im Niqab anzusprechen.
Die versteht mich doch sowieso nicht.
Und ich will ja auch nicht aufdringlich sein.
Und überhaupt: die denkt ja auch ganz anders als ich.
Wir finden bestimmt kein Gesprächsthema.
Manchmal traue ich mich doch.
Vor allem wenn Kinder dabei sind.
Dann fällt das leichter.
Ich kann fragen, wie alt sie sind.
Und wir lächeln uns zu, die Frau und ich.
Zwei vorsichtige scheue Gotteskinder.

Was hindert uns, miteinander zu reden?
Die Hindernisse im Kopf:
Die Bilder von eifernden Islamisten.
Die Sprache, die ich nicht verstehe.
Fremde Gerüche.
Misstrauische Gesichter.
Und ich kann es ihnen nicht verdenken:
Denn wer heißt sie schon wirklich willkommen?
Aber die Schranke in meinem Kopf ist da.
Auch gegenüber Deutschen, die anders ticken als ich.

VII.
Und dann -
ja, dann sehne ich mich nach einem Engel,
der mich wie Philippus einfach zu Anderen schickt.
Und mir die Scheu nimmt.
Und das Misstrauen und die Angst.
Ich will sein wie Philippus
und im Anderen ein Gotteskind sehen,
Egal woher es kommt und was es glaubt.
Ich will mich bereit halten für überraschende Begegnungen.
Offen sein für den Beginn einer Freundschaft,
auch wenn der Anfang quer liegt.

Ich sehne mich nach so einem Engel für unsere Kirche.
Für uns hier.
Dass wir nicht fragen,
ob jemand genug glaubt oder bibelfest genug ist.
Sondern dass wir einfach neugierig sind füreinander.
Dass wir Fremde und Neue unter uns wirklich willkommen heißen.
Ihre Fragen hören und unsere Fragen
und gemeinsam nach Antworten suchen.
Unseren unterschiedlichen Sehnsüchten nachspüren.
Ich will, dass wir auch mal etwas Verrücktes wagen.
Philippus war ziemlich verrückt,
einfach da in die Wüste zu gehen.
Aber die Liebe braucht solche Menschen.
Mutige und freie Menschen,
die andere ihre Straße ziehen lassen.
Und fröhliche Menschen, die ihre Straße ziehen.

VIII.
Hakki hat sich am Freitag taufen lassen.
Es war ein fröhliches Fest.
Alle haben sich mit ihm gefreut.
Und seinen Worten gelauscht. (2)
Wo er von Fehlern sprach, die er machen will, um aus ihnen zu lernen.
Und Gutes säen, um später Gutes zu ernten.
Alles tun, weil er kann - und nicht muss.
Worte eines freien fröhlichen Gotteskindes,
das dazu gehört.
Keine Hindernisse mehr.

Ahmad verzaubert mit seinem Tanz die Menschen.
Er ist ein Gotteskind: frei und endlich in Sicherheit.
Lebt das Leben, das vielen nicht passte,
aber zu ihm gehört.
Mutig und verrückt und fröhlich.
Nation und Religion spielen keine Rolle.
Keine Hindernisse mehr.

Und du:
Du begibst dich auf den Weg
wie Philippus und der Äthiopier.
Begleitet von einem Engel, der dir Mut macht.
Wer weiß, wer zu dir in deinen Wagen steigt.
Wer weiß, zu wem du dich in dessen Wagen setzt.
Wer weiß, wem du an der Bushaltestelle begegnest.
Es könnte ein Gotteskind sein.
Ein suchendes, ein fragendes oder ein antwortendes.

Und wenn du dich dann fragst:
Was hindert mich?
Was hindert’s, das Leben zu leben, das zu mir gehört?
Was hindert mich, dem anderen dasselbe zu gönnen?
Dann tust du es - du lebst und liebst und gönnst.
Denn du gehörst zu Gott.
Keine Hindernisse mehr -
mit dem Frieden, welcher höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

(1) ein sehr berührender Film-Spot: https://www.facebook.com/fusionmedianetwork/videos/2035042753188359/?hc_ref=ARSggXUujLylGyey1bxbSqrjn1bmqpX_f_UAkkatjLV9VlfYSVtObNndmsGgyEUl_fc&pnref=story

(2) die hat er sich von Julia Engelmann geliehen, aber so vorgetragen, dass sie wirklich zu seinen Worten wurden - sehr berührend.

