Sonntag, 15. Juni 2025

Räume der Gnade

Von aufrechten Frauen und heilenden Begegnungen

Eine Predigt zu 2.Kor 13,11-13, die ich vor 6 Jahren mal mit Anne Gideon zusammen errungen habe, nachdem wir mit der großartigen Nadia Bolz-Weber in Berlin gearbeitet haben. Ich habe sie nun neu aktualisiert. Und Formulierungsideen von Katharina Loh für Teil III sind auch wieder dabei.

I.

Endlich wieder aufrecht gehen. (1)
Endlich wieder dazu gehören. Auf Augenhöhe den anderen begegnen.
Sie hätte es nicht für möglich gehalten.
18 Jahre lang diese Verkrümmung. 18 Jahre gebückt und geduckt sein.
Von den anderen komisch angeschaut. Sich ausgeliefert fühlen.
Nicht mitmachen können. Nichts dagegen tun können. 
18 Jahre lang. Und von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer.

Dann betritt Jesus die Synagoge. 
Du bist frei, sagt er zu ihr. Du bist frei. Nichts mehr, was dich niederdrückt. 
Nichts mehr, was dich fesselt. Nichts mehr, was dich klein macht.
Und sie richtet sich auf.

Diese Dämonen können sie mal.
Sie sind vielleicht immer noch da:  die Dämonen, die sie niederdrückten
- bestehen sie aus Angst oder Traurigkeit, Vorurteile oder Missachtung? Wer weiß das schon? - 
Aber sie tun ihr nichts mehr. Nichts mehr, was sie beugt.
Die Dämonen haben nicht das letzte Wort.
Sondern: Gnade und Liebe.  Und Gemeinschaft. Endlich wieder richtig dabei.

II.
Worte von Paulus, die er am Schluss seines 2.Briefs an die Korinther schreibt:
Zuletzt, Brüder und Schwestern,  freut euch, 
lasst euch zurechtbringen, lasst euch mahnen, 
habt einerlei Sinn, haltet Frieden! 
So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein.
Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuss. 
Es grüßen euch alle Heiligen.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus 
und die Liebe Gottes 
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!


III.
Paulus schreibt diese Worte am Ende eines verzweifelten Briefes.
Schon früh gab es Probleme in Korinth.
Streit darüber, wer besser glaubt und besser predigt und wie man Abendmahl feiert.
Ja, und wieviel Rücksicht man nehmen muss.
Wer sind die Schwachen und wer sind die Starken?
Und wer bestimmt, wer dazu gehört?
Es wurde immer schlimmer. Lästereien und Kritik - 
auch am Leitungsstil von Paulus.
Und was einmal wichtig war, gerät in den Hintergrund.

Bei sowas hilft eigentlich nur ein klärendes Gespräch. 
Am besten persönlich. 
Doch das geht gerade nicht. 
Also ein Brief.

Darin verteidigt Paulus sich:
„Ich habe niemandem Unrecht getan, niemanden verletzt, niemanden übervorteilt.“
Und er droht: „Wenn ich das nächste mal komme, dann hört der Schongang auf.“
Und man hat das Gefühl: so wird das nichts.
Verteidigung, Angriff, Emotionen, Tränen auch, wild gestikulieren, mit der Hand abwinken.
Das hat keinen Zweck. Komm hör auf.

Paulus argumentiert gern eindringlich. 
Wie man das gern mal tut, wenn man sich in die Enge getrieben fühlt. 
Er bleibt nicht immer ganz sachlich, das kann er gar nicht. 
Aber er schreibt. Und bleibt in Beziehung.
Heiliger Kuss – so schmeckt vielleiccht Versöhnung. 
Und er ringt darum, wie er von Gott erzählen soll. 
Gnade. Liebe. Gemeinschaft.

IV.
Paulus, du selbst weißt, wie sehr du die Gnade brauchst und die Liebe und die Gemeinschaft.
Du weißt um deine Ecken und Kanten.
Was dir schwer fällt. Was du nicht kannst, auch wenn du es noch so sehr willst.
Du ist nicht der Super-Apostel, nicht der strahlende Redner.

Und dass du gesundheitlich angeschlagen ist, verschweigst du auch nicht. (Gott sei Dank!)
Fragen quälen. 
Bist du überhaupt dieser Aufgabe gewachsen? Müsstest du nicht viel öfter vor Ort sein?
Manchmal denkst du, du solltest deine Zunge besser im Zaum halten.
Vielleicht hast du doch zu viele vor den Kopf geschlagen?

Und dann erinnerst du dich: Gott ist in den Schwachen mächtig.
"Gott macht noch aus meinem größten Mist etwas Schönes." (2)
Die Letzen werden die Ersten sein. Aus dem Senfkorn wird ein großer Strauch.
Die gekrümmte Frau kann aufrecht gehen und der Gekreuzigte steht auf.
Jesus teilt sein Brot mit Verrätern, Feiglingen und Karrieresüchtigen.
Sie alle liebt er. Und in dieser Liebe werden sie neu. Sehen sich selber neu.

Ja, Paulus, du musst nicht mehr um deinen Ruf kämpfen, denn bei Gott ist er gut.
Du brauchst das nicht mehr und entdeckst vielleicht auch die Verletzungen der anderen.
Auch sie brauchen den gnädigen und liebevollen Blick. Nicht nur du. Und das spürst du genau.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit dir!

V.
Vor 10 Jahren stand ich mit einer faszinierenden Frau auf der Bühne beim Kirchentag in Stuttgart. 
Nadia Bolz-Weber. Eine lutherische Pastorin aus Denver, Colorado. 

Ich hatte bis dahin noch nichts von ihr gehört, aber sie hat mich sofort in den Bann gezogen. 
Ihre Tattoos, ihre großen Ohrringe, ihr ausdrucksstarkes Gesicht. 
Und vor allem ihre einfache Sprache. 
(Mein Englisch ist nicht so gut, aber bei ihr verstehe ich jedes Wort!)
Später habe ich ihre Bücher gelesen und dann vor 6 Jahren in Berlin intensiver kennenlernen dürfen.


Warum erzähle ich von ihr?
Nadia kommt aus einer christlichen Kirche, die keine Frauen ordiniert.
Erst mit 27 hat sie erlebt, dass eine Frau im Gottesdienst überhaupt das Wort ergreift.
In ihrer Kirche durfte man nur innerhalb der Ehe Sexualität leben. 
Und so war sie - so erzählt sie - als Jugendliche, als junge Erwachsene zornig. Sehr zornig.
Hat getrunken, Drogen genommen und sich viel gestritten. 
Sie glaubte: So bin ich stark. Ich verletze und zeige nicht, wie verletzt ich bin. 

Seitdem ist viel passiert. Sie hat Gnade erlebt. Den Kuss der Gnade gespürt.
Ihr Körper gehört nun zu ihr, Liebe und Sexualität auch. 
Sie hat gelernt, sich aufzurichten. Aufrecht zu gehen. Sie ist groß und trägt hohe Schuhe. 
Sie predigt mit kurzärmeligem Hemd und jeder kann ihre bunttätowierte Haut sehen. 
Das fühlt sich nicht wie Show an. Sondern so ist sie. Sie versteckt nichts. 
Sie zeigt sich, ihre Tränen, ihre Wut. Nicht damit jeder sie dann wichtig findet,
sondern so kann jede und jeder seine eigenen Tränen, ihre eigene Traurigkeit empfinden. 
Und ist darin aufgehoben: Ein Raum der Gnade.

Wenn Nadia über Gott und Glauben redet, klingt das wie ein Überlebensmittel. 
Und wie etwas, was unglaublich viel größer ist als sie, was sie aber nicht kleinmacht. 
„House of all Sinners and Saints“ – "Herberge für alle Sünder und Heiligen" 
So heißt die Gemeinde, die sie gegründet hat. 
Wer da kommt, war oft lange verkrümmt und lernt gerade, sich aufzurichten. 
Wer da kommt, lernt es neu, an Wunder zu glauben. Und sich selbst zu lieben.

VI.
Und darum erzähle ich so viel über Nadia: 
Denn das ist es, was wir als Kirche, ja, was unsere Welt braucht: Räume der Gnade. 
Räume, in denen wir lernen, uns selbst zu lieben.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes ist mit Nadia und ist mit uns allen.

Gnade ist Heilwerden und die Sehnsucht danach.
Gnade ist die Möglichkeit, dass es auch gut gehen könnte. 

Gnade ist, dass Gott da ist. Ganz nah. Am Herzen.

Gestern auf dem CSD verteilten wir wieder unsere Segensbänder: "Ich bin wunderbar gemacht."
Ich sah Stirnrunzeln, zuckende Mundwinkel und Tränen in den Augen, wenn wir sie anlegten. 
Meinst du wirklich mich? Die Kirche sieht mich? 
Du segnest mich, die doch von so vielen Christen als Sünderin bezeichnet werde?

Ja, dich segne ich. Dir sag ich zu, dass du Gottes geliebtes Kind bist, so wie du bist. 
Du bist wunderbar gemacht
!
Und so haben wir auf dem Marktplatz in der prallen Sonne und bei lauter Musik 
einen Raum der Gnade geschaffen.
Einen Raum am Herzen Gottes.

VII.
Und auch hier ist der Raum der Gnade. Hier und heute an Trinitatis.
Und zusammen öffnen wir diesen Raum zum Herzen Gottes.
Und sagen: Die Gnade ist mit dir.

Die Gnade ist mit dir, 
die du dich selber nicht leiden kannst.
Gott macht aus deinem größten Mist noch was Schönes:
Aus deiner Inkonsequenz und deiner Wut, aus deiner Angst vor der Zukunft 
und aus deiner Angst vor Fremden und queeren Menschen vielleicht auch.

Gnade sei mit dir,
wenn du mal wieder frustriert bist, dass du nicht so viel geregelt kriegst wie die Nachbarin,
wenn du mit deinen Kindern nicht klar kommst,
wenn du genervt bist von deinen Eltern oder sie sogar hasst.

Gnade sei mit dir,
wenn du nicht die passenden Klamotten hast,
wenn du dir den Kaffee beim Starbucks nicht leisten kannst
oder wenn sich andere an deiner Hautfarbe stören.

Gnade sei mit dir in dieser ungnädigen Welt.
Jesus richtet dich auf. Denn du bist geliebt. Ja genau du!

Jesus nimmt dich mit in den Raum aus Gnade und Liebe.
Mit Nadia und der verkrümmten Frau 
und den vielen Menschen, die gestern dieses Armband bekommen haben.

Der Raum aus Gnade und Liebe - er ist so groß, so riesig,
da sind auch die, mit denen du nicht rechnest. Vermutlich rechnen sie auch nicht mit dir.
Aber Gott macht aus eurem ganzen große Mist was wirklich Schönes.
Und ihr werdet heil mit ihm.

Amen

(1) Dieser Teil bezieht sich auf die Lesung aus Lukas 13,11-17 (Heilung der gekrümmten Frau)
(2) Nadia Bolz-Weber, "Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen" - Pastorin der Ausgestoßenen, S. 76

Dienstag, 22. April 2025

Eine große Sause

Kaschnitz und Jesaja und das Leben nach dem Tode

Predigt am Ostermontag*

I.
Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja.


Und ich stimme Marie Luise Kaschnitz zu:
auch ich glaube an ein Leben nach dem Tod.
Glaube, dass Jesus auferstanden ist und dass ich auferstehen werde.

