Montag, 30. November 2015

Die Tore gehen auf

Predigt zu Jeremia 23,5-8
 
(Vorbemerkung:
Diese Predigt wurde gehalten zum 1.Advent 2014 und zur Einweihung des neuen Gemeindehauses in Büchenbronn - kurz nach den Jubliläumsfeierlichekeiten zum Mauerfall.
Mittlerweile wird im Gemeindehaus in Büchenbronn ein Kirchenasyl gewährt! Darum veröffentliche ich diese Predigt an dieser Stelle!)


Jeremia 23,5-6
5 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.
6 Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR unsere Gerechtigkeit«.
7 Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«,
8 sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.


I.
Siehe es kommt die Zeit, da gehen die Tore auf!
Drei Wochen liegt sie zurück.
Die Feier der offenen Tore.
Macht die Tore auf!
So riefen vor 25 Jahren die Menschen
Grenzübergang der  Bornholmer Straße.
Und die Tore gingen auf.
Und die Menschen zogen ins Land,
freudiger Erwartung einer neuen Freiheit.
Und die Menschen gingen über die Brücken
und stiegen über die Mauern
und hofften auf blühende Landschaften.
Aber sie glaubten nicht alles, was die führenden Politiker versprachen.
Machtversessenheit und Machtvergessenheit gibt es
in Ost und West, Süd und Nord.
Ob der Westen wirklich besser wohl regieren
und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben kann?
Skepsis ist berechtigt. Ernüchterung macht sich breit.

II.
Siehe es kommt die Zeit, da gehen die Tore auf!
Let my people go - lass mein Volk ziehen,
rufen Mose und seine Leute dem Pharao zu.
Mach die Tore für uns auf!
Harte Verhandlungen,
schwere Rückschläge,
gefährliche Muskelspiele -
endlich beugt sich der Pharao dieser Forderung.
Das Volk Israel weiß Gott an seiner Seite,
erwartet eine neue Freiheit, 
überwindet Meere, Wüsten, Hunger, Durst und Zweifel.
Ziel: das gelobte Land,
dort, wo Recht und Gerechtigkeit herrschen -
und endlich sicher wohnen!

Hunderte von Jahren später:
Deportationen, Enteignungen,
Verlust von Heimat, von Grund und Boden.
Ein kleiner Rest bleibt zurück.
Die Träume zerstört.
Nichts mit Freiheit.
Nichts mit Recht und Gerechtigkeit.
Ob wir noch eine Zukunft haben?
Das Volk ist skeptisch,
weiß es doch um seine Führer,
korrupt, machtversessen und ungläubig.
Ja, man sehnt sich nach einem gerechten, einem wirklich gerechten König,
nach einem, der weiß, dass er mehr Diener als Herrscher ist.
Nein, die alten Rezepte taugen nichts mehr.
Militärische Bündnisse und Muskelspiele erweisen sich als Seifenblasen.
Let my people go!

III.
Siehe es kommt die Zeit, da gehen die Tore auf!
Vor den Mauern Europas harren sie und hoffen.
Hoffen, dass sie hineinkommen,
die Männer aus Gambia,
die Frauen aus Syrien,
die yesidischen Kinder.
Die Verstoßenen, sie wollen im Lande wohnen.
Endlich wieder sicher wohnen.
Bleiberecht bekommen.
Und die Menschen gehen über die Brücken
und steigen über die Mauern
und kommen über das Meer, wo sie in überfüllten Booten versinken,
und die überfüllten Inseln Italiens können sie nicht mehr aufnehmen.

Vor den Mauern Europas harren sie und hoffen.
Aber für sie gehen die Tore nicht auf.
Sie bleiben geschlossen,
Sie sind nicht nützlich.
Sie bringen kein Geld.
Sie bringen keinen politischen Vorteil.
Sie haben keinen Leumund.
Warum sie dann herein lassen?
So fragt man am Stammtisch und auf Facebook.
Gefährliche Bündnisse und Muskelspiele der rechten Szene kommen auf.
Und sind leider keine Seifenblasen...

IV.
Siehe es kommt die Zeit, da gehen die Tore auf!
Ob er kommt?
Ob er wirklich kommt?
Dieser Jesus?
Hinter den Toren harren sie und hoffen, dass er es ist,
der König, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.
Der König, der alles ändert.
Und dann gehen die Tore auf.

Da kommt einer auf einem Esel daher.
Ein paar lumpige Gesellen dabei.
Sonst nichts.
Ein guter Redner soll er sein.
Aber mit ungewisser Herkunft.
Eigenartige Methoden hat er:
lädt Zöllner und Sünderinnen ein.
Unterhält sich mit Frauen am Brunnen
und legt sich mit der religiösen Aristokratie an.
Einer, der die Armen seligpreist,
und mit ihnen die Verfolgten und Friedfertigen und Sanftmütigen.
Einer, der heruntergekommen ist
und Angst und Schweiß und Tränen kennt.

Tore gehen auf in Jerusalem.
Der Weg wie ein Tisch gedeckt.
Herzlich Willkommen, du König der Ehre.
Aber es gehen auch Türen zu.
Nein, so einen König wollen wir nicht.
Der ist nicht nützlich.
Der bringt kein Geld.
Der bringt keinen politischen Vorteil.
Der hat keinen Leumund.
Der macht aber Ärger. Der stört unsere Kreise.
Warum ihn dann herein lassen?
So fragt man im Palast und im Tempel.
Gefährliche Bündnisse und Muskelspiele der frommen Szene kommen auf.
Und werden brutale Wirklichkeit....

V.
Machen wir für ihn die Tore auf?
Wissen wir worauf wir uns einlassen, wenn wir ihn einlassen?
Er schaut uns an und wir können uns nicht verstecken.
Er stellt sich vor uns hin und wir kommen an ihm nicht vorbei.
Er spricht zu uns und wir können ihn nicht überhören.
Er setzt sich an unseren Tisch und wir teilen, was wir haben.

Und wir  - wir schmecken wie freundlich der Herr ist.
Wir - wir spüren Recht und Gerechtigkeit auf der Zunge und in den Händen.
Wir wissen, dass die ganze Welt mit am Tisch sitzt.
Und er - er lässt uns die Türen und Tore unserer Häuser öffnen.
Und es kommen noch mehr herein.

