Sonntag, 27. März 2016

Flucht ins Leben - mit vollen Netzen, geteilten Broten und heilender Musik

Predigt zu Markus 16 an Ostern

(Lesung 1.Korinther 15,1-11 -
außerdem vorher: Teile 1-4 der Bachkantate "Halt im Gedächtnis Jesum Christ" und die Taufe eines kleinen Mädchens)

I.
Nachdem er ihn gesehen hat, ging es ihm erstmal gar nicht gut.
Das Sehen ist dem Paulus vergangen,
damals vor Damaskus.
Es hat ihn zu Boden geworfen.
Ob er es sofort begriffen hat,
dieses Licht, dieser Jesus, der da in sein Leben trat,
ausgerechnet dieser Gekreuzigte?

Es klingt so einfach bei Paulus.
„das Evangelium, das ich euch verkündigt habe,
ihr habt es auch angenommen,
ihr steht auch fest darin“ (1.Kor. 15)

Der Schrecken von Golgotha vorbei -
von heute auf morgen?
Der Schrecken von Brüssel?
Der Schrecken von Al-Asrija?
Der Schrecken der Todesnachrichten?
Der Schrecken der Kündigung für eine Freundin?
Nein, er steckt fest in den Gliedern.
Er lässt sich nicht mal so eben abschütteln.

II.
Und als der Sabbat vergangen war,
kauften Maria von Magdala
und Maria, die Mutter des Jakobus,
und Salome
wohlriechende Öle,
um hinzugehen und ihn zu salben.
Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche,
sehr früh, als die Sonne aufging.

Und sie sprachen untereinander:
Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?
Und sie sahen hin
und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war;
denn er war sehr groß.

Und sie gingen hinein in das Grab
und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen,
der hatte ein langes weißes Gewand an,
und sie entsetzten sich.
Er aber sprach zu ihnen:
Entsetzt euch nicht!
Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten.
Er ist auferstanden, er ist nicht hier.
Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten.
Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus,
dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa;
dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.

Und sie gingen hinaus
und flohen von dem Grab;
denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen.
Und sie sagten niemandem etwas;
denn sie fürchteten sich.

(Markus 16,1-8)

III.
Zittern und Entsetzen
statt fröhliches Osterlachen.
Sie fliehen vom Grab
anstatt das Leben zu feiern.
Haben sie den Engel nicht gehört?
Entsetzt euch nicht!
Die Worte kommen nicht an.

Du kennst das, nicht wahr?
Die Schatten sind zu groß.
Zu tief.
Der Schmerz füllt das ganze Herz aus.
Blind vor Wut.
Taub für Trost.
Das Vogelzwitschern am frühen Morgen
findet in einer anderen Welt statt.
Nicht in deiner.
Die Sonne scheint in einer anderen Welt.
Nicht in deiner.
Der Engel spricht in einer anderen Welt.
Nicht in deiner.
Nicht jetzt.
Und dann siehst du nur den leeren Platz.
Da, wo er sein sollte.
Aber nicht ist.
Noch nicht mal mehr salben kannst du ihn.
Das Verpasste.
Das Zu-spät-sein.
Nichts sonst.

IV.
Die Toten von Brüssel sind noch nicht begraben.
Der Schock der Kündigung ist noch nicht verdaut.
Doch jetzt Osterlieder singen?
Fröhlich zum nächsten Punkt übergehen?
Karfreitag abhaken?
Wie einen schlechten Traum beiseite legen?

Nein, das geht nicht.
Bei den Frauen am Grab auch nicht.
Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen
Sie können noch nicht mal darüber reden.

Der Tod wird nicht verdrängt.
Das Grab ist noch da.
Das Grabtuch trägt die Spuren.
Es ist alles noch da.
Die Wunden sind tief.
Die Mutter kommt vom Flughafen in Brüssel nicht mehr zurück.
Der Job ist immer noch weg.
Die Kinder müssen umziehen.
Die Worte vom Entlass-Gespräch hallen noch nach.
Das Kreuz ist da - auch nach Ostern.

