(Vorbemerkung: Die Stadtkirche gehört zur Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry. Der Jahrestag der Bombadierung von Coventry durch die deutsche Luftwaffe jährte sich zum 75. Mal am Vortag. Außerdem kam es zu einem spontanen Friedensgebet angesichts der Terroranschläge in Paris vom 13.11.2015)
I.
Hiob ist zornig.
Hiob hat alles verloren, was man so verlieren kann.
Seine Kinder.
Seinen Besitz.
Seine Stellung in der Gesellschaft.
Nur sein Leben hat er noch.
Aber auch das nur unter Schmerzen.
Seine Freunde wollen ihm vormachen,
dass Gott das schon alles richtig macht,
und dass er, Hiob, bestimmt was falsch gemacht hat.
Denn Gott muss doch gerecht sein.
Nein, schreit Hiob seine Freunde an.
Das stimmt nicht. Gott ist nicht gerecht.
Das wisst ihr im Grunde auch.
Und du, Gott, weißt das auch!
Und so hören wir Hiob, wie er sagt (14,1-6):
Der Mensch, vom Weibe geboren,
lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
geht auf wie eine Blume und fällt ab,
flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
Doch du tust deine Augen über einen solchen auf,
dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen?
Auch nicht einer!
Sind seine Tage bestimmt,
steht die Zahl seiner Monde bei dir
und hast du ein Ziel gesetzt,
das er nicht überschreiten kann:
so blicke doch weg von ihm,
damit er Ruhe hat,
und sich wie ein Tagelöhner seines Tages erfreut. (Korrektur der Lutherübersetzung)
Ja, Gott, du weißt genau, dass kein Mensch ohne Schuld ist.
Denn du hast uns Menschen ja so gemacht.
Und dann bestrafst du uns auch noch dafür.
Ach, lass uns doch am besten einfach in Ruhe.
Denn Hilfe habe ich von dir nicht zu erwarten.
II.
Hiob ist nicht nur zornig.
Hiob ist Gott-müde.
Er hat keine Lust mehr auf diesen Gott,
von dem er sich in Stich gelassen fühlt.
Und wer wollte ihm das verdenken?
Ich nicht.
Nicht wenige kritische Geister in Paris haben auch keine Lust mehr auf Gott.
Sie sind sogar dagegen, für Paris zu beten.
Sie wollen weniger Gott, weniger Religion,
denn Religion zerstört ihre Liebe zum Leben.
So sehen das mittlerweile viele.
Wer wollte ihnen das verdenken?
Hiob würde sich sofort an ihre Seite stellen.
III.
Es ist eigentlich erstaunlich:
Die meisten Menschen halten in Katastrophen an ihrem Glauben fest.
Sie halten an ihrem Gott fest.
Die syrischen Christen,
obwohl ihre Glaubensgeschwister als Geiseln herhalten müssen.
Die Yesiden,
obwohl ihre Verwandten in Massengräbern im Sindschar-Gebirge verscharrt wurden.
Die syrischen Muslime,
obwohl ihre Familien durch Fassbomben ausgelöscht wurden.
Oder auch die Menschen damals in Coventry (14.11.1940),
obwohl ihre Nachbarn getötet wurden und die Kathedrale zerstört.
Ja, sie halten an ihrem Gott fest,
weil er das letzte ist, was sie noch haben.
Oder weil er das Beste ist, was sie noch haben.
Sie hoffen, dass er sie sieht.
Dass er sie hört.
Dass er ihnen hilft.
Oder zumindest an ihrer Seite ist.
Und dass er ihnen Kraft gibt, wieder von vorne anzufangen.
IV.
Hiob, hast du diese Hoffnung verloren?
Ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist;
er kann wieder ausschlagen,
und seine Schösslinge bleiben nicht aus.
Ob seine Wurzel in der Erde alt wird
und sein Stumpf im Boden erstirbt,
so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers
und treibt Zweige wie eine junge Pflanze.
Stirbt aber ein Mann, so ist er dahin; kommt ein Mensch um - wo ist er?