Die Verstoßenen, sie wollen im Lande wohnen.
Und er mittendrin - er, der König der Ehre.
Darauf lassen wir uns ein, wenn wir ihn einlassen!
Machen wir für ihn die Tore auf?
Die Tore in unser Leben? In unser Herz?

VI.
Siehe es kommt die Zeit, da gehen die Tore auf!
Heute gehen die Tore vom neuen Gemeindehaus auf.
Endlich! Es wurde höchste Zeit!
Herzlich willkommen, du König der Ehre.
Willkommen, du Mann auf dem Esel!
Willkommen ihr Menschen von Nah und Fern.
Ihr fühlt euch nutzlos? Willkommen!
Ihr habt kein Geld? Herein mit euch!
Ihr bringt keinen politischen Vorteil? Tretet ein!
Ihr habt keinen Leumund? Kommt und setzt euch an den Tisch!
Ihr mit eurem Lachen und eurem Weinen,
ihr mit eurer Schuld und eurer Liebe,
ihr mit eurer Leichtigkeit und eurer Schwere.
Alle, die ihr da seid. Willkommen!

Die Tore sind offen.
Das Haus ist bereit.
Leben zieht ein - mit dem König auf dem Esel.
Mit den Verstoßenen.
Mit den Menschen aus Norden und Süden.

Und auch die Tore Europas werden aufgehen
wie die Tore zu unseren Herzen.
Und die Tore zum Gemeindehaus.
Sie werden aufgehen müssen.
Um der Menschen willen.
Um der Liebe willen.
Um Gottes willen.
Denn wir sitzen mit der Welt an einem Tisch
und schmecken und sehen, wie freundlich der Herr ist.
Und wir spüren Recht und Gerechtigkeit
auf der Zunge und in den Händen.
Gefährliche Bündnisse und Muskelspiele
zerplatzen wie Seifenblasen
und haben keinen Platz mehr.

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, 
dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. 
Der soll ein König sein, der wohl regieren 
und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.

Öffnen wir ihm die Tore und lassen ihn herein!

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, 
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. 
Amen.

Samstag, 21. November 2015

Kirchenasyl: Gott wird bei dir wohnen

Meditation zu Offenbarung 21 mit Dank an Jens
 
»Sieh doch:
Gottes Wohnung bei den Menschen!
Er wird bei ihnen wohnen
und sie werden seine Völker sein.
Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein.
Und er wird jede Träne abwischen von
ihren Augen.
Es wird keinen Tod und keine Trauer mehr geben,
kein Klagegeschrei und keinen Schmerz.
Denn was früher war,
ist vergangen.«
(Offenbarung 21)

Gott wird bei dir wohnen.
Vielleicht schon morgen?
Dann klopft er an die Tür,
hat einen Zettel dabei,
darauf steht "Kirchenasyl" -
den hat ihm seine Anwältin gegeben,
weil sie Angst um ihn hat.
Denn er darf nicht bleiben,
weil er in Bulgarien registriert wurde.

Gott wird bei dir wohnen.
Er tritt ein. Tastend.
Vorsichtig formt er Worte.
Sucht in deinem Gesicht,
ob er dir vertrauen kann.
Ob du es gut mit ihm meinst.
Ob er endlich in Sicherheit ist.
Und dann ein leises Lächeln.
Die Augen immer noch ernst.

Gott wird bei dir wohnen.
Und du lässt ihn in deine Kirche.
Deine Gemeinde sagt ja!
Willkommen.
Wohne hier.
Ein Feldbett von der letzen Konfi-Freizeit.
Ein Tisch.
Ein Stuhl.
Eine Lampe.
Und Sonntag nachmittag Apfelkuchen.
Und Tassen mit Tee.
Lächelnde Augen.

Gott wird bei dir wohnen.
Doch das darf er nicht.
Seine Fingerabdrücke sind in Bulgarien.
Also soll er dort wohnen.
Nicht bei dir.
Nicht hier.
Politiker schreiben "Rechtsbruch!"
Leser antworten "Raus!"
Aber Gott bleibt bei dir.

Gott wird bei dir wohnen.
Es wird keinen Tod und keine Trauer mehr geben,
kein Klagegeschrei und keinen Schmerz.
Für ihn nicht.
Und für dich nicht.
Denn jetzt ist er hier.
Das alleine zählt.
Gott spricht kurdisch.
Und arabisch.
Und ein paar Brocken deutsch.
Und wenn er erzählt,
kommen Tränen und Schmerz.
Aber es ist vorbei.
Weil er bei dir wohnen kann.

Gott wird bei dir wohnen.
Was früher war,
ist vergangen.
Das ist deine Hoffnung.
Und seine.
Und meine.
Dass er hier wohnen bleiben darf.

Gott wird bei dir wohnen.
Mit dem Gesicht eines Irakers.
Gott segne dein Haus.

Amen.
 




Sonntag, 15. November 2015

Das Leben lieben - Predigt für zornige und Gott-müde Menschen (Hiob 14)

 (Vorbemerkung: Die Stadtkirche gehört zur Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry. Der Jahrestag der Bombadierung von Coventry durch die deutsche Luftwaffe jährte sich zum 75. Mal am Vortag. Außerdem kam es zu einem spontanen Friedensgebet angesichts der Terroranschläge in Paris vom 13.11.2015)
 
I.
Hiob ist zornig.
Hiob hat alles verloren, was man so verlieren kann.
Seine Kinder.
Seinen Besitz.
Seine Stellung in der Gesellschaft.
Nur sein Leben hat er noch.
Aber auch das nur unter Schmerzen.
Seine Freunde wollen ihm vormachen,
dass Gott das schon alles richtig macht,
und dass er, Hiob, bestimmt was falsch gemacht hat.
Denn Gott muss doch gerecht sein.
Nein, schreit Hiob seine Freunde an.
Das stimmt nicht. Gott ist nicht gerecht.
Das wisst ihr im Grunde auch.
Und du, Gott, weißt das auch!