Gestern morgen auf dem Wallberg in der Morgensonne.
Ich höre von weggerollten Felsen,  die das Grab verschlossen haben
und nun den Weg frei geben. 
Und von dem sauber zusammengelegten Schweißtuch des Auferstandenen,
das zeigt, dass was Neues beginnt.
Ich singe gerne die Osterchoräle.
Das Jubeln fiel mir gestern leicht, auch wenn die Stimme noch müde war.
Das Herz war warm. Die Augen klar gewaschen.
Wir sprachen von Osteraugen. Genossen den neuen Morgen. Frohe Ostern.

Ja, ich glaube, dass Jesus auferstanden ist.
Und die Kraft des Auferstandenen stärker ist als alle Bosheit.
Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Ja, das glaube ich.

II.
Aber da sind auch die Nachrichten aus der Ukraine und aus dem Kongo.
Aus Italien und den USA.
Tote durch Krieg, Unglück, Gewalt. Immer immer wieder. Es hört nicht auf.
Eine versprochene Osterruhe wird gebrochen.
Ein amerikanischer Präsident hat keinerlei Achtung vor dem Gesetz.
Die Opportunisten lachen sich gerade ins Fäustchen.
Wie ein Schleier legen sich diese Nachrichten über meine Osterfreude.
Über mein  Osterlachen.

Und trotzdem denke ich, fühle ich: Nein, jetzt erst recht!
Wenn Ostern nicht auch jetzt wahr ist, dann ist es nie wahr.
(Dass heute morgen der Papst gestorben ist,
nachdem er gestern noch den Ostersegen der Welt zugesprochen hat -
das könnte kaum passender sein, auch wenn sein Tod traurig ist.)

Ostern ist doch mehr als Frühlingssonne und Blumenrausch.
Ostern ist auch mehr als ein „Jetzt ist alles gut und das Leben geht weiter“.  
Aber was? Wie?

III.
Die Worte von Kaschnitz tragen mich weiter:
Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja

Aber dann wusste ich
Keine Auskunft zu geben

Wie das aussehen sollte

Wie ich selber

Aussehen sollte

Dort

Ich wusste nur eines

Keine Hierarchie

Von Heiligen

auf goldenen Stühlen sitzend

Kein Niedersturz

Verdammter Seelen

Nur

Nur Liebe frei gewordene

Niemals aufgezehrte

Mich überflutend
Kein Schutzmantel starr aus Gold

Mit Edelsteinen besetzt

Ein spinnwebenleichtes Gewand

Ein Hauch

Mir um die Schultern

Liebkosung schöne Bewegung

Wie einst von tyrrhenischen

Wellen

Wie von Worten die hin und her

Wortfetzen

Komm du komm

Schmerzweb mit Tränen besetzt

Berg- und Talfahrt

Und deine Hand

Wieder in meiner

So lagen wir 

Lasest du vor - Schlief ich ein - Wachte auf

Schlief ein - Wache auf

Deine Stimme empfängt mich

Entläßt mich und immer

So fort

Mehr also, fragen die Frager

Erwarten Sie nicht nach dem Tode?

Und ich antworte

weniger nicht.


IV.
Und ich will eigene Worte dazu legen. Stammelnd. Suchend - wie Kaschnitz:
Auch mir fällt es leichter zu sagen, was das Leben nach dem Tod nicht ist:
Schüsse und Todesschreie haben da keinen Platz. Lügen auch nicht.
Da gibt es keine Atemnot und keine Chemotherapie.
Und die Frage: Hast du meine Liebe verdient?  Die wird dort nicht gestellt.
Meine Hände zittern dort nicht mehr - oder doch?
Ich höre dort bestimmt kein „das kannst du ja sowieso nicht“.

V.
Aber ich will mehr als das.
Ich will alles verstehen, was ich jetzt nicht verstehe.
Ich will meine Mutter und meinen Onkel wieder in die Arme schließen
und ihnen sagen, was ich versäumt habe, zu sagen:
Wie dankbar ich ihnen bin und dass ich ohne sie nicht die wäre, die ich bin.
Ich will mich wieder mit meiner Schwester versöhnen und alle Gedanken mit ihr teilen.

Ich will Erdbeeren und Spargel in allen Variationen und alle Gedichte auswendig können.
Neue Wortschöpfungen will ich erobern.
Und die schönste Musik des Himmels hören -
eine geniale Mischung aus Bach und Lord of the Lost und Coldplay vielleicht.
Und selber alles laut mitsingen.

Ich will Fingerspitzen auf meiner Haut spüren, die mir sagen, wie einzigartig ich bin.
Und ich will mit meinen Freunden voller Leidenschaft diskutieren - 
bis tief in die Nacht.
Wir werden nicht müde und wissen, dass wir alle Recht haben.
Wir sind uns einig, dass man Abendmahl auch mal mit Süßigkeiten feiern kann
und trotzdem gefällt es uns mit Brot besser.
Meine kranke Freundin ist gesund wie früher
und meine jesidischen Freunde wissen, dass sie hier endlich sicher hier leben können.
Mit meinen jüdischen und muslimischen Freunden feiere ich ausgelassen
den Frieden in Israel und Palästina. Ach, das wäre himmlisch.

Ich will mit Kindern und Alten in allen Sprachen und Farben lachen und spielen.
Ich will tanzen und meine Füße tun mir nicht weh.
Ich will mich drehen und mir wird nicht schwindelig.
Ich will Felsen erklettern und fliegen und mich dabei ganz leicht fühlen.
Und der Tod ist ein alter Freund, mit dem ich ab und zu im Gras liege
und wir schauen uns die Wolken an und entdecken ihre Formen und Farben.
Wir wissen, dass sie Teil der Ewigkeit sind und darum lassen wir sie ziehen.
Alles ist gut. Und ganz.
Und Frieden. Ja, alles ist Frieden.

VI.
Glauben Sie fragte man mich

An ein Leben nach dem Tode

Und ich antwortete: ja



Und ich höre dazu Worte von Jesaja:

Und der Herr Zebaoth wird auf diesem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen,
ein Mahl von reinem Wein, von Fett, von Mark, von Wein, darin keine Hefe ist.
Und er wird auf diesem Berge die Hülle wegnehmen,
mit der alle Völker verhüllt sind,
und die Decke, mit der alle Heiden zugedeckt sind.
Er wird den Tod verschlingen auf ewig.
Und Gott der Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen 
und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen;
denn der Herr hat's gesagt.


VII.
Ich glaube, Jesaja und ich werden gute Freunde.
Eine große Sause bis in die Puppen.
Richtig richtig gutes Essen. Menschen aus nah und fern.
Und nichts mehr, was uns trennt.
Kein Schleier, keine Decke, - alles klar und offen.
Liebevolle Berührung. Zärtliches Tränenabwischen.
Gott reicht mir das Taschentuch und nimmt mich in den Arm.
Und die Gedemütigten werden aufgerichtet.
Leben nach dem Tod.
Maßloser Himmel.
Liebe pur.

VIII.
Und jetzt? 
Da ist die Lücke zwischen jetzt und dann.
Und die tut verdammt weh.
Die wird immer sein. Da wird immer was fehlen.

Darum klammere ich mich daran, dass Jesus bereits auferstanden ist.
Und ich bin überzeugt, dass Gott ihr Versprechen wahr macht:
Der Tod ist nicht das Ende. 
Auch für mich gibt es ein Leben danach.
Und was nach dem Tod kommt, ist so großartig, dass es mich beflügelt.

Ja, dieses Danach, das blitzt jetzt in mein Leben hinein.
Aller Unmenschlichkeit und Gewalt zum Trotz.
Der Auferstandene ist bei mir und lässt sich nicht mehr vertreiben.
Das Schweißtuch ist zusammengelegt. Es wird nicht mehr gebraucht.
Das Osterlicht ist da.  Und es blitzt herein. Jeden Tag.
Jesus sprach mal vom Sauerteig und vom Senfkorn,
die das Himmlische sichtbar machen.
Er brach Brot, damit wir den Himmel schmecken
und die Liebe bereits jetzt leben.

IX.
Also schau ich genau hin und achte auf die Osterlichtmomente.
Die kleinen Lichtfunken, die ich so leicht übersehe.
Die Freundin, mit der ich mich über hunderte Kilometer hinweg, verbunden fühle.
Der abendliche Chat mit einem Freund.
Die schamlos blühende Glyzinie vor meinem Fenster
und der wilde Tanz in der Küche beim Kochen.
Die mutigen Menschen hier in Pforzheim, die sich nicht einschüchtern lassen,
sondern beharrlich an einer gast- und menschenfreundlichen Stadt arbeiten.
Und das gemeinsame Gebet in alle vier Himmelsrichtungen auf dem Wallberg
am Ostermorgen. Wolkenleicht und erdenschwer.

In alledem spüre ich das, was noch kommen wird.
Das wird dann viel schöner und strahlender sein und ganz anders auch.
Und leichter.
Aber es trägt mich schon jetzt. Beflügelt. Macht mir Mut zum Leben.

Sie ist da, die Liebe  -
frei geworden
e
Niemals aufgezehrt  
Mich überflutend

Mehr also, fragen die Frager

Erwarten Sie nicht nach dem
Tode?

Und ich antworte

weniger nicht.


Auch nicht für jetzt.
Amen.


*Ich habe diese Predigt so ähnlich vor 6 Jahren gehalten und sie nun aktualisiert.

Samstag, 19. April 2025

Nur noch das Kreuz - es ist alles

Predigt an Karfreitag zu Johannes 19

(mit Anleihen an meine Predigt von vor 4 Jahren und in Teil 3 an Formulierungen von Anna-Luise Amthor und Melanie Pollmeier - DANKE!!)



1.

Er trägt selber das Kreuz - hinaus aus der Stadt.
Niemand hilft ihm.
Hier bei Johannes ist kein Simon von Kyrene wie bei Matthäus.
Hier muss Jesus das Kreuz, das ihm den Tod bringt, selber tragen.
Allein.
Ausgeliefert.
Pilatus hat ihn ausgeliefert. Der römische Statthalter.
(Und auch wenn Johannes ihn weichzeichnet und als Unschuldigen darstellt: er ist es nicht. Er hat das Urteil gesprochen.)
Ausgeliefert den religiösen Gegnern. Dem Volk. Den Soldaten.
Ausgeliefert an die Welt. Von Pilatus und allen Tyrannen dieser Welt.
Dem Spott ausgeliefert und dem Mobbing. Dem Neid und dem Hass.
Ausgeliefert der Willkür. Des Spiels mit der Macht. Von einem, der die Macht hat.
Wer ausgeliefert wird, hat keinen Einfluss mehr darauf, was mit ihm passiert.
Kann sich nicht wehren. Ist machtlos. Trägt sein Kreuz selber.
In den Gefängnissen dieser Welt. In den Folterkammern. Auf den Hinrichtungsplätzen.
Ausgeliefert den Tiefen des Mittelmeeres, dem Gefängnis in El Salvador oder den Bomben auf die eigene Stadt.
Ausgeliefert an die Gleichgültigkeit, die Angst, der Verzweiflung.

Man könnte meinen, dass es ein Gottloser ist, der hier ausgeliefert wird.
So wie wir urteilen über Abgeschobene, Gefangengenommene, Bestrafte, Erschossene.
Aber es ist kein Gottloser. Es ist Gott selbst, der sich ausliefern lässt.