Wie Wasser ausläuft aus dem See, und wie ein Strom versiegt und vertrocknet,
so ist ein Mensch, wenn er sich niederlegt, er wird nicht wieder aufstehen;
er wird nicht aufwachen, solange der Himmel bleibt,
noch von seinem Schlaf erweckt werden.
(Hiob 14,7-12)
Es fällt dir schwer, zu hoffen, Hiob.
Du siehst die neuen Triebe am Baumstumpf.
Hoffnungszweige im Herbst.
Aufkeimender Neuanfang.
Ja, in der Natur gibt es das.
Aber beim Menschen nicht, sagst du.
Da ist kein Neuanfang möglich,
jedenfalls nicht wenn er stirbt.
Tot ist tot. Aus und vorbei.
Du bist wirklich Gott-müde, Hiob.
Und das tut mir in der Seele weh.
Weil ich weiß, dass es da nur falsche Worte gibt.
V.
Aber lass mich dir doch folgendes sagen:
Du bist mutig, Hiob.
Du lehnst dich dagegen auf, wie deine Freunde dich vertrösten wollen.
Du lehnst dich gegen einen Gott auf, der immer nur Recht hat.
Du lehnst dich dagegen auf, dass deine Leiden Gottes Strafe sein sollen.
Und dass du daran schuld sein sollst.
Es ist mutig, zuzugeben, dass du Gott-müde bist.
Jedenfalls zu deiner Zeit ist es mutig.
Klagen war erlaubt.
Aber Gott anklagen?
Das geht zu deiner Zeit nicht.
Absolutes No-Go.
Aber du traust dich.
Heute trauen es sich mehr Menschen zu sagen.
Das ist auch in Ordnung so.
Und darum bin ich froh, dass du, Hiob, in unserer Bibel bist.
Menschen sollen Gott anklagen dürfen.
Menschen sollen sagen dürfen, dass sie Gott-müde sind.
Dass sie von Gott in Ruhe gelassen werden dürfen.
Sie sollen es sagen dürfen,
auch wenn es mir unendlich Leid tut.
VI.
Was könnte denn für dich der Geruch des Wassers sein,
der die Zweige hervorbringt beim abgestorbenen Baumstumpf?
Was ist es, das die Bewohner von Paris auf den Platz treibt
und sie mit Lichtern schreiben lässt: „Not afraid“?
Was ist es, das den Probst von Coventry vor 75 Jahren dazu gebracht hat, Unerhörtes zu tun? Nämlich die Aussöhnung der Kriegsfeinde zu fordern?
Was ist es, das die syrischen Familien nicht in den Riesenlagern im Libanon oder in der Türkei warten lässt? Ist es nur ihre Ungeduld, weil es dort keine Perspektive gibt?
Und was hat über 100 Menschen gestern hier in die Stadtkirche gebracht,
um für die Opfer des IS zu beten?
Auch sie klagen Gott an.
Auch sie wollen nicht billig vertröstet werden.
Auch sie sind vielleicht sogar Gott-müde.
Aber sie lassen Gott nicht in Ruhe
und sie wollen von ihm nicht in Ruhe gelassen werden.
An Gott dran bleiben.
Mit ihm kämpfen.
Ihn zur Rede stellen.
Ja, das wollen sie.
Denn sie erwarten noch was von Gott.
Immer noch.
Wie ist es mit dir, Hiob?
Gibt es wirklich nichts mehr, was du von Gott erwartest?
VI.
Ach dass du mich im Totenreich verwahren
und verbergen wolltest,
bis dein Zorn sich legt,
und mir ein Ziel setzen und dann an mich denken wolltest!
Du würdest rufen und ich dir antworten;
es würde dich verlangen nach dem Werk deiner Hände.
Dann würdest du meine Schritte zählen,
aber hättest doch nicht Acht auf meine Sünden.
Du würdest meine Übertretung in ein Bündlein versiegeln
und meine Schuld übertünchen.
(Hiob 14, 13.15-17)
Schau mich richtig an, Gott.
Sieh genau hin.
Und zwar mit Augen, die mich liebhaben.
Mit Augen, die mir Gutes tun wollen.
Und antworte mir endlich mal.
Mir zornigem, Gott-müdem Hiob.
Lass mich nicht auf dem Trocknen sitzen, wenn ich zu dir bete.