Und so hören wir Hiob, wie er sagt (14,1-6):
Der Mensch, vom Weibe geboren,
lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
geht auf wie eine Blume und fällt ab,
flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
Doch du tust deine Augen über einen solchen auf,
dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen?
Auch nicht einer!
Sind seine Tage bestimmt,
steht die Zahl seiner Monde bei dir
und hast du ein Ziel gesetzt,
das er nicht überschreiten kann:
so blicke doch weg von ihm,
damit er Ruhe hat,
und sich wie ein Tagelöhner seines Tages erfreut.
(Korrektur der Lutherübersetzung)

Ja, Gott, du weißt genau, dass kein Mensch ohne Schuld ist.
Denn du hast uns Menschen ja so gemacht.
Und dann bestrafst du uns auch noch dafür.
Ach, lass uns doch am besten einfach in Ruhe.
Denn Hilfe habe ich von dir nicht zu erwarten.

II.
Hiob ist nicht nur zornig.
Hiob ist Gott-müde.
Er hat keine Lust mehr auf diesen Gott,
von dem er sich in Stich gelassen fühlt.
Und wer wollte ihm das verdenken?
Ich nicht.
Nicht wenige kritische Geister in Paris haben auch keine Lust mehr auf Gott.
Sie sind sogar dagegen, für Paris zu beten.
Sie wollen weniger Gott, weniger Religion,
denn Religion zerstört ihre Liebe zum Leben.
So sehen das mittlerweile viele.
Wer wollte ihnen das verdenken?
Hiob würde sich sofort an ihre Seite stellen.

III.
Es ist eigentlich erstaunlich:
Die meisten Menschen halten in Katastrophen an ihrem Glauben fest.
Sie halten an ihrem Gott fest.
Die syrischen Christen,
obwohl ihre Glaubensgeschwister als Geiseln herhalten müssen.
Die Yesiden,
obwohl ihre Verwandten in Massengräbern im Sindschar-Gebirge verscharrt wurden.
Die syrischen Muslime,
obwohl ihre Familien durch Fassbomben ausgelöscht wurden.
Oder auch die Menschen damals in Coventry (14.11.1940),
obwohl ihre Nachbarn getötet wurden und die Kathedrale zerstört.

Ja, sie halten an ihrem Gott fest,
weil er das letzte ist, was sie noch haben.
Oder weil er das Beste ist, was sie noch haben.
Sie hoffen, dass er sie sieht.
Dass er sie hört.
Dass er ihnen hilft.
Oder zumindest an ihrer Seite ist.
Und dass er ihnen Kraft gibt, wieder von vorne anzufangen.

IV.
Hiob, hast du diese Hoffnung verloren?
Ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist;
er kann wieder ausschlagen,
und seine Schösslinge bleiben nicht aus.
Ob seine Wurzel in der Erde alt wird
und sein Stumpf im Boden erstirbt,
so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers
und treibt Zweige wie eine junge Pflanze.
Stirbt aber ein Mann, so ist er dahin; kommt ein Mensch um - wo ist er?
Wie Wasser ausläuft aus dem See, und wie ein Strom versiegt und vertrocknet,
so ist ein Mensch, wenn er sich niederlegt, er wird nicht wieder aufstehen;
er wird nicht aufwachen, solange der Himmel bleibt,
noch von seinem Schlaf erweckt werden.

(Hiob 14,7-12)

Es fällt dir schwer, zu hoffen, Hiob.
Du siehst die neuen Triebe am Baumstumpf.
Hoffnungszweige im Herbst.
Aufkeimender Neuanfang.
Ja, in der Natur gibt es das.
Aber beim Menschen nicht, sagst du.
Da ist kein Neuanfang möglich,
jedenfalls nicht wenn er stirbt.
Tot ist tot. Aus und vorbei.
Du bist wirklich Gott-müde, Hiob.
Und das tut mir in der Seele weh.
Weil ich weiß, dass es da nur falsche Worte gibt.

V.
Aber lass mich dir doch folgendes sagen:
Du bist mutig, Hiob.
Du lehnst dich dagegen auf, wie deine Freunde dich vertrösten wollen.
Du lehnst dich gegen einen Gott auf, der immer nur Recht hat.
Du lehnst dich dagegen auf, dass deine Leiden Gottes Strafe sein sollen.
Und dass du daran schuld sein sollst.
Es ist mutig, zuzugeben, dass du Gott-müde bist.

Jedenfalls zu deiner Zeit ist es mutig.
Klagen war erlaubt.
Aber Gott anklagen?
Das geht zu deiner Zeit nicht. 
Absolutes No-Go.
Aber du traust dich.

Heute trauen es sich mehr Menschen zu sagen.
Das ist auch in Ordnung so.
Und darum bin ich froh, dass du, Hiob, in unserer Bibel bist.
Menschen sollen Gott anklagen dürfen.
Menschen sollen sagen dürfen, dass sie Gott-müde sind.
Dass sie von Gott in Ruhe gelassen werden dürfen.
Sie sollen es sagen dürfen,
auch wenn es mir unendlich Leid tut.

VI.
Was könnte denn für dich der Geruch des Wassers sein,
der die Zweige hervorbringt beim abgestorbenen Baumstumpf?
Was ist es, das die Bewohner von Paris auf den Platz treibt
und sie mit Lichtern schreiben lässt: „Not afraid“?
Was ist es, das den Probst von Coventry vor 75 Jahren dazu gebracht hat, Unerhörtes zu tun? Nämlich die Aussöhnung der Kriegsfeinde zu fordern?
Was ist es, das die syrischen Familien nicht in den Riesenlagern im Libanon oder in der Türkei warten lässt? Ist es nur ihre Ungeduld, weil es dort keine Perspektive gibt?
Und was hat über 100 Menschen gestern hier in die Stadtkirche gebracht,
um für die Opfer des IS zu beten?

Auch sie klagen Gott an.
Auch sie wollen nicht billig vertröstet werden.
Auch sie sind vielleicht sogar Gott-müde.
Aber sie lassen Gott nicht in Ruhe
und sie wollen von ihm nicht in Ruhe gelassen werden.
An Gott dran bleiben.
Mit ihm kämpfen.
Ihn zur Rede stellen.
Ja, das wollen sie.
Denn sie erwarten noch was von Gott.
Immer noch.
Wie ist es mit dir, Hiob?
Gibt es wirklich nichts mehr, was du von Gott erwartest?