Gott lässt sich von einem König in das Dorf Bethlehem schicken.
Sie lässt sich die Tür vor die Nase schlagen: hier ist kein Platz für dich.
Gott lässt sich in einen Futtertrog legen. Er lässt sich in die Flucht schlagen.
Gott lässt sich abführen und bespucken, verleugnen und verraten.
Lässt sich foltern und ans Kreuz schlagen.
Gott lässt sich ausliefern.

Gott hat sich als Mensch ausgeliefert.
Ganz und gar. Ohne Abstriche.
Und trägt das Kreuz selber. Ein menschlicher Gott. Ein leidender Gott.

2.

Er trägt sein Kreuz selber. Nackt und bloß. Geschlagen und geschunden.
Ohne Mantel. Den haben die Soldaten und spielen um ihn.

Jesus ist für sie uninteressant geworden.
Er zählt nicht mehr. Eine Nummer. Mehr nicht.
Was er hat, ist interessant, nicht was er ist.
Dass da eine Mutter ist, die um ihn weint - eine Freundin, die um ihn trauert.
Dass er liebt und geliebt wird.
Dass er Träume hat und Hoffnungen.
Dass er leben will.
Lieben. Lachen. Tanzen. Umarmen. Glauben. Weinen. Staunen. Zweifeln. Sich freuen.
Das alles interessiert nicht.

Man blendet aus, dass hier ein konkreter Mensch stirbt.
Rückt von ihm ab. Weicht aus.
Wir können sowieso nicht alle aufnehmen, sagen manche über die Flüchtlinge.
Selbst denen wir es versprochen haben: was soll’s?
Die Toten in Myanmar - wer kann sie schon zählen.
Die vielen Namenlosen, die sich nun vor der amerikanischen Polizei verstecken müssen.
Die vielen Kinder, die in christlichen Heimen misshandelt wurden.
Die vielen Familien in den Trümmern dieser Welt.
Zahlen. Nummern. Wenn überhaupt.

Jesus ist heute die Nummer 3. Wird in die Mitte platziert. Da hängen schon 2 andere.

3.

Einer von vielen. Uninteressant.
Aber der Mantel ist für die Soldaten interessant.
Denn er ist wertvoll. In einem Stück gewebt.

Die Geschichte dieses Mantels interessiert sie nicht.
Das Gewand, das Jesus durch die Jahre begleitet hat, als er durch das Land zog.
Auf dem Stoff hatten Kinder gesessen, wenn er erzählte.
Der Saum war feucht geworden vom Wasser des Sees.
Der Staub der langen Wanderungen hatte sich in den Fasern festgesetzt.
Jesus hatte sich darin zusammengerollt,
als er im Rumpf des Schiffes schlief, während draussen ein Sturm tobte.
Er wurde berührt von der seit Jahren menstruierende Frau,
unrein und ausgestossen, und sie ersehent Heilung.
Der Mantel riecht noch nach Fisch und nach dem Rauch des Feuers am Abend.
Und nach der Liebe seiner Mutter Maria, die ihn wohl einst webte. 
Alles, alles in diesem einen Stück Stoff, ein Kleid der Liebe und des Lebens,
ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück.

4.

Jesus hat diesen Mantel nicht mehr, sondern nur noch das Kreuz.

„Nur“ - ach, wenn es nur ein "Nur" wäre.
Aber das Kreuz ist alles.
Alles Leid, alle Kälte, aller Hass, alle Angst.
Alle Tränen. Alle Einsamkeit. Alle Wut. Alle Ohnmacht. Alle Sinnlosigkeit.
Alles das trägt Jesus.
Und er erträgt, was keiner ertragen kann, aber viel zu viele ertragen müssen.
Jesus weint die Tränen der gedemütigten Kinder
Jesus klagt mit palästinensischen und israelischen Müttern und Vätern.
Die Schläge der Peiniger im großen Gefängnis in El Salvador graben sich in seine Haut.
In Stich gelassen schleppt er sich weiter wie die afghanischen Frauen.
Mit dem Kreuz.

5.

Jesus hat nur noch das Kreuz.
Aber am Ende ist Jesus nicht allein.
Und das ist für mich das Tröstlichste an dieser Szene.
Der Gottverlassene ist nicht verlassen.
Denn da sind die anderen, die ihn lieben.
Die Marias, die Mutter von Jesus und der eine von den Freunden ist auch da:
er steht Jesus besonders nahe.

Sie stehen da - fassungslos, voller Angst, verzweifelt, todtraurig.
Aber sie stehen für ihn da. Lassen ihn nicht in Stich.
Folgen seinen Spuren. Tragen seine Liebe weiter.
Leiden mit ihm. Trauern um ihn. Sind an seiner Seite.
Und sie stehen zusammen da. Und auch darauf kommt es an.
Der Sterbende spricht zu ihnen:
Ihr gehört zusammen. Bleibt beieinander.
Tragt zusammen, was für eine allein zu schwer ist.
Sein Liebesmanifest im Tod. Seine Botschaft am Kreuz.
Die Liebe hört nimmer auf.
Ihr seid nicht allein. Ich bin bei euch. Und ihr seid bei mir.

So bleibt beieinander und nehmt die Liebe mit.
Tröstet die, die um ihre Liebsten trauern. Nehmt sie in den Arm.
Bleibt beieinander und lasst euch nicht gegenseitig ausspielen.
Seid wachsam für die, die ins Nichts geschickt werden.
Lasst sie nicht in Stich. Auch wenn ihr gerade nicht mehr tun könnt, als da zu sein.
Unterm Kreuz. Für sie.
Sie brauchen euch. So wie Jesus euch braucht. Damit er nicht allein ist.


6.
 
Es ist vollbracht. Die letzten Worte von Jesus.
Vollbracht.
Ein Wort, das ich nie wirklich verstehe.
Will es mich vertrösten? Alles ist gut so? Alles soll so sein?
Kein Mensch kann das wirklich wollen. Und kein Gott.

Aber nun ist es da, dieses Wort: vollbracht.
Und ich schaue aufs Kreuz, das die Vertikale und die Horizontale zusammenführt.
Himmel und Erde und die ganze Welt.
Alles das kommt zusammen in diesem Kreuz und unter und an dem Kreuz.
Es ist vollbracht. Es ist alles.

Und ich schaue auf diesen Ausgelieferten und Gedemütigten,
auf den, der noch im Sterben Liebende zusammen bringt.
Er sorgt dafür, dass da welche beieinander stehen. Einander halten und stützen.
Dass sie in seinen Spuren weiter gehen.
Sein Tod reißt nicht auseinander, sondern führt zusammen.

Dieses Kreuz führt Gott da hinein, wo es dunkel ist.
Wo nichts mehr ist. Wo alles auseinander bricht.
Wo wir an unser Ende kommen -
ausgeliefert und gedemütigt und nackt und voller Wunden und Narben.
Da ist Gott.
Bei den Müden und Erschöpften, den Verzweifelten und Ausgepowerten,
den Verprügelten und Kraftlosen und Eingesperrten - da ist er: der Liebende.
Er bleibt mit seiner Liebe. Er hält das aus, was ich nicht mehr aushalte.
Und er hält mich aus. Ist bei mir. Voll und ganz.


7.

Jesus trägt selber das Kreuz und stirbt am Kreuz und umarmt die ganze Welt.
Es ist vollbracht.
Dieses ausgelieferte, gedemütigte, nackte, liebende Leben ist vollbracht.
Da ist kein Makel und kein Scheitern, auch wenn die anderen das so sehen.
Es ist ganz. Ganz und gar. Es ist vollständig.
Wie das Gewand, um das die Soldaten würfeln.
Alles was vorher Liebe war ist immer noch voller Liebe.
Und die Liebe geht mit in den Tod. Sie bleibt.
Voll und ganz.

Amen.

Samstag, 12. April 2025

Hier ist der Mensch!

Viele Fragen und kaum Antworten, aber die Erkenntnis, dass die Wahrheit vor Augen steht, obwohl selbst die Bibel nicht frei von Unwahrheiten ist.....



Predigt zu Johannes 18,28 bis 19,5 (1)

(mit Dank an Gundula Meiner, Ann-Kathrin Kruse  und die "Predigtbuddies" für Anregungen und Ideen, die ich zum Teil übernommen habe - vor allem in den Teilen 2 bis 4.
Bild ist von Antonio Ciseri)

1.
Hier ist der Mensch!
Ist das die Antwort auf die vielen Fragen, die Pilatus stellt?
Die Antwort auf meine Fragen? Auf deine Fragen?
So viele Fragen, auf die keine Antwort kommt.
Hier ist der Mensch - ist das die Wahrheit, nach der Pilatus fragt?

Hier ist der Mensch!
Hier ist er. Bespuckt. Geschlagen. Ausgelacht. Verhöhnt. Gefoltert. Gekrönt mit Dornen.
Hier steht er. Ausgeliefert den Blicken, der Willkür, der Macht.
Hier ist er. In Stich gelassen von seinem besten Freund. Ins Visier der Feinde geraten.
Instrumentalisiert von allen, die von sich ablenken wollen.

2.
Hier ist der Mensch!
Ein Mensch, der vor einem römischen Gericht steht.
Ein Jude.
Angeklagt von den Oberpriestern dem Tempels:
Wieder so ein Aufrührer, der das ohnehin schon gebeutelte jüdische Volk
unter den lauernden Augen der römischen Besatzer in Gefahr bringt.
Den Römern reicht der leiseste Vorwand, um noch grausamer zuzuschlagen.
Er wird als neuer König gefeiert. Das ist gefährlich.
Nennt sich selber sogar „Sohn Gottes“.
Das erfüllte im Römischen Reich den Tatbestand des Hochverrats:
Einer „wie Gott“ zu sein, das durfte nur einer für sich beanspruchen:
der Kaiser des Römischen Reiches.
Kreuzigen ist die römische Methode, mit solchen Rebellen abzurechnen.
Was am Ende zur Anklage führte – heute ist das nicht mehr nachvollziehbar.
Klar ist nur:
Verantwortlich für das alles sind die römischen Herrscher,
nicht die Juden und Jüdinnen - wie Johannes es darstellt.
Dazu hatten sie gar kein Recht und keine Möglichkeiten.
Was bleibt, ist das Flehen: Schaffe mir Recht, Gott! (Psalm 43)(2)

3.
Hier ist der Mensch!
Und dieser Mensch wird von Pilatus gefragt: Was ist Wahrheit?
Und dann geht er wieder hinaus und sagt: Ich sehe keinen Grund, ihn zu verurteilen.

Der Evangelist Johannes beschreibt Pilatus mit dickem Weichzeichner:
Als einen maßvollen Richter, der die richtigen Fragen stellt. Als einen, der Jesus für einen harmlosen Querulanten hält.
Andere Quellen beschreiben Pilatus aber als brutalen, kaltschnäuzigen und grausamen Gewaltherrscher. Ein Autokrat, für den kein Gesetz zu gelten scheint – wie aktueller er kaum sein kann… Mit Aufrührern macht er gleich kurzen Prozess oder gar keinen. Ausgerechnet an seinen Namen erinnern wir Christinnen und Christen regelmäßig in unserem Glaubensbekenntnis: Gelitten unter Pontius Pilatus…..

„Was ist Wahrheit?“  Pilatus interessiert die Frage nicht wirklich. Der Schreibtischtäter mit der weißen Weste fällt das Todesurteil und lässt es vollstrecken, aus Lust an der Gewalt, aus politischem Kalkül, zur Abschreckung oder einfach, um diesen lästigen Juden loszuwerden. Populist ist er auch noch. Tut so, als ob er das Volk befragt.  Und macht sie alle miteinander lächerlich, die jüdischen Ankläger, den Juden Jesus, das Volk. Wahrheit und Gerechtigkeit werden dem Machterhalt geopfert.