V.
Geht aber hin....
Etwas ist trotzdem anders.
Der Tod wird nicht verdrängt,
sondern besiegt.
Maria, Maria und Salome verharren nicht in Schockstarre.
Sie setzen sich in Bewegung.
Oder werden sie bewegt?

Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus,
dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa;
dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.
Und sie gingen hinaus
und flohen von dem Grab.


Sie fliehen und lassen den Totenort hinter sich.
Sie fliehen ins Leben.
Weg vom Grab.
Weg vom Tod.
Weg von der Gewalt.
Weg von der Leere.

Sie fliehen wie die Tausenden,
die zu uns kommen wollen.
Auch diese wollen ins Leben fliehen.
Weg von den Gräbern ihrer Ermordeten.
Weg von der Leere der zerbombten Häuser.
Weg von dort, wo es keine Hoffnung mehr gibt.

Sie fliehen wie die Arbeitslosen,
die im Erwerbslosentreff zusammen kommen.
Weg von der Leere eines langen Tages.
Weg vom trostlosen Küchentisch.
Weg von dem „Ich bin nichts mehr wert“.

VI.
Die Frauen fliehen vom Grab
hinein ins Leben.
Nach Galiläa.
Dort, wo das Brot geteilt wurde und für alle genug war.
Dort, wo die Schwiegermutter von Petrus wieder gesund wurde.
Dort, wo die Fischernetze nach einer langen leeren Nacht auf einmal voll waren,
voller Hoffnung und Mut.
Dorthin fliehen sie.
Dorthin laufen sie.
Sie bleiben nicht stehen.
Und verkriechen sich nicht in ihr Entsetzen.
Sondern sie gehen.
Rennen.
Eilen.
Fliehen.

VII.
Der Engel ist es, der sie auf den Weg schickt.
Seine Worte können sie nicht hören.
Das Entsetzen hält sie gepackt.
Und doch schafft er es, dass sie gehen.
Dass sie sich bewegen.
Dass sie ins Leben gehen.
Und den Tod hinter sich lassen.

Die andere Welt, aus der er kommt,
sie bricht herein in ihre Welt.
In meine Welt.
Sie ist schon längst in meiner Welt.
Gottes Licht ist schon längst da.
Auch dort, wo es dunkel ist.

Ja, Gottes Lebenswelt ist mitten in unserer Totenwelt.
Dort, wo wir sind.
Da bricht sie herein.
Bricht sie auf.
Da werden Fische gefangen,
obwohl es unmöglich ist.
Da reichen 5 Brote für 5000 Menschen,
obwohl es unmöglich ist.
Und da schöpfen Geflüchtete Hoffnung,
obwohl sie alles verloren haben.
Da finden Frauen den Mut, doch zu reden.
Und die Trauernden in Brüssel öffnen ihre Türen für die Fliehenden.

VIII.
Das Entsetzen aber bleibt.
Auch in Galiläa.
Auch nach Ostern gibt es keine Insel reiner Glückseligkeit.
Und es werden auch nicht alle den Weg schaffen - weg vom Grab.

Aber die Friedhofsruhe wird gestört.
Die Friedhofsruhe, die uns vormacht,
dass es nur noch den Tod gibt und nichts sonst,
dass wir mit Gewalt und Hass nun mal leben müssten,
die wird gestört.
Denn der Gekreuzigte bleibt nicht im Grab,
sondern geht nach Galiläa,
dorthin, wo die andere Welt,
die Welt Gottes in unsere Welt einbricht.
Dort ist er zu sehen.
Nicht im Grab.
Geht aber hin ... nach Galiläa;
dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.


IX.
Im letzten September kamen 750 Flüchtlinge
im Belair in Sasbachwalden unter,
von heute auf morgen.
Bei 2400 Einwohnern.
Die Bewohner von Sasbachwalden waren sauer.
Unter den Flüchtlingen gab es schnell Unruhe.