VI.
Ach dass du mich im Totenreich verwahren
und verbergen wolltest,
bis dein Zorn sich legt,
und mir ein Ziel setzen und dann an mich denken wolltest!
Du würdest rufen und ich dir antworten;
es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände.
Dann würdest du meine Schritte zählen,
aber hättest doch nicht Acht auf meine Sünden.
Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln
und meine Schuld übertünchen.

(Hiob 14, 13.15-17)

Schau mich richtig an, Gott.
Sieh genau hin.
Und zwar mit Augen, die mich liebhaben.
Mit Augen, die mir Gutes tun wollen.
Und antworte mir endlich mal.
Mir zornigem, Gott-müdem Hiob.
Lass mich nicht auf dem Trocknen sitzen, wenn ich zu dir bete.
Ja, ich erwarte doch immer noch was von dir,
trotz alledem.
Aber nicht, dass wir uns falsch verstehen, Gott.
Ich erwarte von dir nichts nach dem Tod.

VII.
Ein Berg kann zerfallen und vergehen
und ein Fels von seiner Stätte weichen,
Wasser wäscht Steine weg,
und seine Fluten schwemmen die Erde weg:
so machst du die Hoffnung des Menschen zunichte.
Du überwältigst ihn für immer, dass er davonmuss,
entstellst sein Antlitz und lässt ihn dahinfahren.
Sind seine Kinder in Ehren, das weiß er nicht,
oder ob sie verachtet sind, das wird er nicht gewahr.
Nur sein eigenes Fleisch macht ihm Schmerzen,
und nur um ihn selbst trauert seine Seele.

(Hiob 14,18-22)

Um mich selbst trauert meine Seele,
weil ich jetzt nicht leben kann.
Ich will aber jetzt leben.
Nicht erst nach dem Tod.
Jetzt und hier.
Ich will mich nicht vertrösten lassen auf ein Jenseits.
Sondern leben - mit Haut und Haaren.
Ganz und gar.
Schmecken.
Hören.
Sehen.
Fühlen.
Riechen.
Lieben.
Hassen.
Weinen.
Lachen.
Alles das. Jetzt.
Und nicht erst, wenn ich tot bin.

VIII.
Und da geht es mir wie den Toten in Paris.
Auch sie wollten leben.
Kaffee trinken.
Oder einen guten Rotwein.
Sie wollten richtig abrocken.
Oder über ihre Fußballmannschaft jubeln.
Sie wollten sich tief in die Augen schauen
und sich verlieben.
Sie wollten einfach einen schönen Abend verbringen
in dieser Stadt der Lebensfreude.
Doch nun sind sie tot.
Und sie können das alles nicht mehr.

Oder die Mittelmeer-Toten.
Auch sie wollten leben.
Endlich wieder in die Schule gehen.
Ein Dach über dem Kopf haben.
Arbeiten gehen.
Und ein richtiges Bett haben.
Neue Gerüche kennenlernen.
Und neue Worte.
Sie wollten einfach ihr Leben wieder von vorne anfangen
in Europa, dem Kontinent der Freiheit.
Doch nun sind sie tot.
Und sie können das alles nicht mehr.

Aber sie sollten es tun können.
Sie sollten leben können.
Leben.
Lieben.
Lachen und Weinen.
Sie sollten es jetzt tun können.
Ihr Tod soll nicht sein.
Darf nicht sein.

IX.
Ja, du hast Recht, Hiob.
Ich glaube zwar, dass es diesen vielen Toten jetzt gut geht, da wo sie sind.
Aber das ändert nichts daran,
dass sie hier bei uns leben sollten.
Jetzt. Mit Haut und Haaren.
In Paris.
In Europa.
In unserer Stadt.
In unserer Gemeinde.
Und glaube auch:
Es ist gegen Gottes Willen, dass sie tot sind.
Und darum dürfen Hass und Gewalt nicht das letzte Wort haben.
Aber wie geht das?

Vielleicht so?
Liebe das Leben,
liebe die Lebenden
und dann tu, was du willst.

Ja, du hörst richtig.
Ich bin nicht nur ein zorniger und Gott-müder Hiob.
Sondern auch einer, der das Leben liebt
und jetzt leben und lieben will.

Der Probst von Coventry war auch so einer.
Darum hat er sich vom Hass nicht anstecken lassen.

Die Flüchtlinge, die über den Balkan und das Mittelmeer kommen,
sind auch solche.
Sie wollen leben und lieben.
Und sie lassen sich nicht unterkriegen.

Und die geschockten Menschen der Welt,
die immer noch nicht fassen können,
was in Paris geschehen ist,
die sind auch solche.
Sie wollen einfach leben und lieben.
Und zwar zusammen.

Und das macht sogar mir zornigen Hiob Hoffnung.
Dir vielleicht auch?
Und:
Das Leben lieben -
das vertreibt meine Gott-müdigkeit.

Deine auch?

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen in Christus Jesus.
Amen.

Sonntag, 8. November 2015

Wir leben Zukunft - jetzt, Und was morgen kommt, sehen wir dann

Predigt zu 1.Thessalonicher 5 (8.11.2015)
 
(Vorbemerkung: Vor der Predigt fand eine Taufe statt. Darauf bezieht sich Teil VIII) 

I.
Sind wir gut vorbereitet auf das, was kommt?
Sind wir vorbereitet auf die vielen Menschen, die zu uns kommen?
Auf die Männer und Frauen und Kinder aus den Ländern der Welt?
Sind wir vorbereitet auf die Begegnungen mit ihnen?
Auf die Auseinandersetzungen um das, was uns wichtig ist
oder was wichtig werden könnte?
Sind wir vorbereitet auf die Veränderung,
die zwangsläufig auf unser Land zu kommt,
die nicht unbedingt schlecht sein muss,
aber die wir noch nicht kennen?

Und alle, die sich diese Fragen ernsthaft stellen,
können nur antworten: Nein, wir sind nicht vorbereitet.
Wir haben uns noch nicht darauf eingestellt.
Zumindest die meisten von uns.
Und die Politik schon gar nicht.
Und das macht Angst.
Angst vor der Zukunft.
Angst vor der Veränderung.
Angst vor dem Fremden.

II.
Sind wir gut vorbereitet?
fragen die Menschen in Thessaloniki.
Sind wir gut vorbereitet auf das, was kommt?
Auf den, der da kommt?
Auf Jesus, wenn er wiederkommt,
wenn endlich alles gut wird auf dieser Welt,
Wenn endlich für alle Licht ist
und niemand mehr im Dunkeln sein muss.
Sie freuen sich darauf, auf diese Zukunft.
Und doch macht sie ihnen auch Angst.
Lohnt es sich überhaupt noch, Kinder zu bekommen
oder lenken die uns nicht viel zu sehr vom Wesentlichen ab?
Wer wird das erleben, das gute Ende?
Was ist dann mit denen, die das nicht mehr erleben:
Haben die das dann verpasst
und können wir das auch verpassen?
Sind wir gut vorbereitet?

Die Thessalonicher haben mit einem nahen Ende gerechnet.
Wer mit einem nahen Ende rechnet, möchte das Wichtigste geregelt haben.
Auch kurz vor Geburt möchte man nicht noch beschäftigt sein
mit der Einrichtung des Kinderzimmers.
Nein, dann soll alles bereit stehen für das Kind.
Also wie ist das Paulus?
Wie sorgen wir dafür, dass wir nicht das Wesentliche verpassen?
Dass wir vorbereitet sind?
Was müssen wir dafür tun?

III.
Paulus schreibt an die Menschen in Thessaloniki (1.Thess. 5,1-2, BasisBibel):
Nun zu der Frage nach den Zeiten und Fristen,
wann das geschieht:
Brüder und Schwestern,
eigentlich brauche ich euch dazu nichts zu schreiben.
Denn ihr wisst selbst ganz genau:
Der Tag des Herrn kommt unerwartet
wie ein Dieb in der Nacht.


IV.
Sie macht Angst, die Nacht.
Schmerzen werden stärker.
Geräusche werden lauter.
Die Gespenster kommen unter dem Bett hervor.
Die Gedanken kreisen und rauben den Schlaf.
Und alles was Angst macht, rückt dir auf die Pelle.
Einbrüche im Dunkeln sind viel bedrohlicher als im Hellen.
In der Nacht werden Brände gelegt
und Wände beschmiert.
Hat Pegida deswegen wieder verstärkten Zulauf?
Weil es wieder dunkel ist abends?
Dann hallen die Sätze mehr nach.
Die Sätze, die Angst machen.
Und ein schwarz-rot-goldenes Kreuz leuchtet besonders stark.
Am Tag könnte es lächerlich wirken.
Weil es lächerlich ist, denn das Kreuz kennt keine Nation.

Sie macht Angst, die Nacht.
Und Angst führt in die Nacht, in das Dunkel.
Zur Zeit wird viel Angst geschürt,
wird mit Angst gespielt,
wird Angst gemacht.
Wo aus fliehenden Menschen eine Invasion wird.
Wo aus normalen jungen Männern vergewaltigende Horden werden.
Und aus muslimischen Schutzsuchenden islamistische Terroristen.

Das hat schon mal funktioniert.
Damals vor über 80 Jahren.
Da hat man Angst vor den Juden gemacht.
Und vor den Kommunisten
und den Homosexuellen
und den Sinti und Roma.
Ängste, die offensichtlich immer noch da sind.
Nur im anderen Gewand.

Und so kommt die Nacht über unsere Gesellschaft.
Eine Nacht, in der die Angst die Oberhand gewinnt.
Dann verkriechst du dich unter die Decke.
Verrammelst die Tür.
Schließt die Fenster.
Ernährst dich gesund.
Rauchst nicht.
Trinkst nicht.
Machst alles richtig.
Jetzt fühlst du dich sicher.
Andere würden am liebsten Mauern bauen.
Grenzzäune errichten.
Gar nicht erst hereinlassen.
Gar nicht erst zulassen.
Sich sicher fühlen.

V.
Aber das funktioniert nicht, sagt Paulus (Vers 3):
Gerade sagen die Leute noch:
»Wir leben in Frieden und Sicherheit!«
Da wird das Verderben ganz plötzlich
über sie hereinbrechen –
so wie bei einer schwangeren Frau
plötzlich die Wehen einsetzen.
Dann gibt es kein Entkommen.


VI.
Du denkst, du kannst dich auf alles vorbereiten.
Du denkst, dass du dir Sicherheit schaffen kannst.
Mit verschlossenen Fenstern.
Mit gesunder Ernährung.
Mit der richtigen Rentenversicherung.
Mit der richtigen Geburtsvorbereitung.
Mit den richtigen Untersuchungen.
Mit dem richtigen Glauben.

Du denkst, du kannst dir die Fremden vom Hals halten.
Mit Registrierzentren und schneller Abschiebung.
Du denkst, dass die Zuwanderer Verderben über dich bringen,
und dass du diesem „Verderben“ entgehen kannst,
indem du sie aussperrst.

Das alles funktioniert nicht.
Du kannst dich dem Ende nicht entziehen.
Du kannst nicht wirklich ausweichen.
Weder dem Tod, noch dem Alter,
noch der Enttäuschung,
dass doch alles anders gekommen ist als geplant.
Das kannst du vielleicht ein Weile tun,
und denen glauben,
die denken, 
dass mit einfachen Methoden alles in Griff zu bekommen ist.
Aber aus diesem Schlaf wirst du erwachen.
Und das ist gut so.
Denn der Tag des Herrn bricht an.
Der sollte nicht verschlafen werden.

VII.
Und so Paulus weiter (Verse 4-6):
Brüder und Schwestern!
Ihr lebt nicht im Dunkel.
Deshalb wird der Tag des Herrn
euch nicht überraschen wie ein Dieb.
Denn ihr seid alle Kinder des Lichts
und Kinder des Tages.
Wir gehören nicht zum Bereich der Nacht
oder der Dunkelheit.
Wir wollen also nicht schlafen wie die anderen.
Wir wollen vielmehr wach und nüchtern sein!


Ihr lebt nicht im Dunkel.
Ihr müsst die Angst nicht über euch herrschen lassen.
Gesteht ihr nicht zu, euch zu lähmen.
Denn ihr seid Kinder des Lichts, Kinder des Tages.
Auch wenn ihr eure Zukunft nicht kennt.
Auch wenn ihr nicht wisst, was auf euch zu kommt.
Und ob ihr das alles bewältigen werdet.
Ob die Politik das alles geregelt bekommt.
Und ob das alles gut ausgeht.