4.
Was ist Wahrheit?
Wahr ist: Über Jahrhunderte wurde aus dieser Darstellung der Passionsgeschichte durch Johannes eine Anklage gegen das gesamte jüdische Volk. Die Beschuldigung als „Christusmörder“ wurde zur Rechtfertigung von Hass, Verfolgung und extremer Gewalt gegen Jüdinnen und Juden.
Oft wurde einfach vergessen: Jesus selbst war Jude!
Seine Jünger waren Juden. Und nicht „die Juden“ als Volk wollten seinen Tod, sondern eine Gruppe von religiösen Führern, die Angst um ihre Macht hatten. In einer Zeit, in der die ersten Christen sich von ihrer jüdischen Herkunft immer mehr entfernten und gleichzeitig nicht als Feinde Roms erscheinen wollten, war es politisch hilfreich, die Hauptschuld an Jesu Tod bei den jüdischen Führern zu verorten. So konnte man Jesu Hinrichtung als römisches Versehen deuten – und die ersten Christen standen nicht als Anhänger eines verurteilten Verbrechers da. Mit diesem christlichen Opportunismus nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Und hier steht er, der Jude Jesus, jahrhundertelang immer wieder neu bespuckt, gedemütigt, gequält, getötet - auch von Menschen, die an Jesus glauben.

5.
Doch es gab und gibt auch andere. Gott sei Dank.

Dietrich Bonhoeffer zum Beispiel. In 3 Tagen, am 9. April jährt sich zum 80. Mal sein Todestag. Im KZ Flossenbürg hingerichtet von den Nationalsozialisten, weil er mit anderen Christen und Christinnen gegen Hitler kämpfte. Einer der wenigen evangelischen Theologen damals, der erkannte, welches Unrecht den Juden und Jüdinnen angetan wurde und er kritisierte seine Kirche scharf dafür, dass sie sich nicht für die von den Nazis Verfolgten einsetzte. Er forderte, dass die Kirche die Opfer von Willkür und Unrecht nicht nur betreuen, sondern sich schützend vor sie stellen sollte - dass sie dem Rad in die Speichen fällt, also das Unheil aktiv stoppt und nicht nur zuschaut und abwartet. Nicht weil die Christen die bessere Politik machen würden, sondern weil es ihre Aufgabe ist, für die Verfolgten und Bedrohten einzustehen - die Stimme für die Verstummten zu sein, für die Entrechteten, die Minderheiten. Die Kirche ist nur dann die Kirche Jesu, wenn sie nicht für sich selber da ist, sondern für andere eintritt.

6.
Denn so ist Jesus.
Das wusste nicht nur Bonhoeffer, sondern laut Johannes sogar Pilatus, auch wenn er damit nichts anfangen konnte.
Jesus, der Mensch, der nicht für sich selber eintritt, sondern für andere.

Hier ist der Mensch!
Hier ist der Mensch, der die Liebe Gottes lebt und zeigt - mit Haut und Haaren und seinem ganzen Körper. Und das ist eine ganz andere Wahrheit als die von Mächtigen wie Pilatus und Trump, Putin und Erdogan und wie sie alle heißen. Die Wahrheit von Jesus ist eine ganz andere als die von dieser Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt. In der Wahrheit von Jesus führen keine Fake-News zu einer unmenschlichen Politik, die in Kauf nimmt, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und Kinder aus ukrainischen Hochhäusern gebombt werden. Nein, die Wahrheit von Jesus zerstört Lüge und macht frei, die Liebe zu leben. Sie stellt sich den Suchenden wie einem Nikodemus, auch noch mitten in der Nacht, sie nimmt dem Populismus die Steine aus der Hand und schützt eine Frau, die von der Mehrheit verurteilt wird. Sie lehrt, dass das Teilen satt macht und hält den Zweifler Thomas aus. Sie wäscht die Füße und schließt die Kinder in die Arme. Wer herrschen will, muss dienen. Das ist die Wahrheit Jesu.

7.
Hier ist der Mensch.
Sei ein Mensch.
Diesen Satz lernte der Sportreporter Marcel Reif von seinem jüdischen Vater, der den Holocaust überlebte. Sei ein Mensch. Bleibe menschlich und empathisch, liebevoll und aufrecht und ehrlich.

Sei ein Mensch, der nicht von außen zuschaut, wie Opportunismus das Leben von so vielen gefährdet. Nur weil eine angebliche Mehrheit will, dass mehr Geflüchtete abgeschoben werden sollen, akzeptiere das nicht einfach so. Schau genau hin, ob es wirklich die Lösung für unsere Probleme ist, was die sogenannte Mehrheit will, und widerspreche, wo es sich als Fakenews entpuppt.

Sei ein Mensch und bleibe menschlich, auch wenn du dafür ausgelacht wirst.
Sei ein Mensch und stelle dich an die Seite derer, die zum Sündenbock gemacht werden.
Lass sie nicht allein.

8.
Du kannst so ein Mensch sein, weil hier dieser Mensch Jesus für dich einsteht.
Da steht er mit seinem Purpurmantel und seiner Dornenkrone.
Gottes Sohn.
Und so wie er bist auch du Sohn und Tochter Gottes, Gottes Kind.
Wertvoll, geachtet, gesegnet von Gott.
Aufrecht stellst du dich den Anhängern von Pilatus, Trump, Putin und wie sie alle heißen entgegen,
Den Lügen und der Menschenverachtung schaust du ins Auge und lässt ich nicht beeindrucken.
Ja, du fühlst immer noch deine Ohnmacht, du hast auch Angst, aber du weißt, dass du nicht alleine bist. Tote und lebende mutige Menschen stehen dir zur Seite: die amerikanische Bischöfin Mariann Budde oder der Senator Cory Booker zum Beispiel, 25 Stunden lang entlarvte er die Lügen im Stehen. Oder Duzen Tekkal, die den Pforzheimer Friedenspreis bekommen hat. Menschen wie sie machen mir Mut. Und dir hoffentlich auch!

Aber vor allem: hier ist der Mensch.
ECCE HOMO.
Jesus, Mensch und Gottes Sohn.
Er steht da und ist da für dich.
Und für die ganze Welt.

(1) Johannes 18,28 - 19,5 (Übersetzung nach der Basisbibel)

Die Vertreter der jüdischen Behörden brachten Jesus zum Sitz des römischen Statthalters, dem sogenannten Prätorium. Es war früh am Morgen. Sie gingen nicht in das Prätorium hinein, um sich nicht zu verunreinigen, damit sie das Pessachmahl essen könnten.
Also kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte:
»Welche Anklage erhebt ihr gegen diesen Menschen?«
Sie antworteten und sagten zu ihm:
»Wenn er nicht ein Verbrecher wäre, hätten wir ihn dir nicht ausgeliefert.«
Da sagte Pilatus zu ihnen:
»Nehmt ihr ihn und verurteilt ihn nach eurem Gesetzbuch!«
Die Jüdinnen und Juden sagten zu ihm: »Es ist uns nicht erlaubt, einen Menschen hinzurichten.«
Dies geschah, damit das Wort Jesu erfüllt werde, mit dem er angekündigt hatte, auf welche Weise er sterben sollte.
Pilatus ging wieder hinein ins Prätorium, rief Jesus und fragte ihn:
»Bist du der König des jüdischen Volkes?« Jesus antwortete: »Ist das deine Meinung oder haben es dir andere über mich gesagt?«
Pilatus antwortete:
»Bin ich etwa ein Jude? Angehörige deines Volkes und die Hohenpriester haben dich mir ausgeliefert. Was hast du getan?«
Jesus antwortete:
»Mein Reich gehört nicht dieser Welt an. Wenn mein Reich dieser Welt angehören würde, würden meine Leute kämpfen, damit ich nicht der jüdischen Obrigkeit ausgeliefert werde. Mein Reich ist aber nicht von hier.«
Da sagte Pilatus zu ihm: »Bist du also doch König?«
Jesus antwortete: »Du sagst, dass ich König bin. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Alle, die der Wahrheit angehören, hören auf meine Stimme.«
Pilatus fragte ihn: »Was ist Wahrheit?«
Und als er dies gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Vertretern der jüdischen Obrigkeit und sagte ihnen:
»Ich sehe keinen Grund, ihn zu verurteilen. Es ist aber Sitte bei euch, dass ich euch zum Pessachfest jemand freilasse. Wollt ihr nun, dass ich euch den König des jüdischen Volkes freilasse?«
Da schrien sie wieder und sagten:
»Nicht ihn, sondern Barabbas.« Barabbas war ein Räuber.
Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn auspeitschen. Die Soldaten flochten einen Kranz aus Dornen und setzen ihn auf seinen Kopf. Sie zogen ihm ein Purpurgewand an, kamen zu ihm, sagten:
»Sei gegrüßt, König von Israel!«und gaben ihm Ohrfeigen.
Pilatus ging wieder hinaus und sagte zu ihnen:
»Hier bringe ich ihn zu euch hinaus, damit ihr erkennt, dass ich keinen Grund sehe, ihn zu verurteilen.« Jesus kam heraus und trug den Kranz aus Dornen und das Purpurgewand.
Und Pilatus sagte zu ihnen:
»Hier ist der Mensch.«

 (2) Psalm 43 ist der für diesen Sonntag maßgebliche Psalm. Und dieser Vers "Schaffe mir Recht" gibt dem Sonntag Judika seinen Titel.


 




Mittwoch, 25. Dezember 2024

Der Anfang ist gemacht



Von Anfängen,
dem einen Wort und von Gotteskindern

Predigt zu Johannes 1 am Weihnachtsmorgen

1.
Im Anfang war das Wort.

Der Tag ist noch müde. Der Weihnachtsmorgen nach dem heiligen Abend. Geschenkpapier liegt noch herum, die Kerzen am Baum heruntergebrannt. Der Geruch vom abendlichen Raclette vermischt sich mit dem nach Wachs und Nordtanne. Die Weingläser stehen noch auf dem Tisch. Und die anderen schlafen.
Aber du bist wach. Machst dir einen Kaffee und sein Duft vermischt sich mit dem von Raclette und Nordtanne und Wachs und etwas Zweifel ist auch dabei.
Es ist ruhig. Am Anfang.
 
Und du gehst vor die Tür. Ganz am Anfang ist die Luft klar.  Sie riecht nach Morgenregen und nach Erde. Der Himmel ist so dunkelblau, dass man den Morgenstern noch sieht. Am Rand aber ist er hellblau und schimmert gold. Und dann kommt die Sonne an. Ein riesengroßer flacher Ball. Und siehe, es ist sehr gut.
 
Die Schöpfung weiß, was am Anfang zu tun ist. Wenn es Tag wird.  Wenn ein Same aufgeht und der Regen die Luft sauber gewaschen hat.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.  Und Regen und Tag und Nacht und Sonne und das Licht. Der Anfang ist ein Raum und in dem ist alles da und doch noch im Werden. So vieles, was entstehen kann und so vieles, das vergehen wird. Im Anfang ist beides da: Werden und Vergehen, Beginn und Ende. A und O.
 