Sonntag, 9. Juli 2017

Mehr als Gold - von Königinnen, Weisen und Gotteskindern

Kurzpredigt anlässlich des Goldstadtjubiläums 9.7.2017

(zur Info: Die Stadt Pforzheim feiert 250 Jahre Schmuckindustrie. Heute haben wir im Stadtgarten einen ökumenischen Openair-Gottesdienst unter dem Titel "mehr als Gold" gefeiert. Die Predigt bestand aus 3 Teilen auf 3 Menschen verteilt: 1.Teil meine Kollegin Heike Reisner-Baral zu Vision der "goldenen Stadt", 2.Teil meines katholischen Kollegen Bernhard Ihle zum "goldenen Kalb" und der 3.Teil ist die Predigt hier.
Was viele Menschen im aktuellen Tagesgeschehen beschäftigt, sind die Gewaltexzesse in Hamburg angesichts des G20-Gipfels vom 6.-8.7. Es war mir nicht möglich, diese Ereignisse auszublenden - und so war ich dankbar für den Predigteinfall "Königin von Saba".)

I.
Gold, die Königin unter den Metallen.
Es rostet nicht, es läuft nicht an.
Gold bleibt immer Gold.
Gold ist ewig und zeitlos.
Und darum ist es so kostbar, so königlich.
Gilt immer noch als stabile Währung, auch wenn sein Preis steigt oder fällt.
Die Gefahr ist groß, dass wir es anbeten.

II.
Die 3 Weisen aus dem Morgenland haben es anders gemacht.
Sie kommen nach Bethlehem - mit Gold im Gepäck.
Gelehrte wichtige Männer,
empfangen vom König Herodes persönlich.
Sie betreten eine Notunterkunft,
wo sich ein neugeborenes Kind befindet
Mit seinen müden Eltern.
Dieses Kind ist klein, unbedeutend - noch.
Es hat Hunger wie alle Babys.
Es trinkt und schläft und macht in die Windel.
Es raubt seinen Eltern den Schlaf und hat eine ungewisse Zukunft. 
Nichts besonderes.
Aber ausgerechnet ihm erweisen sie die Ehre und schenken ihm Gold.
Gold ist nichts zum anbeten, sondern zum Verschenken.
Denn dieses Kind ist Gold wert,
Es ist so gar mehr wert als Gold.
Es ist das Gotteskind.

III.
Die Königin von Saba hat auch ihr Gold verschenkt.
Dafür ist sie extra nach Jerusalem gekommen.
Zu König Salomo.
Mit Gold im Gepäck.
Ein Gipfeltreffen
zwischen der einen und der anderen Welt.
Zwischen Staatsoberhäuptern.
Die Königin von Saba kam, um zuzuhören und wahrzunehmen.
Und auch Salomo wird ihre Sicht auf die Dinge interessiert haben.

Wie ihre Völker über dieses Treffen dachten,
wissen wir nicht.
Und das Recht auf Demonstrieren gab es noch nicht.
Und es konnte darum auch noch nicht missbraucht werden.

Aber schon damals galt:
lieber miteinander reden, als übereinander.
Lieber gemeinsam am Tisch sitzen als Kriege führen.
Lieber teilen als wegnehmen.
Uns so gibt die Königin von Saba dem Salomo Gold,
jede Menge Gold.
Nicht weil er es gebraucht hätte,  er war ja reich,
Aber sie ehrt ihn damit.
Sie zeigt, wie sehr sie ihn respektiert.
Dass er Gold wert ist.

Nun war er ja ein berühmter weiser Mann.
Kein Wunder, dass er respektiert wird.  So denken wir.
Aber Respekt hat jeder Mensch verdient.
Jeder Mensch ist kostbar wie Gold. 
Ein Gotteskind.

IV.
Auch du bist Gold wert.
Und mehr als das.
Keiner darf dir sagen, dass du nichts wert seist.
Du bist keine graue Masse, sondern Gotteskind.
Und dasselbe gilt für deine Kollegin.
Und für den Hausmeister.
Es gilt für den Polizisten,
der sich in Hamburg beschimpfen lassen musste
und um sein Leben fürchtete.
Es gilt für die Regierungschefs und -chefinnen genauso
wie für die Müllmänner,
die heute wieder im Schanzenviertel unterwegs sind.
Es gilt für die Männer, Frauen und Kinder,
die für mehr Gerechtigkeit demonstrierten.
Und es gilt sogar für die Gewalttätigen.
Selbst sie sind mit Respekt zu behandeln,
selbst wenn sie ihn missbrauchen.