Im Januar aber startete der Kirchenmusiker Patrick Bach ein Projekt:
innerhalb von 3 Tagen stellte er einen Chor zusammen
aus Flüchtlingen und Einheimischen,
die sangen mit ihm voller Inbrunst und Begeisterung „We are the world“.
Viele schiefe Töne dabei, aber Töne mit Herz.

Monate lang schon lebten sie nebeneinander,
aber sie kannten sich nicht.
Und nun sangen sie und klatschten und fassten sich an den Händen.
Ja, einige tanzten sogar mit dem Bürgermeister.
Zu sehen im Fernsehen.
Menschen, die aus dem Entsetzen kamen,
und Menschen, die ins Entsetzen kamen:
sie flohen gemeinsam ins Leben.
Dorthin, wo die Welt Gottes in unsere Welt einbricht,
und uns zueinander bringt,
uns Grenzen überwinden lässt.

X.
Entsetzt euch nicht!
Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten.
Er ist auferstanden, er ist nicht hier.
Geht aber hin .... nach Galiläa;
dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.


Die Frauen fliehen vom Grab ins Leben.
Paulus wird geblendet
und fängt nochmal von vorne an.
Syrische Frauen und irakische Männer fliehen vor dem Tod.
Hier leben sie neu.
Und in Sasbachwalden lassen alte und neue Bewohner ihr Entsetzen hinter sich
und sie singen -
und entdecken sich neu.
Die gekündigte Freundin kann ihre Trauer teilen mit Freunden.

Ja, die Welt bleibt gebrochen.
Aber Gottes Welt ist zu sehen.
Mit vollen Netzen, geteilten Broten und heilender Musik.
Und da bist du nicht zu spät,
sondern fängst an,
den Tod lässt du hinter dir.
Dort, wo du lebst.

Amen.

Donnerstag, 24. März 2016

Sie wissen, was sie tun - und Gott auch

Meditation zu Lukas 23 (Karfreitag)
 
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Jesus vergibt -
bedingungslos, zuerst.
Jesus vergibt den Mördern.
Den Attentätern.
Den Bombenlegern.
Den Brutalen.
Den Gaffern.
Den Spöttern.
Den Gemeinen.
Jesus vergibt,
wo ich es nicht schaffe.

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Doch - sie wissen, was sie tun:
Sie wissen,
dass sie zahllosen Menschen das Leben nehmen.
Und damit einem Kind ihre Mutter rauben,
einer Frau ihren Mann,
dem Geliebten seinen Geliebten,
dem Vater seine Tochter.

Sie wissen, was sie tun.
Sie wissen,
dass das Sperren der Balkanroute
die Menschen ins Mittelmeer treibt.
Sie wissen,
dass die Anti-Flüchtlingsdemo vor der Unterkunft
den geflüchteten Menschen darin Angst einjagt.
Sie wissen,
dass die Bomben auf eine Stadt keinen Frieden bringen.
Sie wissen,
dass sie einen Unschuldigen ans Kreuz nageln.
Sie wissen,
was sie tun.

Vater, vergib...

Gott vergibt - endlos.
Auch wenn mir das nicht gefällt.
Gott hört am Kreuz nicht auf.
Selbst dort, wo wir am Ende sind,
wo alles Leben verlöscht,
wo es für uns kein Zurück mehr gibt -
selbst dort vergibt Gott.

Mitten in der Katastrophe,
wo jeder von uns wegrennen würde,
wo Bomben eine Stadt zerstören,
wo Terroristen Leben kaputt machen - und Vertrauen,
wo Frauen im Irak hingemetzelt werden,
wo rechter Mob vor Asylheimen herumgrölt
oder wo der Krebs ein Leben kaputt macht:
Selbst da ist Gott da.
Gibt niemanden auf.
Und macht einen neuen Anfang.

Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

Mitten in der Höllenvision der Schädelstätte
reißt Jesus das Paradies weit auf.

Das Paradies bricht in die Hölle,
die Vergebung nimmt die Schuld,
der Schuldlose
zieht die Verdammten
mit sich in den Himmel.
Denn Gott gibt niemanden auf.
Auch die nicht, die wissen, was sie tun.
Mich auch nicht.
Und
auch dich nicht.

Vater, vergib...
Heute... Paradies...
Am Kreuz.
Amen.





Sonntag, 20. März 2016

Gott fällt ins Bodenlose

Predigt an Palmsonntag zu Philipper 2

Denkt im Umgang miteinander immer daran, welchen Maßstab Christus Jesus gesetzt hat:
Von göttlicher Gestalt war er.
Aber er hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein – so wie ein Dieb an seiner Beute.
Sondern er legte die göttliche Gestalt ab und nahm die eines Knechtes an.
Er wurde in allem den Menschen gleich. In jeder Hinsicht war er wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis in den Tod –
ja, bis in den Tod am Kreuz.

Deshalb hat Gott ihn hoch erhöht:
Er hat ihm den Namen verliehen, der allen Namen überlegen ist.
Denn vor dem Namen von Jesus soll sich jedes Knie beugen –
im Himmel, auf der Erde und unter der Erde.
Und jede Zunge soll bekennen: »Jesus Christus ist der Herr!«
Das geschieht, um die Herrlichkeit Gottes, des Vaters, noch größer zu machen.

(Philipper 2,5-11 - Basisbibel)

I.
Er fiel ins Bodenlose, als er die Diagnose hörte.
Guido Westerwelle sollte nur am Miniskus operiert werden.
Doch dann waren die Blutwerte richtig schlecht. Leukämie - erfuhr er.
Und es ging los mit Chemotherapie. Die Suche nach dem Stammzellenspender.
Endlich einen gefunden. Der sprang dann ab. Ein neuer wurde gefunden.
Westerwelle vertrug die Zellentherapie nicht richtig.
Aber er gab die Hoffnung nicht auf.
Kämpfte um sein Leben. Und teilte seine Liebe.
Fühlte sich getragen und fiel doch ins Bodenlose.
Vorgestern ist er gestorben. Er hat den Kampf verloren.

II.
Sie fiel ins Bodenlose, die Bischöfin, die Ratsvorsitzende.
Erwischt mit Alkohol am Steuer. Ein schwerer Fehler, auf den sich die Medien stürzten.
„Ich falle nicht tiefer als in Gottes Hand“. Ja, diese Worte klangen richtig.
Und doch: Wie waren wohl die nächsten Tage und Nächte?
Die ganze Häme in den Kommentaren?
Die ganze Selbstgerechtigkeit derer, die sie schon immer am Boden liegen sehen wollten,
schon allein, weil sie eine Frau ist, die was zu sagen hat,
und die das auch tut, auch wenn das nicht alle gerne hören.
Sie legte ihr Amt nieder.
Das war kein Tod, aber den Makel wird sie nie wieder los.
Man braucht nur auf evangelikale Internetseiten zu gehen.
Es wird immer wieder rausgeholt.
Die Nacht damals, als sie ins Bodenlose fiel.

III. (danke an Aletta Dahlhaus)
Tag für Tag fällt er ins Bodenlose.
„Du Opfer!“ Die Worte noch im Ohr.
Und ihre grinsenden, herablassenden Gesichter. Die blauen Flecke unter seiner Haut.
Sie tun weh. Genau wie die Worte.
Aber immer so, dass es die Lehrer nicht mitbekommen.
Die Tasche geklaut. Das Handy abgezogen.
Aber er war wie erstarrt gewesen. Hat sich nicht gewehrt. Konnte es nicht.
Wollte es eigentlich auch nicht. 
Er will kein Opfer sein. Aber so einer wie die auch nicht.
Anderen wehzutun, das kann er sich nicht vorstellen.
Er weiß selbst, wie kaputt das einen machen kann.
Und wie man ins Bodenlose fällt. Ohne Ausweg.