2.
Am Anfang.
Am Anfang ist das Licht mild. Das Licht vom Weihnachtsmorgen.
Die Welt sieht anders aus in diesem Licht. Du siehst das Gute.
Das Wahre. Das Versöhnliche auch.
Du siehst das, was du sonst übersiehst.
Den kleinen Tropfen auf der Fensterscheibe in Regenbogenfarben.
Die Christrose zwischen Laub.
Den Herrnhuter Stern im Türeingang.
Du siehst, wie schön die Falten deiner alten Nachbarin sind. Sie haben so viel zu erzählen.
Du siehst die Rose auf dem Grab, die irgendjemand dorthin gelegt hat.
Und du siehst vielleicht, wie jemand frierend an der Bushaltestelle wartet
und nimmst ihn in deinem Auto mit.
 
Am Anfang sind deine Augen klarer als sonst.
Und zugleich siehst du, dass du nicht alles auf Anfang setzen kannst.
Aber du bist Teil davon. Mittendrin im Anfang, in den sich der Zweifel gemischt hat.
Und zugleich voller Sehnsucht nach diesen hellen Anfängen.
 
3.
Am Anfang.
Am Anfang ist die Liebe.
Und mit deinem dampfenden Kaffee in der Hand erinnerst du dich, wie du nur an ihn denken konntest und dabei vergessen hast, welcher Tag ist. Leicht und unbeschwert war sie, diese Liebe. Da zählte nicht, was die anderen sagten. Nur die zarte Berührung. Die Sehnsucht und der Blick in die strahlenden Augen.
Am Anfang war der Name, als du ihn das erste Mal sagtest.
Am Anfang war die Fahrradfahrt in der Nacht und die Gespräche im Café.
Am Anfang war eine Strähne, die ins Gesicht fiel und stundenlange Telefonate.
Am Anfang war der Arm, die Hand und ein pochendes Herz. Verstehen ohne Erklären.
Ganzsein. Ganz und gar. Ein Leib. Ein Fleisch.
 
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, 
und Gott war das Wort.
Dasselbe war im Anfang bei Gott. 
Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht,  
und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.
In ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat's nicht ergriffen.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.

 
Am Anfang war die Liebe und die Liebe wird Leib und Körper.
Wird Berührung und Herzschlagen und Wortestammeln.
Gott fängt mit jeder Liebe neu an und wird Leib und Körper in jeder Liebe.
Alles ergibt einen Sinn. Alles fügt sich zusammen.
Und alles, was unwahr ist, ist weit weit weg. Im Anfang. Und siehe, es ist sehr gut.

4.
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, 
und Gott war das Wort.

 
Der Anfang ist wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Nackt und unschuldig.
Du sitzt vor diesem Blatt und suchst nach dem richtigen Wort. 
Ist es müde oder voller Kraft?  Tröstet oder erschreckt es dich?
Was wird es über deine Zukunft sagen? 
Wird es dich verändern  oder dir gar den Boden wegreißen?
Für all diese Fragen ist es noch zu früh. Der Anfang ist noch nackt.
Das Wort wird noch geboren. Es kommt noch nicht auf deine Lippen. 
Denn du ahnst nur, dass es da ist.  Deine Sehnsucht nach dem Woher und Wohin.
Deine Liebe. Dein Leben. Alles ist darin, in diesem Wort.

Am Anfang ist das eine Wort bei Gott. Der Sinn allen Lebens - verborgen in dem Einen.
Nicht zu greifen. Das Wort, das Eine, es kommt zur Welt in einem Stall. 
Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Wo Menschen weinen und lachen.
Wo die Welt zusammenschrumpft auf einen Moment und einen Ort.
Der ist nichts Besonderes und doch alles.
Eigentlich gibt es dafür keine Worte:
für dieses Große, was uns hält, und für das Schöne, was uns umschließt.
Unsere Worte sind zu klein dafür. Zu klein für Gott.
Zu klein für das Leben. Zu klein für das Wunder.

5.
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, 

und Gott war das Wort.

 
Du möchtest alles auf Anfang stellen. Von vorne anfangen.
Nur das eine Wort und nicht die vielen anderen.
Keine Lügen. Keine Schuld. Keine Worte, die verletzen.
Was am Anfang so leicht ist, wird im Weitergehen so schwer.
Liebe lässt sich nicht halten. Gott auch nicht. Gott wird zu groß für dich. 
Du spürst wie verletzlich du bist und die Welt auch.
In diesen Tagen vielleicht ganz besonders, weil Weihnachten die Haut dünner ist als sonst.
Ein Streit tut heute besonders weh.  Die Bilder aus Magdeburg lassen verzweifeln.
Alleinsein ist heute kaum auszuhalten.
Und auch nicht die Sehnsucht nach mildem Licht und erster Liebe.
Ja, alles auf Anfang stellen – das wär’s, denke ich. Sehne ich. Du auch?
 
6.
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,

und Gott war das Wort.
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.

 
Am Anfang.
Am Anfang ist dieses Kind.
Fleischgewordenes Wort. Leben pur. Lebendiges Bündel.
Suchender Mund. Geschlossene Augen. Ausgeliefert und bedingungslos. 
Noch ganz verschleimt und mit pulsierender Nabelschnur.
Es ist da. In diesem Anfang ist es ganz da:
Für dich und für mich und für alle, die hier sind oder zuhause oder weit weit weg.
Im Anfang ist dieses Kind und es kann dir nichts tun, außer in dein Herz kriechen: Dieses Kind - entstanden aus der Liebe von zwei Menschen. Aus Leidenschaft und Hingabe. Aus Gott.

Im Anfang ist dieses Kind. Die Liebe zwischen Gott und Mensch.
Dieses Kind setzt alles auf Anfang.
Alles ist neu. Alles beginnt neu. Und neu ist nicht perfekt.
Sondern verschleimt und zerknittert,
ausgeliefert und bedingungslos,
suchend und geborgen zugleich.
 
7.
Du kannst nicht alles auf Anfang stellen. Aber das Kind tut es. Gott tut es.
Gott weiß, was zu tun ist mit deinen Anfängen und Stolperschritten.
Mit deiner Sehnsucht und deinem Zweifel und deiner Trauer.
 
Du bist Gottes Kind. Du bist dieses Kind, das Fleisch gewordene Wort.
Anfängerin des Lebens. Anfänger der Liebe. Mitten in dieser Welt.
Du mit deinen Falten und deinen Träumen. Mit deinen Narben und deinem Schmerz.
Geboren aus der Liebe. Nicht perfekt, aber wunderbar.
Vielleicht noch dünnhäutiger. Vielleicht noch verletzlicher.
Vielleicht noch ausgelieferter – du Gotteskind..
 
Der Stall ist dein Anfangsort.
Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Dort, wo du den Kochlöffel in den Topf tauchst oder Bilanzen prüfen musst,
wo du an der Kasse Kleingeld entgegen nimmst oder zuhause die Windeln wechselst.
Überall wo du bist, bist du richtig. Weil Gott da ist. Bei dir.
Auch in deinem unaufgeräumten Wohnzimmer mit dem Geruch nach Raclette und Zweifeln.
 
Und Gott fängt mit dir an, ins Leben zu gehen.
Raus in die Welt mit ihren vielen ausgesprochenen und unausgesprochenen Worten.
Dort sprichst  du dieses Wort des Lebens und der Liebe.
Du stellst dich den Lügen und dem Hass entgegen,
damit es in dieser Welt neue Anfänge gibt.
Ihr geht gemeinsam und sprecht zusammen und liebt und lebt und weint und lacht.
 
Ob du nun müde oder wach bist an diesem Weihnachtsmorgen:
Der Anfang ist gemacht:
Himmel und Erde, die Nacht und der Tag,
der Regen und die Rose, das Licht, die Falten und die dünne Haut.
Und mit dir geht es weiter, du Kind Gottes. Du Wort Gottes. 
Und siehe, alles ist sehr gut.
 
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, 
und Gott war das Wort.
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.


Amen.


Dienstag, 24. Dezember 2024

Türen öffnen sich

Von Sehnsucht nach neuer Wirklichkeit und nach Frieden

Predigt zu Jesaja 9, 16 (Heiliger Abend) *


1. Hinter der Tür

Das Licht schimmerte durch die geriffelte Glasscheibe. Auch unter der Türritze konnten wir den Schein sehen. Manchmal versuchten mein Bruder und ich durchs Schlüsselloch zu schauen. Am 24. Dezember. Heiligabend zuhause.
Ein Auge zugekniffen und ich konnte das Lametta sehen und irgendwas, was unter dem Baum stand.  Die Sehnsucht war so groß. Ja, für einen Augenblick sah ich sie, die Zukunft mit einem geschmückten Weihnachtsbaum und schön verpackten Geschenken. Für diesen Augenblick hielten wir den Atem an. Nur eine verschlossene Tür trennte uns. Und wir warteten auf die Glocke, die unsere Mutter läutete.

Der Prophet Jesaja schaut wie durch ein Schlüsselloch in eine neue Zukunft. Tausende von Jahren ist das her. Es herrscht Krieg. Die Welt des Propheten ist in Blut getränkt. Sie ist dunkel. Draußen vor der Tür marschieren die Soldaten in ihren schweren Stiefel auf und ab und geben den Rhythmus des Lebens vor: Angst, Tod, Gewalt. Hunger, Elend, Leid. Bittere Realität damals und heute.
Aber Jesaja hält das nicht auf. Seine Sehnsucht nach einer neuen Wirklichkeit ist so groß. „Irgendwann muss die Zukunft doch beginnen“, denkt er. „Irgendwann muss es wieder hell werden.“ Und dann sieht er den Schimmer wie durch die geriffelte Türscheibe, schaut wie durch ein Schlüsselloch und hält für einen Augenblick den Atem an.

2. Neue Wirklichkeit


Was er da sieht, hören wir aus dem 9. Kapitel:
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende
auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.


Sie ist schon da, die neue Wirklichkeit.  Nur eine Tür scheint Jesaja noch zu trennen von der Welt, in der es wieder hell ist - mit Leben und Lachen, Zeit und Wunder, Frieden und Glück. Mit neugeborenen Kindern und gutem Leben für alle.
Nur eine Tür trennt Jesaja von der Zukunft, die doch schon da ist.

Die Hirten siebenhundert Jahre später, schauen nicht durch Schlüssellöcher, sie haben keine. Sie haben kein Dach über dem Kopf. Sie schauen in den Himmel. Und der öffnet sich für sie. Einen Spaltbreit, genau so viel, dass das Licht des Himmels auf sie scheint. Mitten in der Nacht, reiben sich die Hirten die Augen und kneifen sie ein wenig zusammen. Dann sehen sie: Licht in der Finsternis, Engel, die singen und ihr Hoffen wird Wirklichkeit: „Fürchtet euch nicht. Eine neue Zeit ist zur Welt gekommen, sie ist schon da, sie ist geboren. Nur eine Stallwand entfernt.“

Für einen Moment halten sie den Atem an, dann eilen sie voller Sehnsucht der Zukunft entgegen. Ja, sie wollen sehen, was ihnen gesagt wurde. Sie wollen das Kind sehen, auf dessen Schultern alle Hoffnung liegt. Das Kind, das Himmel und Erde verbindet: Wunder-Rat Gott-Held Ewig-Vater Friede-Fürst
In Windeln gewickelt, auf Stroh gebettet liegt sie da, die neue Wirklichkeit.
Für alle sichtbar. Zum Greifen nah. Und doch immer noch nicht zu begreifen.