Ihr seid Kinder des Lichts, Kinder des Tages!

VIII.
Zwei Menschen brechen auf.
Sie begeben sich ins Internet
und finden sich dort.
Sie lernen sich kennen.
Sie lernen sich lieben.
Sie lernen zusammen zu leben.
Beide beruflich erfolgreich.
Und dann bekommen sie eine Tochter. H... heißt sie.
Und während viele Menschen heute sagen,
dass so ein Kind doch nicht in das Berufsleben passt
oder zum Geldbeutel
oder zum Klima,
sagen diese beiden:
doch es passt - und zwar richtig gut.
Und wir leben es so, wie es jetzt gerade gut passt.
Wir leben Zukunft - jetzt.
Und was morgen kommt, sehen wir dann.
Kinder des Lichts. Kinder des Tages.

Wird es klappen mit dem Stillen?
Wird der Chef zustimmen, dass ich nur Teilzeit arbeite, und das als Mann?
Werden wir genügend Zeit haben für unsere Kleine?
Was machen wir, wenn sie krank wird?
Oder wenn die Schwiegermutter krank wird?
Wenn die Nacht zum Tage wird, weil das Kind nicht schläft,
bekommen solche Fragen Oberhand.
Auch bei Kindern des Lichts.
Auch bei Getauften.
Aber es hilft, nicht allein zu sein mit diesen Fragen.
Und Gottvertrauen hilft auch.
Und die Fragen erst bei Tageslicht beantworten.
Wir leben Zukunft - jetzt.
Und was morgen kommt, sehen wir dann.

IX.
Denn ihr seid alle Kinder des Lichts
und Kinder des Tages.
Wir gehören nicht zum Bereich der Nacht
oder der Dunkelheit.
Wir wollen also nicht schlafen wie die anderen.
Wir wollen vielmehr wach und nüchtern sein!


Wach und nüchtern sein.
Das reicht.
Das ist die beste Vorbereitung.
JETZT leben und lieben.
Sich nicht von der Angst treiben lassen oder lähmen.
Sondern ihr ins Gesicht schauen bei Tageslicht.
Die Zeit jetzt ist von Gott geschenkt.
Die Zeit jetzt ist nicht Durchgangszeit,
sondern kostbare Lebenszeit
zu füllen mit Liebe und Lust und Leben.
Freut euch mit den Fröhlichen,
weint mit den Weinenden,
lasst euch die Welt nicht verbauen
mit Zäunen und Mauern und verschlossenen Fenstern.
Seht im Fremden den möglichen Freund.
Oder zumindest einen,
der euch eine ganz neue Welt erschließen kann.
Oder eine, die deine Sorge um die Kinder versteht,
weil sie sie auch hat.


Wach und nüchtern sein.
Ohne Angst in die Zukunft schauen,
und das tun, was ansteht.
Jetzt leben, nicht erst morgen.
Und sich überraschen lassen von dem, was kommt.
Und von denen, die kommen.
Es darf auch was schief gehen.
Auch bei dir, dem Kind Gottes.
Und du darfst Fehler machen.
Und andere auch.
Aber lebe jetzt.
Und liebe -
diese chaotische, unüberschaubare, fremde Welt.
Ja, liebe sie.

Das geht, weil du ein Kind des Lichts bist,
eine Tochter Gottes, ein Sohn Gottes.
Und das, was kommt, ist gut, richtig gut.
Denn es ist Gottes Zukunft,
Gottes überraschende Zukunft:
der Tag des Herrn.

Wir wollen also nicht schlafen wie die anderen.
Wir wollen vielmehr wach und nüchtern sein!


Wir leben Zukunft - jetzt.
Und was morgen kommt, sehen wir dann.

Amen.

Freitag, 6. November 2015

Du siehst mich - und die Welt...

Gedanken zur Tageslosung vom 6.11.2015
 
Du bist ein Gott, der mich sieht. (1.Mose 16,13)

Du siehst Hagar,
die von dem Vater ihres Sohnes
in die Wüste geschickt wird.

Du siehst die Menschen, die
immer noch und trotz Eiseskälte
über die Balkanroute
die Sicherheit suchen
bei uns.

Du siehst Menschen,
die von anderen in die Wüste geschickt werden.

Du siehst die,
die nicht gewollt sind.
Die Fremden,
die Kranken,
die Behinderten,
die Erfolglosen,
die Unangepassten.
Alle die siehst du .

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Du siehst mich
mit meinen Zweifeln
angesichts einer verrohenden Sprache,

Mit meiner Trauer
über die vielen Toten,
die wir in Kauf nehmen,

Mit meiner Wut
angesichts einer unmenschlichen Politik,
für die es Menschen erster und zweiter Klasse gibt,

Mit meiner Ohnmacht,
die zu viel Macht bekommt.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Du siehst mich
und du setzt dich neben mich
und hörst mir zu.

Du malst in den Sand
und gibst mir ein Stück Brot
und horchst auf die Vögel.

Du schickst mir einen Engel
mitten im Schlaf,
der sagt:
Steh auf und iss!
Du hast noch einen weiten Weg vor dir.

Du traust mir zu,
aufrecht in die Zukunft zu gehen.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Und weil du mich siehst,
siehst du auch die anderen.
Und ich weiß mich mit ihnen verbunden.
Und mit dir.

Das ist stärker als mein Zweifel,
als meine Trauer,
als meine Wut,
als meine Ohnmacht.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Auch heute Nacht.
Und morgen früh.
Ich schreibe mir das auf den Spiegel
und freue mich darauf,
das morgen lesen zu dürfen.
Und so neu in den Tag gehen.

Du bist ein Gott, der mich sieht.




Sonntag, 1. November 2015

Von oben sieht die Welt anders aus - und das ist gut so.