IV.
Gott fällt ins Bodenlose.
Triumphaler Einzug in Jerusalem.
Er wird gefeiert als König, als Held, als Retter.
Doch dann fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.
Nein, an dem verbrennen wir uns nicht die Finger.
Die Palmzweige bleiben im Staub liegen, zertrampelt und zerrupft.
Der Staub von den Kleidern wird abgeklopft. Ist schließlich nicht mehr aktuell.
Ein paar Silberlinge gibt man noch aus, damit man ihn endlich loswerden kann.

Gott fällt ins Bodenlose.
Er fällt in Gethsemane auf die Knie und weint und fleht und bittet.
Seine Freunde schaffen es auch nicht mehr.
Er fällt in die Nacht, in das Dunkel, in die Angst.
Er kämpft um sein Leben, und weiß doch, dass es vergeblich ist.
Gibt es noch etwas, das bodenloser ist?

In jeder Hinsicht war er wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis in den Tod –
ja, bis in den Tod am Kreuz.


Das Kreuz ist noch bodenloser. Es ist der Abgrund.
Das Nichts. Das komplette Nein zu allem Leben und Lieben.
Dahinein fällt Jesus. Dahinein fällt Gott.

V.
Ist Gott zu schwach, um oben zu bleiben?
Er legte die göttliche Gestalt ab und nahm die eines Knechtes an.

Ein Gott, der sich kreuzigen lässt: "so ein Schwächling".
Ein Gott, der sich auf die Verliererstraße begibt.
Wie diese Bischöfin, die sich erwischen ließ.
Wie der Sterbenskranke, der sich an jede Therapie klammerte.
Wie das Mobbingopfer, das sich nicht wehren kann.
Und wie der Fremde, der Pech hat, dass er aus dem falschen Land kommt.
So ein Gott ist das?

VI.
Ja, so ein Gott ist das. Der Gott Jesu.
Dieser Gott fällt in einen Stall, dort wo nur Tiere hausen -
oder Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben.

Dieser Gott flieht nach Ägypten auf einem Esel.
Und er flieht aus Syrien und aus dem Irak und aus Eritrea.
Er kämpft um sein Leben. Wie die Menschen in Idomeni.
Oder die, die sich immer noch in Schlepperboote begeben.
Wieder und wieder. Weil es für sie keinen anderen Weg gibt.

Ja, dieser Gott geht in die Wüste.
Er kämpft mit dem Hunger und dem Durst und mit Machtphantasien.
Er weiß um die Bodenlosigkeit von Häme und Beleidigungen,
und um die Sehnsucht nach klaren Wegen.
Aber er weiß nicht, wo er abends schlafen wird.
Wie so viele in unserem Land, ob sie nun fremd sind oder hier geboren.

Und später lässt er sich bespucken und schlagen, festnageln und fesseln.
Öffentlich.
Er fällt ins Bodenlose und stirbt.
Er fällt richtig tief - ohne doppeltem Boden.
Ohne einen, der ihn festhält.

Er selber hält nichts fest. Noch nicht mal sich selber.
Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis in den Tod –
ja, bis in den Tod am Kreuz.

VI.
Dieser Gott fällt ins Bodenlose und er kämpft um sein Leben.
Um ein Leben in Liebe.

Denn die teilt er aus, grenzenlos. Und voller Macht.
Er heilt den Taubstummen und gibt ihm die Sprache zurück.
Er umarmt die Kleinen und schenkt ihnen Würde.
Er holt den Zyniker vom Baum und lässt ihn neuanfangen.
Er hört der Frau am Brunnen zu und spricht die Worte, die alles gut machen.
Er richtet die Gekrümmte auf und weint um seinen Freund Lazarus. 
(danke an Michael Greßler)
Und er teilt das Brot - an alle.