3. Türen öffnen sich


„Habt keine Angst! Ich muss nur das Schloss aufbrechen.“  Hört man eine tiefe Männerstimme auf Arabisch rufen. Eine dicke Stahltür trennt die Frauen von der Freiheit. Da schimmerte kein Licht durch. Es war einfach stockfinster. Und nun dokumentieren Handyvideos die Befreiung aus Sednaja – dem berüchtigtsten Foltergefängnis Assads. Aus dunklen, verdreckten, engen Kammern strömen Frauen, Männer, ja sogar Kinder. Nach fast 14 Jahren Terror und Krieg in Syrien. Und die Welt hält den Atem an, denn alle wissen, diese Wirklichkeit ist so fragil. Und doch ist sie da. Sie ist jetzt da und mit ihr ein kleines Stück des Friedens, nach dem sich Menschen in aller Welt so sehr gesehnt haben. Und sie kommen und feiern, sie kehren heim, fallen sich in die Arme, lachen und weinen, tanzen auf den Straßen und freuen sich am Leben. Und zugleich wissen sie: die Tür kann wieder ganz schnell verschlossen werden. Die Tür zur Freiheit, zum Frieden. Zum echten Frieden. Wird sie offen bleiben?

Wie sehr will ich da wie durch ein Schlüsselloch schauen und wissen, dass in der Wirklichkeit dahinter Friede sein wird: dass Menschen frei ihre eigene Religion leben können ohne Abwertung anderer, dass Frauen und Mädchen gleichberechtigt lernen werden, zur Schule und zur Uni gehen können, frei über ihren Körper entscheiden.

Wenn ich dann durch mein Schlüsselloch schaue, in meiner Welt, sehe ich voller Dankbarkeit, was schon da ist: Friede und Demokratie; Freiheit zu lieben, wie ich es tue, und Kinder, die in Freiheit spielen und hüpfen und den Himmel über sich haben. Und ich sehe auch, wie gefährdet das selbst bei uns ist und die Türen zur Freiheit und zum Frieden zufallen können.

4. Sehnsucht


Was bringt dieser Blick durchs Schlüsselloch?
Ich brauche ihn: Diesen Blick und die Ahnung, dass da noch Gutes auf uns zukommt. Die Hoffnung auf Frieden, nicht nur im Kleinen und im Westeuropäischen, diesseits der polnischen Grenze. Sondern Frieden ohne Unterdrückung, ohne Angst und ohne, dass man andere abschrecken muss. Ohne Angst vor Attentätern und Hassgeschrei.
Ich brauche den Blick durchs Schlüsselloch. Ich will an Weihnachten ahnen können, dass auch im nächsten Jahr, dass auch in Zukunft Gutes auf uns zukommt. Dass Gott unter uns lebt und Friede auf Erden bringt. Auch wenn dieser Friede heute erst ein Säugling ist und wachsen muss.

Ja, manchmal überfrachte ich diesen Abend mit meiner Sehnsucht nach diesem Frieden und dieser Wärme und vergesse dann, dass dieser Frieden gar nicht von uns ausgeht, sondern von diesem Kind in der Krippe. Manchmal will ich zu viel und manchmal wird es mir zu viel. Früher, als Jugendliche, ertrug ich diese überladene Sehnsucht oft nicht mehr und floh erst mal raus. Einmal tief Luft holen. Die Tür hinter mir wieder zu, was ja viel realistischer war, oder?

Und doch, die Sehnsucht bleibt. Der Blick durch das Schlüsselloch auf eine neue, gute Wirklichkeit. Selbst sie ist nicht perfekt, aber sie ist da. Ich stehe mit den Hirten und schaue auf dieses Kind in der Krippe. Das Ganze ist so fragil wie ich es auch bin. Die Tür kann sofort wieder ins Schloss fallen und sie wird es auch wieder tun. Aber die Hoffnung bleibt. Ich sehe das Kind in der Krippe und weiß: das mit dem Frieden und der Freiheit hat noch ganz andere Dimensionen als ein Weihnachtszimmer.

5. Türen offen halten


Aber heute genügt es. Vielleicht genügt heute nur ein bestimmtes Weihnachtslied oder der eine Weihnachtsstern, den meine Mutter mal gebastelt hatte und den ich immer noch habe und der hängt am Weihnachtsbaum, viele viele Jahre nach ihrem Tod. Vielleicht muss ich nur diesen Stern sehen und dann ist alles wieder da wie damals: der Schimmer durch die Scheibe, der Blick durchs Schlüsselloch, das Klingeln der Glocke, die warmen Arme, die mich umfangen. Und ich weiß zugleich, dass Frieden viel mehr ist.

Vielleicht gehen die Türen morgen wieder zu, aber heute halte ich sie offen, die Gott uns weit aufreißt. Heute freue ich mich auf das Essen mit meinen jesidischen Nachbarn und weiteren Freunden. Heute hoffe ich mit den syrischen Menschen, dass ihre Türen zur Freiheit offen bleiben. Heute hoffe ich, dass sich die Türen für alle öffnen, die im Dunkeln sind und die Angst haben. Heute stehe ich mit den Hirten vor der Krippe, sehe mit ihnen den offenen Himmel und singe zusammen mit den Engeln. Heute sehe und schmecke und fühle ich mit großem Herzen, was Jesaja verspricht:
Uns ist ein Kind geboren.
Und des Friedens ist kein Ende,
dass er’s stärke und stütze
durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.


Das war sie und ist es noch, die neue Wirklichkeit, die Zukunft, sichtbar und zum Greifen nah.  

Amen.

* Mit herzlichen Dank vor allem an Elisabeth Kühn, der ich vor allem die Formulierungen und Ideen in der ersten Hälfte der Predigt verdanke!

Sonntag, 8. Dezember 2024

Die Müden stärken


Gott macht keine halben Sachen.

Predigt zu Jesaja 35, 3-10 (2. Advent)

I.
Müde siehst du aus, sage ich zur Freundin. Karin* seufzt. (*Name anonymisiert)
Ich mache mir Sorgen um meine Mutter, sagt sie.
Sie findet sich immer weniger zurecht. Immer öfter kommt es vor, dass sie die Frau von der Diakoniestation nicht reinlässt. Und ich kann von Hamburg aus nichts tun. Ich bin viel zu selten bei ihr. Diese Sorge um sie macht mich manchmal verrückt.
Und ich nehme Karins Hände und wir halten uns eine Weile.

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen:
»Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!


Peter sitzt vor uns im Restaurant.
Das Eis, das wir essen, ist so teuer, wie sein gesamter Tagesverdienst.
Wir haben uns am Malawisee kennengelernt und miteinander gesprochen.
Ein intelligenter junger Mann, 24 Jahre alt.
Hier am Malawisee geht es den meisten wegen der Touristen noch relativ gut.
Aber in Malawi, dem zehntärmsten Land der Welt sind die Perspektiven auch für ihn schlecht.
Richtig schlecht.
Er, der hier in Deutschland garantiert studieren würde,
konnte dort seinen Schulabschluss nicht machen.
Sein Onkel, der das Schulgeld bezahlt hatte, musste die Zuschüsse einstellen.
Nun verkauft Peter Hemden und Schmuck, von seiner Familie hergestellt.
Dafür spricht er Tag für Tag Touristen in den Lodges am See an.
Und wenn er Glück hat, verkauft er mal ein Hemd für 30 Euro.

Er würde gerne seinen Schulabschluss noch machen.
Und dann eine Ausbildung. Würde gerne Design studieren.
Aber er hat das Geld nicht. Wie die meisten seiner Landsleute.
Die Regierung kann den jungen Menschen keine Bildung ermöglichen.
Die Straßen sind marode. Das Benzin knapp. Das Wasser verschmutzt.
Die Wälder abgeholzt. Ausgeliefert den Zyklonen, Überschwemmungen und Dürreperioden,
die mit dem Klimawandel immer heftiger werden.
Peter kommt aus diesem Teufelskreis aus Armut und Abhängigkeit nicht heraus.
Wir schütteln uns zum Schluss die Hände. Und ich schäme mich für das Eis.

Wir beklagen hier in Europa 200 Tote bei den Überschwemmungen in Valencia - zu Recht!
Die über 1300 Toten der Überschwemmungen in Malawi nehmen wir gar nicht mehr wahr.
Zu weit weg.
Und statt diesen Menschen zu helfen und zum Beispiel die Bildungsangebote auszubauen,
die mein Schwager mit der Volkshochschule dort mit Projektpartnern organisiert,
wird in Deutschland der Haushalt für wirtschaftliche Entwicklung sogar weiter gekürzt.

Malawi - "the warm heart of Africa" - das warme Herz Afrikas.
Das verzagte Herz. Das verzweifelte Herz.

II.
Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen:  »Seid getrost, fürchtet euch nicht!
Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache;
Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«


Hörst du das, Peter, der du dir Sorgen um deine Zukunft machst?
Hörst du das, meine liebe Freundin Karin, mit deinen Sorgen um deine alte Mutter?
Stärkt die müden Hände! Seht da ist euer Gott!
Er wird dir helfen.  Er tritt für dich ein, Peter, und für dich, Karin auch.

Peter, du fragst vielleicht: wo hilft er mir? Und wie?
Erwartest du überhaupt noch was von Gott?
Ja, du schon. Du hältst unerschütterlich an Gott fest.
Er wird mir helfen, sagst du.

Und ich bin diejenige mit dem Zweifel.
Denn ich weiß: ich bin doch diejenige, die helfen könnte. Aber ich weiß nicht wie.
Nur mit Geld?  Ist das nicht ein Tropfen auf dem heißen Stein?
Außerdem haben wir doch in unserem Land auch so viele Probleme.
Die Sorgen um unsere alten Eltern. Um unsere Kinder. Die Sorgen um die Wirtschaft.
Und wie es nach der nächsten Bundestagswahl wohl weiter geht. Ob es noch kälter wird?
Und zugleich schäme ich mich.
Denn wir leben immer noch in einem so reichen Land.

Ich weiß, dass Gott diese Ungerechtigkeit nicht will.
Diese ungleiche Verteilung in unserem Land und die Armut in Malawi.
Ich weiß, dass das, was jetzt ist, nicht alles sein kann.
Da ist mehr und es kommt mehr. Eine andere Welt verspricht Jesaja.
Eine gerechtere und eine liebevollere Welt.
Eine Welt für Peter und meine Freundin Karin und ihre Mutter.
Ja, dafür steht dieser Gott.
Und Gott steht für alle mit ihren verzagten Herzen und müden Händen.

III.
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan
und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch,
und die Zunge des Stummen wird frohlocken.
Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen
und Ströme im dürren Lande.
Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen,
und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein.
Wo zuvor die Schakale gelegen haben,
soll Gras und Rohr und Schilf stehen.


Gott macht keine halben Sachen, verspricht uns der Prophet Jesaja.
Gott öffnet Augen und Ohren und macht alles anders.
Gott stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie.
Und ich ziehe die Bilder von Jesaja ins Heute:
Peter kann seine Schulausbildung fertig machen und sogar studieren.
Seine Familie hat eine sichere Zukunft.
Karins Mutter fühlt sich endlich sicher und Karin kann wieder ruhig schlafen.
Unsere neue Regierung wird ein Herz für die Schwächsten haben
Und wir gehen endlich gemeinsam das Projekt CO2-Neutralität an.
Die Gefangenen der Terrorregime kommen frei und es gibt gar keine Terrorregime mehr.
Und die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten hören auf.