Predigt zu Matthäus 5,1-10  (Seligpreisungen)

(1. November 2015 - Haidach/Buckenberg)

Als Jesus die Volksmenge sah, stieg er auf den Berg.
Er setzte sich und seine Jünger kamen zu ihm.
Jesus begann zu reden und lehrte sie:
»Glückselig sind die, die wissen, dass sie vor Gott arm sind.
Denn ihnen gehört das Himmelreich.
Glückselig sind die, die an der Not der Welt leiden.
Denn sie werden getröstet werden.
Glückselig sind die, die von Herzen freundlich sind.
Denn sie werden die Erde als Erbe erhalten.
Glückselig sind die, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.
Denn sie werden satt werden.
Glückselig sind die, die barmherzig sind.
Denn sie werden barmherzig behandelt werden.
Glückselig sind die, die ein reines Herz haben.
Denn sie werden Gott sehen.
Glückselig sind die, die Frieden stiften.
Denn sie werden Kinder Gottes heißen.
Glückselig sind die, die verfolgt werden, weil sie tun, was Gott will.
Denn ihnen gehört das Himmelreich.

(Übersetzung aus der BasisBibel)

I.
Die Welt sieht von oben anders aus.
Wir brauchen diesen Blick von oben. Immer wieder.
Einmal im Jahr auf den Stadtkirchenturm hochsteigen.
(geht auch mit dem Aufzug)
Der Wallberg ist auch beliebt.
Und hier vom Haidach sieht die Stadt wieder anders aus.
Schöner. Weiter. Ja, auch friedlicher.
Den Müll am Straßenrand sieht man dann nicht mehr.
Und auch nicht die umstrittenen Rostkübel in der Zerrennerstraße (die ich übrigens gar nicht so schlimm finde).
Der Presslufthammer in der Güterstraße ist von hier aus nicht zu hören.
Und das Gelb-braune vom Gebäude am Waisenhausplatz sieht vom Weitem gar nicht so übel aus.

Wir brauchen diesen Blick von oben.
Nicht damit alles schöner wird, und das Hässliche nicht mehr sichtbar.
Nein, wir brauchen diesen Blick, weil er uns anders auf die Welt schauen lässt.
Weil wir die Welt mit neuen Augen sehen.
Der Ostermorgen auf dem Wallberg ist darum besonders schön.
Wir lernen dort, die Welt neu zu sehen.
Wir waschen uns dafür sogar die Augen.
Und von oben sehen wir die Welt neu.

II.
Als Jesus die Volksmenge sah, stieg er auf den Berg.
Er setzte sich und seine Jünger kamen zu ihm.


Die Welt sieht von oben anders aus.
Ob Jesus darum immer wieder auf den Berg gegangen ist?
Ob die Berge darum in der Bibel eine so große Rolle spielen?
Elia erlebt Gott ganz anders als vorher - auf dem Berg.
Mose erhält die 10 Gebote - auf dem Berg.
Wenn du auf den Berg gehst, verschieben sich die Maßstäbe.
Und du siehst weiter und tiefer
und wie eins mit dem anderen zusammenhängt.
Die Welt sieht von oben anders aus.
Gott sieht die Welt anders als wir.

III.
Jesus begann zu reden und lehrte sie:
Glückselig sind die, die wissen, dass sie vor Gott arm sind.
Denn ihnen gehört das Himmelreich.


In der Welt sehen wir und hören wir:
Gut dran sind die Wichtigen,
die, die was zu sagen haben.
Die rund um die Uhr arbeiten können,
nie krank werden,
die Überflieger halt.
Denen geht es gut. Die haben Erfolg.

Aber die Welt sieht von oben anders aus.
Denn da ist klar, dass wir längst nicht so groß und mächtig sind, wie wir denken.
Jeder einzelne Mensch ist wichtig, ja klar.
Aber kein Mensch kann ohne Gott irgendwas wirklich tun.
Wenn du um deine Grenzen weißt,
wenn du weißt, dass du klein sein darfst,
öffnet sich die Tür zum Himmelreich.
Zur Weite und zur Tiefe.
Denn dann hängt nicht alles an dir.
Du bist offen für die Liebe Gottes.
Und du lässt anderen Menschen Raum.
Und Gott nimmt sich Raum.

IV.
Jesus spricht weiter:
Glückselig sind die, die an der Not der Welt leiden.
Denn sie werden getröstet werden.
Glückselig sind die, die barmherzig sind.
Denn sie werden barmherzig behandelt werden.


In der Welt sehen wir und hören wir:
Wir können nicht die ganze Welt retten.
Lasst die Flüchtlinge in ihren Lagern oder in ihren zerbombten Häusern.
Aber nicht zu uns.
Jeder ist sich selbst der Nächste.
Barmherzigkeit können wir uns nicht leisten.
Wir haben ja schließlich auch nichts geschenkt bekommen.
Was geht mich die Not der anderen was an?
Und warum soll ich mir mit Mitleid das Leben noch schwerer machen?
Lass mich in Ruhe, du Gutmensch.

Aber die Welt sieht von oben anders aus.
Jesus sieht das anders.
Und er erzählt von dem Samariter, der den unter die Räuber gefallenen pflegt. (Lukas 10,25-37)
Er geht nicht vorbei. Er rettet ihn. Einfach so.
Und ohne zu fragen, ob er legal oder illegal ist.
Ja, und Gott selbst leidet mit seinem Volk, das in Ägypten versklavt wird.
Er begleitet es durch die Wüste hindurch und weicht nicht von ihrer Seite. (Exodus)
Und Jesus weint mit Martha und Maria um ihren Bruder Lazarus, als der tot ist. (Johannes 11)

Gott ist an der Seite derer, die an der Not der Welt leiden.
Er ist ein mitleidender Gott.
Und barmherzig.
Denn er ist sogar an meiner Seite, wenn ich gar nichts von ihm wissen will.
Und auch wenn ich vielleicht nichts tun kann.
Er bleibt einfach da.
Und das zu wissen, tut gut.
Und hilft.

V.
Glückselig sind die, die von Herzen freundlich sind,
die Sanftmütigen.
Denn sie werden die Erde als Erbe erhalten.
Glückselig sind die, die ein reines Herz haben.
Denn sie werden Gott sehen.


In der Welt sehen wir und hören wir:
Nein, mit Sanftmut und Freundlichkeit kommst du nicht weit.
Gerissen musst du sein.
Das Beste für dich herausholen.
Du merkst an der Kasse, dass dir die Kassiererin zu viel Wechselgeld herausgegeben hat?
Nun, Pech für sie.
Und schau doch mal in die Medien.
Wie da Politiker zerpflückt werden.
Die dürfen nicht so zartbesaitet sein.
Die müssen schon ein dickes Fell haben und selber austeilen können.
Sonst kommen sie nicht weit.