Respekt heißt: ich sehe im anderen ein Kind Gottes,
Einen Menschen, der Gold wert ist und mehr als das.
Ich darf mit ihm streiten. Ich muss es vielleicht sogar.
Denn lieber miteinander reden als übereinander.
Und vielleicht muss dieses Gotteskind sogar ins Gefängnis
für das, was es getan hat.
Aber, wehe, ich fang an, ihm seinen Wert abzusprechen,
Dann komme ich in Teufels Küche.
Dort sitzen nämlich die Menschenverächter dieser Welt.

V.
Gold ist die Königin unter den Metallen.
Und jeder Mensch ist Gold wert.
Mehr als Gold.
Wenn wir so leben, sieht die Welt anders aus.
Keine graue Masse, sondern buntgoldene Gotteskinder.
Nicht in Teufels Küche, sondern an Gottes Tisch.
Wie die Königin von Saba bei Salomo
und die 3 Weisen im Stall.
Selbst die bisher respektlos waren, finden ihren Platz
und begegnen dir ganz neu. Auf Augenhöhe.

Ja, in so einer Welt ist es gar nicht schwer zu schenken,
sich zu verschenken.
Mein Gold, dein Gold -
das ist der Respekt für die Gotteskinder der Welt.
Für jedes Leben, das unseren Einsatz braucht.
Unser Gold behalten wir nicht für uns.
Sondern verschenken es wie die Königin von Saba
und die 3 Weisen.
Mit dem Segen Gottes,
Und der ist viel mehr als Gold.
Amen.

Sonntag, 2. Juli 2017

Grund zum Feiern

Predigt zu Lukas 15,1-10

Alle Zolleinnehmer und andere Menschen,
die ein Leben voller Schuld führten,
kamen zu Jesus,
um ihm zuzuhören.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten ärgerten sich darüber.
Sie sagten:
»Mit solchen Menschen gibt er sich ab
und isst sogar mit ihnen!«
Da erzählte ihnen Jesus dieses Gleichnis:

»Stellt euch vor:
Einer von euch hat hundert Schafe
und verliert eines davon.
Wird er dann nicht die neunundneunzig Schafe
in der Steppe zurücklassen
und das verlorene Schaf suchen,
bis er es findet?
Und wenn er es gefunden hat,
nimmt er es voller Freude auf seine Schultern
und trägt es nach Hause.
Er ruft seine Freunde und Nachbarn zusammen
und sagt zu ihnen:
›Freut euch mit mir!
Ich habe das Schaf wiedergefunden,
das ich verloren hatte.‹

Das sage ich euch:
Genauso freut sich Gott im Himmel
über einen mit Schuld beladenen Menschen,
der sein Leben ändert.
Er freut sich mehr als über neunundneunzig Gerechte,
die es nicht nötig haben,
ihr Leben zu ändern.«
 

»Oder stellt euch vor:
Eine Frau besitzt zehn Silbermünzen.
Wenn sie eine davon verliert:
Wird sie da nicht eine Öllampe anzünden,
das Haus fegen
und in allen Ecken suchen,
bis sie das Geldstück findet?
Und wenn sie es gefunden hat,
ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen
und sagt:
›Freut euch mit mir!
Ich habe die Silbermünze wiedergefunden,
die ich verloren hatte.‹

Das sage ich euch:
Genauso freuen sich die Engel Gottes
über einen mit Schuld beladenen Menschen,
der sein Leben ändert.«


I.
Stell dir vor:
Ein blöder Streit um Geld hat euch auseinandergebracht.
Dich und deine Cousine.
Ihr wart mal wie Zwillingsschwestern.
Deine Mutter war für euch beide da.
Ihr gehörtet zusammen. Ihr habt euch alles erzählt.
Zu ihr konntest du gehen, als du todtraurig warst
Und zu dir ist sie gekommen, als ihr Sohn einen Anfall hatte.
Aber dann der Streit ums Geld.
Um das Erbe der Großeltern.
Mit ihr will ich nichts mehr zu tun haben,
sagst du mit Wuttränen in den Augen.
Und sie gibt sich schnippisch: Ich brauch dich auch gar nicht.
Doch dann der Tod deiner Mutter. Ihrer Pflegemutter.
Ihr trefft euch am Grab.
Seht euch an.
Und dann die Umarmung.
Die Tränen fließen, aber der Mund lächelt.
Ihr wollt euch gar nicht mehr loslassen.
Der Kuchen schmeckt so richtig gut.

Stell dir vor: ihr habt euch verloren.
Ihr habt euch nicht gesucht.
Aber ihr habt euch wiedergefunden.
Ein Grund zum Feiern.

II.
Stell dir vor:
Da ist ein Christ, der glaubt, dass nur noch rechte Politik unser Land retten kann.
Grenzen dicht. Islam raus. Schmarotzer weg.
Eine Kultur in einer Nation.
Kein Kulturmix mehr, sondern endlich klare Verhältnisse.
Deutschland den Deutschen.

Doch dann sucht er dich.
Oder hat er dich schon gefunden?
Er nimmt Kontakt mit dir auf.
Will mit dir reden -
er findet, dass du auf das falsche Pferd setzt mit deiner Fremdenliebe.
Er will dir die Augen öffnen
und schickt dir lauter schreckliches Videos von Islamisten und Terroristen.

Und du denkst:
Ich habe ihn nicht gesucht.
Und gefunden hat er eher mich.
Aber er ist der Verlorene.
Und so suchst du nach einem Weg, ihn zurück zu bringen.
Ihr trefft euch sogar.
Aber ihr kommt nicht zueinander. Nicht wirklich.
Und die Türen sind wieder zu.

Stell dir vor: Ihr habt euch gefunden.
Und verloren.
Kein Grund zum Feiern.

III.
Stell dir vor:
da ist Jesus.
Der macht die Türen auf.
Der geht raus.
Der geht zu denen, die man nicht besucht.
Die abgeschoben werden sollen.
Sie haben vielleicht keinen richtigen Pass.
Gehören nicht dazu
mit ihrer Sprache, ihrer Kleidung, ihrer Religion.
Jesus geht raus.
Er geht auch zu denen, denen ihr Pass ganz wichtig ist.
Die sich von ihrer Angst treiben lassen
und deshalb Mauern um sich herum bauen.
Jesus geht raus.
Zu denen, die im Internet Hasskommentare schreiben.
#Hatespeech.
Die die Angst der anderen ausnutzen.
Und dich und mich als Gutmenschen beschimpfen.

Jesus geht dorthin,
zu den Abgeschobenen und Ängstlichen und Hassenden.
Zu denen, die sich verloren haben
und nicht mehr wissen, wo sie hingehören.

IV.
Stell dir vor:
Jesus sucht sie.
Im Gefängnis und im Internet.
In der Kirche, im Polittalk
und im Bundestag.

Stell dir vor:
er findet sie.
Holt sie zu sich - an seinen Tisch.
Da ist Brot und Wein und Käse und Fallafel und Erdbeerquark.
Und alle trinken aus demselben Kelch.
Jesus nimmt seine Gäste in den Arm
und auf ihren hatespeech antwortet er mit lovespeech.
Er holt die Streetdancer dazu, die letztens im Bahnhof waren.
Die lassen den Saal beben.

Stell dir vor:
Jesus sucht die Verlorenen, die niemand sonst wirklich sucht.
Die, die sich selbst verloren haben.
Er findet sie. Und sie finden ihn.
Und sie feiern, weil sie allen Grund dazu haben.

V.
Denn sie gehören alle dazu.
Selbst wenn sie sich selber ausschließen.
Sie gehören dazu und brauchen ihren Hass und ihre Angst nicht mehr.
Auch die, von denen die anderen sagen, dass sie nicht dazu gehören.

In den Augen Gottes sind sie alle unendlich wertvoll.
Gott gibt sie nicht auf. Niemals.
Er geht bis an den Rand des Abgrunds, um das eine Schaf einzusammeln.
Sie kehrt das Unterste nach Oben, um den einen Groschen zu finden.
Gott sucht.
Nach denen, die sich verloren haben.
Geht ihnen nach und gibt sie nicht auf.
Gott geht sogar ans Kreuz, damit niemand mehr ohne ihn ist.

VI.
Stell dir vor:
die anderen sind sauer.
Die, die immer schon dabei sind.
Womöglich findet der Schäfer das eine Schaf wichtiger als uns?
Aber es ist doch selber schuld, wenn es sich von uns entfernt.
Was ist es auch so leichtsinnig?
Muss es sein, dass der Schäfer dem hinterher geht?
Wir sind doch auch noch da!