Fang schon mal an mit der neuen Welt, Gott, falle ich Jesaja ins Wort.
Fang schon mal an mit einer gerechten, friedlichen Welt!
Ja, bitte Gott. Mach, dass es so kommt!

IV.
Und es wird dort eine Bahn sein
und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird.
Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen;
auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.


Wie sehr sehne ich mich nach einem guten, einem heiligen Weg.
Ein Weg, der uns in die Zukunft führt. Ein Weg, den wir gemeinsam gehen.

Wie sehr sehne ich mich danach, dass Wege geebnet und nicht gesperrt werden.
Dass wir Menschen willkommen heißen, statt sie abzuweisen.
Dass wir Wege zueinander gehen und nicht voneinander weg.

Wie sehr will ich glauben, dass Gott an meiner Seite geht.

An der Seite von Peter und an der Seite von Karin.
Wie sehr wünsche ich einen Weg für alle, die keinen Weg sehen.
Wie sehr wünsche ich mir einen gerechten Weg. Einen Friedensweg.
Für alle.

V.
Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen;
sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.
Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen
und nach Zion kommen mit Jauchzen;
ewige Freude wird über ihrem Haupte sein;
Freude und Wonne werden sie ergreifen,
und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.


Stärkt die müden Hände. Seht, da ist euer Gott.
Stärkt die Müden und Geplagten und alle, die sich für sie einsetzen.
Gebt Menschen wie Peter eine Chance
und unterstützt Organisationen, die Menschen wie ihm helfen wollen und das auch können.
Brot für die Welt ist so eine Organisation oder auch die Volkshochschule.

Stärkt die müden Hände derer, die kranke und ältere Menschen pflegen.
Stärkt die müden Hände der müden Eltern.
Sorgt dafür, dass sie genügend Geld bekommen und Unterstützung.

Stärkt die müden Politiker und Politikerinnen,
die ernsthaft und ehrlich einen Weg für unser Land suchen.
Stärkt die, die für unsere Demokratie einstehen.
Stärkt sie mit eurer Wahlentscheidung und dass ihr die Demokratie verteidigt.
Stärkt die Juden und Jüdinnen, die wieder Angst in unserem Land haben.
Stärkt die Jesidinnen und Jesiden, die Angst vor Abschiebung haben.
Ladet sie zu euch ein und helft ihnen bei ihren Anträgen.
Stärkt die Syrer und Syrerinnen, die Kurden und Kurdinnen, die Angst um ihre Familien haben.
Stärkt sie mit euren Gebeten und eurem Beistand und verteidigt sie vor denen, die sie anfeinden.
Stärkt euch gegenseitig, die ihr müde und verzagt seid.
Seid füreinander da.

Warum das Ganze, fragt ihr? Ist es nicht alles vergeblich?
Nein, sagt Jesaja. Nein, sage ich.
Das, was ist, ist nicht alles.
Da ist mehr. Da ist Gott.
Der kommt an eure Seite und macht keine halben Sachen.
Er baut abgebrannte Kathedralen wieder auf.
Lässt Wasser in der Wüste sprudeln. Obwohl das doch nicht geht. Eigentlich.
Und Blinde sehen, Lahme springen, Stumme brechen ihr Schweigen.  
Seht auf und erhebt eure Häupter. (Lukas 21,28)
Fangt schon mal an mit der anderen Welt.
Denn Gott kommt.
ER hat es versprochen.
Amen.

Montag, 4. November 2024

Freiheit, sich einzumischen

Von Autoritäten, Mut und Freiheit
Predigt zum 13. Kapitel des Römerbriefs*

1.
Shifra und Pua, zwei israelitische Hebammen im alten Ägypten, hatten eine ziemlich klare Anweisung vom ägyptischen König bekommen: tötet die israelitischen männlichen Kinder noch in der Geburt. Aber sie taten es nicht und logen den König dreist an: wir kommen immer schon zu spät. Die Jungen sind dann schon da.
Sie fürchteten Gott, sagt die Bibel. Und deshalb verweigerten sie den Gehorsam gegenüber dem König. (Exodus 1)

Tja, und dann lese ich bei dir, Paulus: Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalten unter. Denn es gebe keine Gewalt, die nicht von Gott ist. Was denkst du denn über Shifra und Pua? Und was würden die beiden dir antworten?

2.
Anfang August bekommt S. einen Anruf. G., 20 Jahre alt, Jeside, bittet um Kirchenasyl. Er floh ein Jahr zuvor aus dem Irak zu seiner Familie, die in Pforzheim lebt. Allerdings wurde er in Bulgarien von der Polizei verhaftet und in ein Gefängnis gesteckt. Er wurde geschlagen und wurde dort krank. Schließlich schickten sie ihn weiter nach Deutschland. Deutschland lehnte es jedoch ab, seinen Asylantrag zu behandeln. Er soll nun nach Bulgarien abgeschoben werden: in ein Land, das sich nicht an die europäischen Standards hält, wo er niemanden kennt und wo er 1 Jahr zuvor misshandelt wurde.
Nach Beratung durch die Diakonie entscheidet der Ältestenkreis, G. in der Kirche Kirchenasyl zu gewähren. Die bulgarischen Verhältnisse verstoßen gegen die Menschenrechte, sagen sie. Die deutschen Behörden haben nicht richtig entschieden, sagen sie. G. muss das Verfahren hier durchlaufen, nicht in Bulgarien. Also schützen wir G. vor der Abschiebung nach Bulgarien.

Bei dir, Paulus, lese ich: Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalten unter. Denn es gebe keine Gewalt, die nicht von Gott ist. Was denkst du denn über das, was die Ältesten entschieden haben? Und was würde dir G. antworten?

3.
Ist dir eigentlich klar, lieber Paulus, welche Wirkung diese Zeilen hatten?
Aus Christen, die für ihre aufrechte Haltung vom römischen Kaiser bis in die Katakomben von Rom verfolgt wurden, wurden obrigkeitshörige Kirchenleute.
Könige, Kaiser, Kanzler, Minister ließen sich als von Gott eingesetzte Autoritäten feiern.
Sklaverei, Ausbeutung, Kolonialismus - alles das wurde damit gerechtfertigt.
Und ganz besonders schlimm war, wie diese deine Worte durch die deutsche Kirche in ihrer Kungelei mit den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurden.

Davon wachten dann endlich einige auf:
Christen und Christinnen formulierten die sogenannte Barmer Theologische Erklärung und sie mahnten sich selber, dass sie auch ein kritisches Gegenüber zum Staat und seinen Behörden sind. „Die Kirche“ so heißt es da, „die Kirche erinnert an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.

4.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es irgendeine Autorität auf der Welt geben kann, die direkt von Gott eingesetzt ist.
Keine Regierung. Kein König. Keine Verfassung.
Sie alle müssen sich doch bewähren, an ihren Absichten, an dem, was sie tun – oder auch nicht tun. Bewähren, durch das Gute, dass sie in die Welt bringen.
Und ob sie auch allen Menschen dienen und nicht nur wenigen.
Prüfet alles und das Gute behaltet - das sagst du doch selber, Paulus.
Und darüber müssen wir diskutieren und reden und sind bestimmt auch als Christinnen und Christen nicht immer einer Meinung, was das Gute ist.
Aber wir wissen doch um unseren Maßstab: nämlich Jesus selbst.
Er, der immer für die Schwächsten da war und die Liebe gelebt hat, wie kein anderer.
Er, der von der Obrigkeit hingerichtet wurde.
Er, Opfer eines brutalen Populismus.
Er, der die Armen und Barmherzigen und die Sanftmütigen selig preist.
Er, der Ohnmächtige.
Da kann ich mich doch einer staatliche Macht nicht uneingeschränkt unterordnen.
Nein, Paulus, da muss ich dir deutlich widersprechen!

5.
Vielleicht würdest du heute auch andere Worte wählen?
Vielleicht musstet du in deinem Brief an die Römer gar nicht so kritisch gegenüber dem Staat sein, weil der römische Staat seiner Zeit viel Gutes für euch getan hat.
Nicht negativ auffallen, dann wurdet ihr in Ruhe gelassen und ihr konntet predigen.
Zumindest am Anfang war das so.

Hättest du diese Worte geschrieben, wenn du gewusst hättest, dass du ausgerechnet durch das Schwert des römischen Staates sterben würdest?
Hättest du von Unterordnung und von Gott eingesetzter Macht geschrieben, wenn du von einem Hitler oder einem Stalin erfahren hättest oder von einem Terrorregime wie im Iran?


6.
Aber einen Doppelpunkt hast du, Paulus.
Erstens: Auch bei dir tritt kein Staat an die Stelle Gottes. Und kein Staat vertritt Gott. Es gibt auch keinen Gottesstaat und kein religiösen Regeln, die der Staat durchzusetzen habe. Im Gegenteil. Staatliche Ordnung und göttliche Ordnung sind nicht dasselbe. In deinen Augen ist selbst der römische Kaiser nur ein Diener Gottes - nicht Gott selber. Das Selbstverständnis des Kaisers war ein anderes. Das wusstest du, oder?

Und zweitens: Es braucht einen Staat, der dafür sorgt, dass es gerecht für alle zugeht. Dass Menschen vor Willkür geschützt sind. Und nicht alleine gelassen werden, wenn sie Hilfe brauchen. Es braucht Autoritäten, die die in die Schranken weisen, die das Recht brechen. Damit alle frei sein können zu lieben und zu glauben und zu leben, wie es ihnen entspricht. Alle Menschen müssen ihre Religion oder Nicht-Religion selber wählen können, ihren Lebensstil selber entscheiden, über ihren Körper selbst bestimmen und haben ein Recht auf Bildung und Gesundheit.

7.
Ich habe Angst davor, dass das immer mehr Menschen das in Frage stellen.
Sie träumen von Autokratien, die sich selber ermächtigen.
Sie wählen Populisten, denen die Menschenrechte für alle egal sind.
Und sie stellen die demokratischen Prinzipien in Frage: die von der Gewaltenteilung, den Schutz für Minderheiten und die Freiheit für alle, solange sie die Freiheit anderer nicht begrenzt.
Sie nutzen die  demokratische Strukturen, um all das Gute unserer Zeit zu zerstören.
Sie instrumentalisieren sogar Opfer des Nationalsozialismus wie Bonhoeffer oder Sophie Scholl, um demokratische Kräfte zu demontieren. Sie setzen heutige Probleme gleich mit dem Terror aus früheren Zeiten. Das ist gefährlich und - ja - auch Böse.

Und deshalb stimme ich dir da zu, Paulus:
Die staatliche Ordnung muss dem Guten dienen und das Gute ermöglichen.
Und mein Blick auf die staatliche Ordnung als Christin fragt genau danach:
Hat sie das Recht im Blick? Hat sie die Benachteiligten im Blick?
Schützt sie die Minderheiten, die Marginalisierten, die, die weniger Glück haben als andere?
Denn das ist der Perspektive Jesu: die der Ausgestoßenen, der Verdächtigen, der Geschundenen, der Machtlosen, der Unterdrückten und Geschmähten, kurz die Perspektive der Leidenden. Und deshalb bringst du auch das Gewissen ins Spiel. Manchmal müssen wir unserem Gewissen folgen, weil wir die Perspektive Jesu einnehmen.

8.
Shifra und Pua, die beiden israelitischen Hebammen haben genau das getan:
Sie haben Leben gerettet, statt zerstört. Und deshalb einen willkürlichen, unmenschlichen Befehl widerstanden.