Aber die Welt sieht von oben anders aus.
Jesus sieht das anders.
Der sieht, dass die Welt die dünnhäutigen Menschen braucht.
Die mit der empfindsamen Seele,
die sofort spüren, wenn bei dir was nicht stimmt.
Und vor denen du weinen kannst.
Und die in dir erstmal das Gute vermuten, egal woher du kommst.

Die Welt braucht die Menschen,
die den neuen Nachbarn nebenan erstmal einen Gemüseeintopf vorbeibringen,
und die die schönen Augen unter dem Kopftuch der Frau sehen,
die aufleuchten als sie den Eintopf entgegen nimmt.

Die Welt braucht Menschen,
die sich über ein kleines Danke freuen,
aber auch noch nicht mehr erwarten,
weil für die Neuankömmlinge doch alles so neu ist.

Die Welt braucht Menschen,
die wissen, wie verletzlich eine Seele ist,
und die darum vorsichtig sind und behutsam.
Denn sie sehen Gott im anderen Menschen.

VI.
Glückselig sind die, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.
Denn sie werden satt werden.
Glückselig sind die, die Frieden stiften.
Denn sie werden Kinder Gottes heißen.
Glückselig sind die, die verfolgt werden, weil sie tun, was Gott will.
Denn ihnen gehört das Himmelreich.


In dieser Welt sehen wir und hören wir:
Das ist nun mal so, dass die einen auf Kosten der anderen leben.
Das Recht des Stärkeren setzt sich durch.
Das ist im Kleinen so und im Großen.
Die Kriegsstifter verdienen sich dumm und dusselig,
weil ihre Waffen immer gebraucht werden.
Überall.
Das könnt ihr nicht aufhalten, ihr Träumer.
Und wenn ihr es dann doch versucht, werdet ihr sehen, was ihr davon habt.
Ihr setzt euch für die Flüchtlinge ein?
Wir werden euch mit Hassmails überschütten.
Oder machen Drohanrufe.
Sogar bei der Diakonie oder der Caritas.
In vielen Ländern sperren wir die ein, die für Gerechtigkeit kämpfen,
oder die etwas Regierungskritisches sagen wollen.
Und wir haben unsere Methoden, die Menschen zum Schweigen zu bringen.

Aber die Welt sieht von oben anders aus.
Jesus sieht das anders.
Er weiß, dass die Welt nur eine Zukunft hat,
wenn wir das, was wir haben wirklich teilen.
Wenn Menschen eine wirkliche Chance bekommen, sich ihr Leben aufzubauen.
Und nicht nur die, dies es sowieso leichter haben.
Wenn die Kriegsparteien an die runden Tische geholt werden
und dort bleiben, bis es Frieden gibt.
Ja, auch wenn Verfolgte Schutz und Zuflucht erhalten können,
wo sie frei reden und frei glauben können.

VII.
Von oben betrachtet wird die Welt nur
mit Friedensstiftern,
Gerechtigkeitssucherinnen
und Wahrheitsliebhabern überleben.
Von oben, von Gott her betrachtet braucht die Welt
die Dünnhäutigen,
die Wahrhaftigen
und die Sanftmütigen.
Von oben betrachtet ist die Welt angewiesen
auf die Mitleidenden
und Barmherzigen.
Denn nur so ist sie Gottes Welt.
Und nur so hat sie eine Zukunft.

Diese Welt sagt:
Du bist verrückt (danke für diesen Gedanken, Michael Greßler).
Du spinnst. Du hast keine Ahnung.
Du bist sogar gefährlich, weil du alles in Frage stellst, was ich sage.

Und so kreuzigt diese Welt Jesus.
Sie setzt Urwälder in Indonesien für Palm-Öl-Plantagen in Brand.
Sie schreibt Hasskommentare gegen die sogenannten Gutmenschen.
Sie steckt Flüchtlingsheime in Brand.
Und sticht Schulkinder und Lehrer in einer Schule nieder,
weil diese eine falsche Hautfarbe haben.
Eine Bürgermeisterkandidatin wird angegriffen.
Und einige Politiker denken laut darüber nach,
gegen Flüchtlinge an der Grenze Schusswaffen einzusetzen.

VIII.
Wer ist hier eigentlich verrückt?

Bevor ich den „Regeln“ dieser Welt folge,
wo Zartheit und Liebe,
Sanftmut und reine Herzen
keinen Platz haben,
steige ich lieber mit Jesus auf den Berg
und schaue mir die Welt von oben an.
Und dann sehe ich weiter und tiefer
und wie eins mit dem anderen zusammenhängt.

Und dann schreibe ich die Seligpreisungen weiter,
die Glückseligpreisungen.

Vielleicht so wie Reinhard Mey:
Selig, die Abgebrochenen,
Die Verwirrten, die in sich Verkrochenen.
Die Ausgegrenzten, die Gebückten,
Die an die Wand Gedrückten,
Selig sind die Verrückten!


Und ich ergänze:
Glückselig sind sie, denn Gott hat sie alle lieb.
Sie sind Gottes Kinder, ob du willst oder nicht.

IX.
Komm, lass uns die Welt von oben betrachten.
Komm, wir waschen unsere Augen
und sehen die Welt mit den Augen Jesu.
Lass uns weiter und tiefer sehen.
Dann entlarven wir ihre „Regeln“ als das, was sie sind:
hartherzig und kalt,
menschenunwürdig,
lieblos.
Ja, wir lassen uns als Gutmenschen beschimpfen,
und preisen selber die als glückselig,
die anders sind und die sich treiben lassen von der Liebe Gottes.

Und dann kommen wir herunter vom Berg
und gehen hin
zu den Verfolgten und den Mitleidenden,
zu den Barmherzigen und den Wahrhaftigen,
zu den Friedensstiftern und den Sanftmutigen.

Wir lassen uns von ihnen anstecken.
Von oben ist die Welt weit und tief
und eins hängt mit dem anderen zusammen.
Sie ist Gottes Welt mit Gottes „Regeln“.
Und so möchte ich in ihr leben und lieben,
und muss gar nicht alles können.

Denn die Tür zum Himmelreich öffnet sich für uns.
Hier in dieser Welt.

Amen.