Ich will diese Fragen nicht einfach abtun.
Denn wenn die Kraft begrenzt ist oder kein Geld da ist,
dann muss man sich vielleicht entscheiden, um wen man sich zuerst kümmert.
Aber der Schäfer weiß ja, dass es seinen 99 Schafen gut geht.
Dass sie sich zu helfen wissen.
Sie brauchen ihn gerade nicht.
Und sie wissen genau:
wenn mir das mal passiert, dass ich mich verloren habe,
dann sucht er auch nach mir.

VII.
Aber es passiert eben auch,
dass die 99 dem einen Schaf einfach nicht gönnen,
dazu zu gehören.
Der daheim gebliebene Sohn, der Ältere,
will das Fest für seinen zurückgekehrten Bruder nicht mitfeiern (1).
Der hat das nicht verdient.
So wie deine Cousine.
Die hatte das auch nicht verdient.

Und wir feiern den Gottesdienst wie wir ihn gewohnt sind.
Denn da kommen die, die wir kennen und die dazu gehören.
Wir kennen uns. Uns gefällt es.
Müssen wir in den Bahnhof gehen und mit Streetdancern Gottesdienst feiern? (2)
Die kommen doch sowieso nicht hierher in die Kirche.
Die Kirche sollte eher die pflegen, die noch da sind.
So denken nicht wenige wie der daheimgebliebene Sohn.

Es gibt viele, die finden,
wir sollten uns eher um die 99% kümmern,
die schon immer in unserem Land gelebt haben.
Die Deutschen seien wichtiger als die Flüchtlinge.
Also bitte nicht so viel Aufwand für sie.

Es gibt viele, die finden es unnötig, ein Gesetz zu ändern
für die vielleicht 5 oder 6% Schwulen und Lesben,
Okay, sie wollen endlich genauso verheiratet sein, wie die Heterosexuellen.
Aber müssen wir für ein Schaf und eine Silbermünze so einen Aufwand treiben?
Ein Gesetz ändern.
Aufs Meer hinausfahren.
Schulen neu ausstatten. Suchen und Finden.
Muss das sein?
Und wenn ich dieses Schaf bin? (3)

VIII.
Ja, stell dir vor:
der Schäfer kommt zurück mit dem einen Schaf.
Er sieht die mürrischen Gesichter der anderen.
Und dann führt er sie alle auf eine neue Weide, wo es die leckersten Gräser gibt.
Feiert mit, sagt er,
setzt sich dazu und genießt die Sonne.

Stell dir vor:
der Vater nimmt den beleidigten Sohn in den Arm.
Und dann gehen sie gemeinsam zum Festessen.
Dort sieht er seinen zurückgekommenen Bruder.
Beide merken: wir sind Brüder.
Und hier sind wir zuhause.
Was auch sonst immer noch zwischen uns sein mag.
Und sie umarmen sich.
Wie du damals deine Cousine nach dem Streit.
Die Tränen fließen, aber der Mund lächelt.
Sie haben sich wie ihr nicht gesucht.
Aber sich vielleicht wiedergefunden.

Stell dir vor:
du gehst nachher zum Café Roland.
Dort treffen sich Christian und Oxana mit Flüchtlingen
aus dem Irak und dem Iran und aus Syrien,
und gemeinsam grillen sie.
Stell dir vor:
auf dem Weg dorthin triffst du den Christen,
der glaubt, dass nur noch rechte Politik unser Land retten kann.
Du nimmst ihn mit und gemeinsam setzt ihr euch zu den anderen.
Einer von den Iranern drückt ihm ein Bier in die Hand.
Falaffel und Erdbeerquark stehen auf dem Tisch.
Und gemeinsam versuchen sie, den Grill anzuwerfen.

Sie suchen sich.
Sie wissen noch nicht, ob sie sich trauen können.
Aber der Versuch ist es wert.
Und das schon ist ein Grund zum Feiern.
Und Jesus feiert mit.

Amen.



(1) Gleichnis von den verlorenen Söhnen (Lukas 15,11-32)
(2) Am Wochenende zuvor fand in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs ein Gottesdienst mit jugendlichen Streetdancern statt. 
(3) Danke für diesen Gedanken an Silke Wolfrum und Herbert Sperber