Aber vor allem geht er selbst dahin, wo sich der Boden auf tut,
wo er hinfällt, in die Tiefe fällt, in den Abgrund.

Und so kannst du sehen, wer Gott ist und was er ist:
der, der an deiner Seite ist und nicht von deiner Seite weicht,
auch wenn du am Boden liegst.

Er legte die göttliche Gestalt ab und nahm die eines Knechtes an.
Er wurde in allem den Menschen gleich.

 
Er teilt sein Leben und seine Liebe mit dir, egal wo du bist.
Er, der noch nicht mal sich selber festhält, damit er dich halten kann.
Gott ist die Liebe, die sich austeilt und die keine Grenzen kennt,
noch nicht mal den Tod.

VII.
Das geschieht, um die Herrlichkeit Gottes, des Vaters, noch größer zu machen.

Der Gott, der ins Bodenlose fällt,
ist dort, wo du bist und wo ich bin,
wo Guido Westerwelle ist und Margot Käßmann war,
und das Mobbingopfer ebenso.
Gott ist in Idomeni und auf den Schlepperbooten, in Istanbul und Ankara,
und am Frühstückstisch der Alleinerziehenden,
die nicht weiß, wie sie die Klassenfahrt bezahlen soll.

Ja, da ist der Gott, der ins Bodenlose fällt.
Und dieser Gott zeigt so sein wahres Gesicht.
Sein Name ist die Liebe, die sich austeilt und die aufrichtet.
Und sie lässt sich nicht stoppen
weder von unserer Blindheit noch gar vom Tod.
Darum musste diese Liebe ans Kreuz.

VIII.
Diese Liebe stellt nämlich alles auf den Kopf.
Sie macht aus dem Opfer den Ehrenbürger und gibt dem Namenlosen einen Namen.
Die Gedemütigte wird aufgerichtet und spricht hoch erhobenen Hauptes,
der Tote wird zum Leben geführt.

Und aus einer Stadt, deren Bewohner Angst vor der Zukunft haben
und die deshalb den rechten Rattenfängern auf den Leim gehen,
aus so einer Stadt wird eine, die sich auf Veränderungen freut
und Fremde und Einheimische fröhlich zusammenleben lässt.
Es wird so sein.
Weil die Liebe sich nicht stoppen lässt. Noch nicht mal vom Kreuz.

Und für diese Liebe fällt er ins Bodenlose.
An deine Seite. Und an meine auch.

Amen.

Sonntag, 13. März 2016

Von Tränen und Zuhören und einem Sohn, der ganz unten ist

Predigt zu Hebräer 5

(vorherige Lesung aus Markus 14 =  Gethsemane-Szene)

In den Tagen seines irdischen Lebens hat Jesus
seine Gebete und sein Flehen vor Gott gebracht.
Mit lautem Rufen und unter Tränen
brachte er sie vor Gott.
Denn der konnte ihn aus dem Tod retten.
Und aufgrund seiner Ehrfurcht vor Gott
ist er erhört worden.
Obwohl er der Sohn war,
musste er durch das, was er gelitten hat,
den Gehorsam lernen.
So wurde er zur Vollendung gebracht.
Seitdem ist er für alle, die ihm gehorsam sind,
der Urheber ihrer ewigen Rettung geworden.