Ja, ich erwarte doch immer noch was von dir,
trotz alledem.
Aber nicht, dass wir uns falsch verstehen, Gott.
Ich erwarte von dir nichts nach dem Tod.
VII.
Ein Berg kann zerfallen und vergehen
und ein Fels von seiner Stätte weichen,
Wasser wäscht Steine weg,
und seine Fluten schwemmen die Erde weg:
so machst du die Hoffnung des Menschen zunichte.
Du überwältigst ihn für immer, dass er davonmuss,
entstellst sein Antlitz und lässt ihn dahinfahren.
Sind seine Kinder in Ehren, das weiß er nicht,
oder ob sie verachtet sind, das wird er nicht gewahr.
Nur sein eigenes Fleisch macht ihm Schmerzen,
und nur um ihn selbst trauert seine Seele.
(Hiob 14,18-22)
Um mich selbst trauert meine Seele,
weil ich jetzt nicht leben kann.
Ich will aber jetzt leben.
Nicht erst nach dem Tod.
Jetzt und hier.
Ich will mich nicht vertrösten lassen auf ein Jenseits.
Sondern leben - mit Haut und Haaren.
Ganz und gar.
Schmecken.
Hören.
Sehen.
Fühlen.
Riechen.
Lieben.
Hassen.
Weinen.
Lachen.
Alles das. Jetzt.
Und nicht erst, wenn ich tot bin.
VIII.
Und da geht es mir wie den Toten in Paris.
Auch sie wollten leben.
Kaffee trinken.
Oder einen guten Rotwein.
Sie wollten richtig abrocken.
Oder über ihre Fußballmannschaft jubeln.
Sie wollten sich tief in die Augen schauen
und sich verlieben.
Sie wollten einfach einen schönen Abend verbringen
in dieser Stadt der Lebensfreude.
Doch nun sind sie tot.
Und sie können das alles nicht mehr.
Oder die Mittelmeer-Toten.
Auch sie wollten leben.
Endlich wieder in die Schule gehen.
Ein Dach über dem Kopf haben.
Arbeiten gehen.
Und ein richtiges Bett haben.
Neue Gerüche kennenlernen.
Und neue Worte.
Sie wollten einfach ihr Leben wieder von vorne anfangen
in Europa, dem Kontinent der Freiheit.
Doch nun sind sie tot.
Und sie können das alles nicht mehr.
Aber sie sollten es tun können.
Sie sollten leben können.
Leben.
Lieben.
Lachen und Weinen.
Sie sollten es jetzt tun können.
Ihr Tod soll nicht sein.
Darf nicht sein.
IX.
Ja, du hast Recht, Hiob.
Ich glaube zwar, dass es diesen vielen Toten jetzt gut geht, da wo sie sind.
Aber das ändert nichts daran,
dass sie hier bei uns leben sollten.
Jetzt. Mit Haut und Haaren.
In Paris.
In Europa.
In unserer Stadt.
In unserer Gemeinde.
Und glaube auch:
Es ist gegen Gottes Willen, dass sie tot sind.
Und darum dürfen Hass und Gewalt nicht das letzte Wort haben.
Aber wie geht das?
Vielleicht so?
Liebe das Leben,
liebe die Lebenden
und dann tu, was du willst.
Ja, du hörst richtig.
Ich bin nicht nur ein zorniger und Gott-müder Hiob.
Sondern auch einer, der das Leben liebt
und jetzt leben und lieben will.
Der Probst von Coventry war auch so einer.
Darum hat er sich vom Hass nicht anstecken lassen.
Die Flüchtlinge, die über den Balkan und das Mittelmeer kommen,
sind auch solche.
Sie wollen leben und lieben.
Und sie lassen sich nicht unterkriegen.
Und die geschockten Menschen der Welt,
die immer noch nicht fassen können,
was in Paris geschehen ist,
die sind auch solche.
Sie wollen einfach leben und lieben.
Und zwar zusammen.
Und das macht sogar mir zornigen Hiob Hoffnung.
Dir vielleicht auch?
Und:
Das Leben lieben -
das vertreibt meine Gott-müdigkeit.
Deine auch?
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen in Christus Jesus.
Amen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen