Sonntag, 13. März 2016

Von Tränen und Zuhören und einem Sohn, der ganz unten ist

Predigt zu Hebräer 5

(vorherige Lesung aus Markus 14 =  Gethsemane-Szene)

In den Tagen seines irdischen Lebens hat Jesus
seine Gebete und sein Flehen vor Gott gebracht.
Mit lautem Rufen und unter Tränen
brachte er sie vor Gott.
Denn der konnte ihn aus dem Tod retten.
Und aufgrund seiner Ehrfurcht vor Gott
ist er erhört worden.
Obwohl er der Sohn war,
musste er durch das, was er gelitten hat,
den Gehorsam lernen.
So wurde er zur Vollendung gebracht.
Seitdem ist er für alle, die ihm gehorsam sind,
der Urheber ihrer ewigen Rettung geworden.

(Hebräer 5,7-9, Basisbibel)

I. 
Sie stand etwas verloren da
vor dem Altarraum
betrachtete das Kreuz
nach dem Gottesdienst.
Sie schien auf mich zu warten.
Und so trat ich zu ihr.
„Kann ich was für Sie tun?“
Sie nickte.
„Haben Sie kurz Zeit für mich?
Ich brauche eine, die mir zuhört.“
Wir setzten uns in die Taufecke,
weit weg von den anderen am Eingang.
Stumm saßen wir da.
Und plötzlich flossen die Tränen.
Ihr ganzer Körper bebte.
Aus meiner Tasche wühlte ich die Taschentücher heraus.
Wortlos nahm sie diese entgegen.
Und dann erzählte sie mir
stockend
von ihrem Lebensgefährten, der eine andere hat.
Und sie hat ihn belauscht.
Und seine Whats-App Nachrichten gelesen,
die er an die andere geschrieben hat.
Dafür schämt sie sich.
Und für ihre Tränen.
Für ihre Wut.
Und ihren Hass.

Mit lautem Rufen und unter Tränen
brachte Jesus sein Flehen vor Gott.


II. (Gethsemane)
Dunkel ist es hier zwischen den Sträuchern
und unter den Bäumen.
Da hinten sitzen die Freunde.
Ja, einmal tief durchatmen.
Zur Besinnung kommen.
Die letzten Stunden sacken lassen.
In sich hören. Auf Gott hören.
Denn die Seele ist betrübt.

Der Verrat von Judas.
Die Angst der Hohepriester.
Das Machtgehabe der Römer.
Der Wankelmut des Volkes.
Aufgeheizte Stimmung in Jerusalem.
Und er, Jesus,  mittendrin.
Der Druck ist einfach zu groß.
Und ja, er hat Angst.
Verdammte Angst vor dem, was kommt.

Gott, hörst du mich?
Aus der Tiefe, HERR, rufe ich dich:
Mein Herr, höre meinen Hilfeschrei!
Deine Ohren sollen aufmerksam sein!
Vernimm mein Flehen um Gnade! 

(Psalm 130)

Die Tränen fließen.
Gott, hörst du mich?
Hört mich sonst einer?
Wer steht mir bei?
Wer rettet mich?
Wer stützt mich?
Du, Gott?

Mit lautem Rufen und unter Tränen
brachte Jesus sein Flehen vor Gott.


III.
Tränen fließen.
Im Garten Gethsemane und in der Kirche.
Nach der 5 in der Mathearbeit und im Liebeskummer.
Auf dem Friedhof und am Grenzzaun.
Am Sterbebett und im Abschiebegefängnis.
Zwischen den Bombentrümmern
und im Bett, das nun viel zu groß ist.
Es sind die Tränen von Maria von Magdala,
deren ganze Hoffnung am Kreuz stirbt.
Es sind die Tränen von Bathseba,
die ihr totes Kind im Arm hält.
Und die Tränen von Jeremia,
der um das zerstörte Jerusalem weint.
Es sind die Tränen Gottes.

IV.
Ja, Gott weint.
Weil er hört.
Er hört hin.
Hört zu.

Er sitzt nicht oben
im fernen Himmel
auf einem Thron.
Sondern hat sein Ohr ganz unten.
Er hört das Schreien seines Volkes in Ägypten.
Er hört das Murren in der Wüste.
Das Klagen an den Wassern in Babylon.
Und Hiob,
der seinem Gott seine ganze Wut entgegen brüllt.

Gott hört.
Gott hört, was in dir ist.
Er setzt sich mit dir auf die Bank.
Er kniet mit dir im dunklen Garten Gethesemane.
Und hockt bei dir im Schlamm an der mazedonischen Grenze.
Gott nimmt die vom IS vergewaltigten Frauen in den Arm
und richtet sie auf.
Gott hört ihr Weinen.
Und dein Weinen auch.
Denn Gott ist ganz da.
Ganz unten.
Da, wo du bist.

V. (die Idee für die beiden nächsten Abschnitte verdanke ich Michael Greßler)
„Obwohl er der Sohn war...“
hören wir.
"Obwohl..."
Du musst doch gar nicht weinen, Jesus.
Du könntest doch anders.
Du könntest rausgehen aus dem Garten.
Mit erhobenen Armen die Römer aus der Stadt jagen,
und sie untergehen lassen im Meer,
wie es einst Mose getan hat.
Oder du klärst auf, dass das alles ein Missverständnis war,
und dann führst du ein ganz normales Leben wie alle anderen auch.
Oder du verbündest dich mit den Mächtigen der Stadt,
und dann stehst du auch auf der Seite der Sieger.
Oder du präsentierst den Soldaten einen anderen,
dem man die Schuld in die Schuhe schieben kann.
Oder du begibst dich sofort in den Himmel,
da wo es schön ist und kein Schmerz und kein Leid.
Und du machst die Himmelstür einfach hinter dir zu.
Und die Grenzen dicht.

Das alles könntest du tun.
Weil du der Sohn bist.
Der Sohn Gottes.
Und Gott ist doch allmächtig.

Obwohl er der Sohn war,
musste er durch das, was er gelitten hat,
den Gehorsam lernen.
So wurde er zur Vollendung gebracht.


VI.
Aber du tust es nicht.
Du gehst diesen deinen Weg.
Den Weg, den wir alle gehen.
Du stellst die Frage nach dem Warum.
Du weißt nicht, wem du noch trauen kannst.
Fühlst dich alleingelassen.
Verraten und verkauft.
Du gehst diesen deinen Weg ans Kreuz.
Denn Gott hört dich.
Und du hörst Gott.
Und mit Gott hörst du die Welt.

Nicht obwohl du der Sohn bist.
Sondern weil du der Sohn bist.

Denn das ist dein wahres Ich.
Und das wahre Ich Gottes.
War es das, was du gehört hast in Gethesemane?
„Nicht, was ich will, sondern was du willst.“
Und so wurdest du zur Vollendung gebracht.

VII.
Deine Tränen sind meine Tränen.
Weil du bist, der du bist,
fallen meine Tränen nicht ins Leere.
An keinem Ort der Tränen bin ich allein.
Denn du hörst mich.
Hörst mir zu.
Hörst mich an.
Ohne mich zu verurteilen.
Ohne mich zu verdammen.
Ohne mir meine Tränen auszureden.
Sie dürfen fließen.
Weil du da bist.
Weil du der Sohn bist.

VIII.
Und so stehe auch ich in Gethsemane
und weiß nicht, wem ich noch trauen kann,
und habe Todesangst.
Oder ich sitze in der Kirche und schäme mich.
Vielleicht habe ich Angst vor morgen,
ob die Synode auch richtig entscheiden wird.
Vielleicht ertrage ich nicht mehr,
mit wievielen Vorurteilen Menschen einander begegnen.
Oder ich klammere mich am Grenzzaun in Idomeni
und weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Aber du hörst mich.
Und ich höre auf dich.
Weil ich dazu gehöre.
Zu dir.
Einfach so.
So wie ich bin
mit meiner Angst,
meinem Zweifel,
meiner Wut,
meinen Tränen.

Und dann spüre ich, wie es sein soll.
Die Tränen sollen nicht ins Leere fallen.
Sie fallen in Gottes Seele.
Und die Tränen der anderen fallen in meine Seele.
Ich höre ihr Rufen und kann nicht mehr weghören.
Ich sehe die Tränen und kann nicht mehr wegschauen.
Sie gehen mich was an.
Grenzen dicht machen - das geht nicht.
Selbst wenn Politiker das sagen.
Denn auch die anderen da draußen gehören zu dir, Gott.

XI.
Die Frau aus der Kirche gab mir die Taschentuchpackung zurück.
Sie sah erschöpft aus.
Aber sie richtete sich leicht auf.
„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich.
„Mich umarmen.
Und für mich beten.“
Ich umarmte sie.
Und betete für sie.
Dann stand sie auf.
„Danke“ und gab mir die Hand.
Ich blieb noch eine Weile sitzen.
Horchte weiter.

Und wusste:
Mit lautem Rufen und unter Tränen
bringt Jesus sein Flehen vor Gott.

Amen.

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