(Hebräer 5,7-9, Basisbibel)

I. 
Sie stand etwas verloren da
vor dem Altarraum
betrachtete das Kreuz
nach dem Gottesdienst.
Sie schien auf mich zu warten.
Und so trat ich zu ihr.
„Kann ich was für Sie tun?“
Sie nickte.
„Haben Sie kurz Zeit für mich?
Ich brauche eine, die mir zuhört.“
Wir setzten uns in die Taufecke,
weit weg von den anderen am Eingang.
Stumm saßen wir da.
Und plötzlich flossen die Tränen.
Ihr ganzer Körper bebte.
Aus meiner Tasche wühlte ich die Taschentücher heraus.
Wortlos nahm sie diese entgegen.
Und dann erzählte sie mir
stockend
von ihrem Lebensgefährten, der eine andere hat.
Und sie hat ihn belauscht.
Und seine Whats-App Nachrichten gelesen,
die er an die andere geschrieben hat.
Dafür schämt sie sich.
Und für ihre Tränen.
Für ihre Wut.
Und ihren Hass.

Mit lautem Rufen und unter Tränen
brachte Jesus sein Flehen vor Gott.


II. (Gethsemane)
Dunkel ist es hier zwischen den Sträuchern
und unter den Bäumen.
Da hinten sitzen die Freunde.
Ja, einmal tief durchatmen.
Zur Besinnung kommen.
Die letzten Stunden sacken lassen.
In sich hören. Auf Gott hören.
Denn die Seele ist betrübt.

Der Verrat von Judas.
Die Angst der Hohepriester.
Das Machtgehabe der Römer.
Der Wankelmut des Volkes.
Aufgeheizte Stimmung in Jerusalem.
Und er, Jesus,  mittendrin.
Der Druck ist einfach zu groß.
Und ja, er hat Angst.
Verdammte Angst vor dem, was kommt.

Gott, hörst du mich?
Aus der Tiefe, HERR, rufe ich dich:
Mein Herr, höre meinen Hilfeschrei!
Deine Ohren sollen aufmerksam sein!
Vernimm mein Flehen um Gnade! 

(Psalm 130)

Die Tränen fließen.
Gott, hörst du mich?
Hört mich sonst einer?
Wer steht mir bei?
Wer rettet mich?
Wer stützt mich?
Du, Gott?

Mit lautem Rufen und unter Tränen
brachte Jesus sein Flehen vor Gott.


III.
Tränen fließen.
Im Garten Gethsemane und in der Kirche.
Nach der 5 in der Mathearbeit und im Liebeskummer.
Auf dem Friedhof und am Grenzzaun.
Am Sterbebett und im Abschiebegefängnis.
Zwischen den Bombentrümmern
und im Bett, das nun viel zu groß ist.
Es sind die Tränen von Maria von Magdala,
deren ganze Hoffnung am Kreuz stirbt.
Es sind die Tränen von Bathseba,
die ihr totes Kind im Arm hält.
Und die Tränen von Jeremia,
der um das zerstörte Jerusalem weint.
Es sind die Tränen Gottes.

IV.
Ja, Gott weint.
Weil er hört.
Er hört hin.
Hört zu.

Er sitzt nicht oben
im fernen Himmel
auf einem Thron.
Sondern hat sein Ohr ganz unten.
Er hört das Schreien seines Volkes in Ägypten.
Er hört das Murren in der Wüste.
Das Klagen an den Wassern in Babylon.
Und Hiob,
der seinem Gott seine ganze Wut entgegen brüllt.

Gott hört.
Gott hört, was in dir ist.
Er setzt sich mit dir auf die Bank.
Er kniet mit dir im dunklen Garten Gethesemane.
Und hockt bei dir im Schlamm an der mazedonischen Grenze.
Gott nimmt die vom IS vergewaltigten Frauen in den Arm
und richtet sie auf.
Gott hört ihr Weinen.
Und dein Weinen auch.
Denn Gott ist ganz da.
Ganz unten.
Da, wo du bist.

V. (die Idee für die beiden nächsten Abschnitte verdanke ich Michael Greßler)
„Obwohl er der Sohn war...“
hören wir.
"Obwohl..."
Du musst doch gar nicht weinen, Jesus.
Du könntest doch anders.
Du könntest rausgehen aus dem Garten.
Mit erhobenen Armen die Römer aus der Stadt jagen,
und sie untergehen lassen im Meer,
wie es einst Mose getan hat.
Oder du klärst auf, dass das alles ein Missverständnis war,
und dann führst du ein ganz normales Leben wie alle anderen auch.
Oder du verbündest dich mit den Mächtigen der Stadt,
und dann stehst du auch auf der Seite der Sieger.
Oder du präsentierst den Soldaten einen anderen,
dem man die Schuld in die Schuhe schieben kann.
Oder du begibst dich sofort in den Himmel,
da wo es schön ist und kein Schmerz und kein Leid.
Und du machst die Himmelstür einfach hinter dir zu.
Und die Grenzen dicht.

Das alles könntest du tun.
Weil du der Sohn bist.
Der Sohn Gottes.
Und Gott ist doch allmächtig.

Obwohl er der Sohn war,
musste er durch das, was er gelitten hat,
den Gehorsam lernen.
So wurde er zur Vollendung gebracht.


VI.
Aber du tust es nicht.
Du gehst diesen deinen Weg.
Den Weg, den wir alle gehen.
Du stellst die Frage nach dem Warum.
Du weißt nicht, wem du noch trauen kannst.
Fühlst dich alleingelassen.
Verraten und verkauft.
Du gehst diesen deinen Weg ans Kreuz.
Denn Gott hört dich.
Und du hörst Gott.
Und mit Gott hörst du die Welt.

Nicht obwohl du der Sohn bist.
Sondern weil du der Sohn bist.

Denn das ist dein wahres Ich.
Und das wahre Ich Gottes.
War es das, was du gehört hast in Gethesemane?
„Nicht, was ich will, sondern was du willst.“
Und so wurdest du zur Vollendung gebracht.

VII.
Deine Tränen sind meine Tränen.
Weil du bist, der du bist,
fallen meine Tränen nicht ins Leere.
An keinem Ort der Tränen bin ich allein.
Denn du hörst mich.
Hörst mir zu.
Hörst mich an.
Ohne mich zu verurteilen.
Ohne mich zu verdammen.
Ohne mir meine Tränen auszureden.
Sie dürfen fließen.
Weil du da bist.
Weil du der Sohn bist.

VIII.
Und so stehe auch ich in Gethsemane
und weiß nicht, wem ich noch trauen kann,
und habe Todesangst.
Oder ich sitze in der Kirche und schäme mich.
Vielleicht habe ich Angst vor morgen,
ob die Synode auch richtig entscheiden wird.
Vielleicht ertrage ich nicht mehr,
mit wievielen Vorurteilen Menschen einander begegnen.
Oder ich klammere mich am Grenzzaun in Idomeni
und weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Aber du hörst mich.
Und ich höre auf dich.
Weil ich dazu gehöre.
Zu dir.
Einfach so.
So wie ich bin
mit meiner Angst,
meinem Zweifel,
meiner Wut,
meinen Tränen.

Und dann spüre ich, wie es sein soll.
Die Tränen sollen nicht ins Leere fallen.
Sie fallen in Gottes Seele.
Und die Tränen der anderen fallen in meine Seele.
Ich höre ihr Rufen und kann nicht mehr weghören.
Ich sehe die Tränen und kann nicht mehr wegschauen.
Sie gehen mich was an.
Grenzen dicht machen - das geht nicht.
Selbst wenn Politiker das sagen.
Denn auch die anderen da draußen gehören zu dir, Gott.

XI.
Die Frau aus der Kirche gab mir die Taschentuchpackung zurück.
Sie sah erschöpft aus.
Aber sie richtete sich leicht auf.
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich.
„Mich umarmen.
Und für mich beten.“
Ich umarmte sie.
Und betete für sie.
Dann stand sie auf.
„Danke“ und gab mir die Hand.
Ich blieb noch eine Weile sitzen.
Horchte weiter.

Und wusste:
Mit lautem Rufen und unter Tränen
bringt Jesus sein Flehen vor Gott.

Amen.