Die Kirchenältesen der Pforzheimer Gemeinde haben genau das getan: das Recht eingefordert für G., das ihm zusteht. Sie haben die Behörden an ihre Pflicht erinnert, nochmal genau hinzuschauen, ob sie auch alles bedacht haben. Und Gott sei Dank wurde G. nicht abgeschoben und sein Asylantrag wird nun in Deutschland geprüft. Ich hoffe sehr, dass er hier bei seiner Familie bleiben kann.

Und vielleicht, lieber Paulus, würdest du das heute auch unterschreiben?
Denn dir geht es ja darum, dass wir als Christen und Christinnen die Freiheit bekommen, Gutes zu tun und ihrem Gewissen zu folgen. Christus hat uns zur Freiheit befreit, sagst du an anderer Stelle. Und wenn eine staatliche Ordnung diese Freiheit ermöglicht, dann ist das ganz im Sinne Gottes. Grund genug, dankbar dafür zu sein!

Ja, Paulus, wir sind frei, uns einzumischen. Wir sind frei, die Liebe Jesu zu leben. Wir sind frei zum Widerspruch und frei zur Zustimmung. Prüfet alles und das Gute behaltet. Und wir sorgen dafür, dass das Gute nicht zerstört wird.
Amen.




*)
Jeder ordne sich den Trägern der übergeordneten staatlichen Gewalten unter. Denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott ist, die bestehenden Gewalten aber sind von Gott eingesetzt,  so dass, wer sich ihnen widersetzt, sich der Anordnung Gottes entgegenstellt, die sich aber widersetzen, werden sich selbst das Urteil zuziehen. Denn die Vertreter der staatlichen Behörden sind nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse. Du willst nicht die staatliche Gewalt fürchten? Tue das Gute, und du wirst Lob von ihr empfangen,  denn sie ist Gottes Dienerin für dich zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie ist nämlich Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut.
Deshalb ist es nötig, sich unterzuordnen, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern auch wegen des Gewissens.  Denn deswegen bezahlt ihr auch Steuern. Denn Gottes Gehilfen sind die, die eben genau das einfordern. Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid – der Steuerbehörde die Steuer, der Zollbehörde den Zoll, wem Furcht gebührt, Furcht, wem Ehre gebührt, Ehre. Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt.


 

Montag, 16. September 2024

Sekundenglück

Predigt zu Psalm 16*

(dazu empfehle ich das "Fan"-Video von Herbert Grönemeyer zu seinem Song "Sekundenglück", in dem lauter Glückssekunden gesammelt wurden: https://www.youtube.com/watch?v=RWYx9No2hbo)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1.

Oma, I’m so happy, rief der 5jährige Tom, als er das erste Mal die Ostsee sah und umarmte seine Großmutter Karin. Er hatte gerade die ersten englischen Wörter gelernt. Einfach so. Niemand wunderte sich, warum er das auf englisch sagte. Warum auch. Er schien wirklich glücklich und überwältigt zu sein. Egal in welcher Sprache. I’m so happy.

 

Auch für Karin war das ein Glücksmoment. Oft versteht sie Tom nicht, vielleicht weil sie sich viel zu selten sehen oder weil er Autist ist und sie nicht - oder beides. Aber in diesem Moment waren sie beieinander. Verstanden sich bis in die kleinste Körperzelle hinein. Das Meer, der Sand, die Möwen, Wind und riesige Wolken. Wie aus dem Bilderbuch. Fast kitschig. Aber es war jetzt da - ganz echt. Ganz richtig. Ganz für sie beide: Oma Karin und Tom. Glücklich. Sekundenglück.

 

„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über

Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt

Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente

Das ist, was man Sekundenglück nennt“
(Grönemeyer, Sekundenglück)

 

2.

Glück - ein großes Wort. Zu groß. Voller Sehnsucht. Und oft verkitscht.

Das Sekundenglück ist aber klein. Oft übersehen.

Nur du kannst es sehen, spüren, fühlen - in dieser Sekunde.

Nur du und vielleicht die andere Person, mit der du es erlebst:

dein Enkel, deine Freundin, dein Mann, deine Patientin, dein Kunde.

 

Wenn du es erlebst, spürst du es mit jeder Faser deines Körpers. Es ist Leben pur.
Jetzt - in dieser Sekunde. Du kannst es nicht festhalten. Genau das macht es aus.

Das Sekundenglück geht vorbei.

 

Es ist das Hüpfen über die Welle am Strand oder die Muschel, die du findest.
Es ist das eine Lied im Radio, das du jetzt brauchst.

Dein Tanz in der Küche. Der erklommene Berggipfel. Der Regenbogen.

Dein schlafendes Kind im Autositz. Oma, I’m so happy.

Es ist der gemeinsame Gesang von 1000en Menschen.

Das erlösende Handballtor. Der eine Videoclip. Die erste Erdbeere im Jahr.

Der Jupiter am Sternenhimmel. Und neben ihm der Mars.

Das Telefonat mit der Jugendfreundin nach vielen, vielen Jahren.

Das Grab der Mutter, an dem sich zwei Schwestern endlich wieder umarmen.

 

„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über

Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt

Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente

Das ist, was man Sekundenglück nennt“

 

3.

Herbert Grönemeyer singt diese Worte seit 2018.
20 Jahre zuvor war seine erste Frau Anna gestorben.
Ihr Tod hatte ihn damals aus der Bahn geworfen.
Ein Jahr lang machte er nichts mehr mit Musik.
Kein Konzert. Kein Lied komponieren. Keinen Text schreiben.
Erst dann fing er langsam wieder an und fasste seine Trauer in neue Töne.
Zwei seiner bekanntesten Songs sind entstanden: „Mensch“ und „Der Weg“.
Und bis heute – 26 Jahre später – taucht die Trauer in seinen Songs auf –
und zugleich die wiedergefundene Lebensfreude.

Grönemeyer weiß, wie zerbrechlich Glück ist. Wie vergänglich.
Wie brutal der Tod. Und endgültig.

Grönemeyer weiß, wie kostbar deshalb jeder kleine Moment ist.

Wie kostbar und wie sehr zu genießen. Jetzt.

Das Sekundenglück, dass das Leben au
smacht.

 

Wer Grönemeyer auf Konzerten erlebt hat (wie ich Anfang August in Karlsruhe),
weiß, wie ansteckend seine Lebensbegeisterung ist.
Ein Abend mit ihm ist Empowerment pur mit guter Laune und starker Botschaft.
Die Füße tun danach weh vom Tanzen, die Stimme ist rauh vom Mitsingen,
aber alle sind glücklich. Sekundenglücklich.

 

Die Psalmen der Bibel kennen das nur zu gut.
Sie sind voll davon: von Jubel bis in die Haarspitzen,

von tiefster Ergriffenheit und überschwänglicher Freude.

 

Mein Herz und meine Seele sind fröhlich; auch mein Leib

Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne

So jubelt der 16. Psalm.

 

Und du? Jubelst du mit?

 

4.

Oder fällt es dir heute nicht leicht?

Vielleicht machen dir die Ergebnisse der Landtagswahlen vor zwei Wochen Sorge.

Und die bevorstehende Landtagswahl am kommenden Wochenende (22.9.) auch.

Mir geht es jedenfalls so.

Mich bedrückt insgesamt die politische Stimmung in unserem Land sehr.
Dieses Die da oben machen alles falsch. Und vielleicht stimmt davon vieles sogar.

Mich bedrückt es, dass immer mehr jesidische und iranische Geflüchtete abgeschoben werden, obwohl es in ihrer alten Heimat immer noch gefährlich für sie ist.

Ich sehe die Reflexe auf den grausamen Terrorakt in Solingen:
das Asylrecht wird in Frage gestellt und die Menschenwürde versinkt im Mittelmeer.

Ich mach mir Sorgen um meine Kirche:
schafft sie es, wirklich und ernsthaft, die sexualisierte und spirituelle Gewalt, die durch ihre Leute geschah und geschieht, aufzuarbeiten und anzugehen?
Und ich mach mir Sorgen um die vielen sehr belasteten Familien, um ihre Kinder:
sie stehen immer mehr unter Druck und haben Angst vor der Zukunft.

 

So wie Oma Karin: ihr Enkel Tom - wird er eine Schule finden, die zu ihm passt?
Kann er überhaupt mal so leben, dass er sich nicht verbiegen muss?
Wie kann sie seine Eltern noch besser unterstützen, auch wenn sie so weit weg wohnen?

 

All diese Gedanken hat Karin.
Dennoch ist sie in diesem einen Moment mit Tom glücklich.
Dieses Sekundenglück will sie wach halten. Sich daran erinnern.
Mit der Muschel z.B., die sie mit Tom gefunden hat.
Wenn sie diese in der Hand hält, riecht sie wieder die Ostsee.
Sie hört die Möwen und die Wellen. Sie fühlt den Arm von Tom um ihren Hals.
Ja, die Sorgen sind dann noch da, aber sie füllen sie nicht mehr allein aus.
Und sie weiß ganz genau: in diesem Sekundenglück mit Tom - da war auch Gott dabei.
Gott ist da und die Muschel in ihrer Hand erinnert sie auch daran.
Aber reicht das, wenn die Sorgen wieder Überhand gewinnen: ist Gott dann auch da?

 

5.

Ich habe den Herrn allezeit vor Augen - singt der 16. Psalm.

Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, du bist bei mir - diese Worte lese ist im 23. Psalm. 

Ja, unsere Psalmisten kennen nicht nur die freudigen und wonnigen Momente,
sondern auch die dunklen Täler, die Angst, die Verzweiflung.
Auch dann lassen sie Gott nicht los.
Du bist bei mir. Du musst bei mir sein. Gott, es ist deine Aufgabe!

Du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen

und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.

 

Wow, denke ich dann. So möchte ich auch mit Gott rechnen.
Im Guten wie im Schlechten.

Das Sekundenglück aus der Hand der Ewigen nehmen

und ihre Nähe spüren, wenn das Glück zerbricht.
Ich will in Gutem und Bösen, das mir geschieht, verbunden bleiben -
mit Gott, mit mir und mit meinen Lieben.

 

Denn ja, das ist das Leben, dass du, Gott, mir schenkst:
ein Leben voller Glückssekunden
und zugleich endlich, zerbrechlich, begrenzt.
Weil es so begrenzt und zerbrechlich ist,
sind die Glückssekunden um so wichtiger.
Das Sekundenglück trägt auch dann, wenn es nicht mehr da ist.
Weil du, Gott, immer noch da bist.

 

6.

„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über

Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt

Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente

Das ist, was man Sekundenglück nennt“

 

Sekundenglück, das trägt. Ob das geht?

Auf YouTube schreibt eine Sekundenglück-Hörerin:

Wir haben dieses Lied bei der Beerdigung meiner Mutter gespielt.
Eine Frau, die 2018, in dem Jahr, in dem das Lied ver
öffentlicht wurde, eine Krebsdiagnose bekam und 4 Jahre gegen diesen Krebs gekämpft und leider verloren hat.
Sie hatte es im Leben oft schwierig, da ihr Mann bereits 1992 starb
und sie nun mit 4 kleinen Kindern alleine war.
Trotzdem hat sie immer versucht, das Beste aus ihren schwierigen Situationen zu machen.
Auch im Kampf gegen den Krebs versuchte sie immer sch
öne Momente zu haben
und das Leben zu genießen. (…)
Ihre letzten Worte am Sterbebett waren: "Alles ist gut!“

 

Oma, I’m so happy!

Wenn die Sorgen um die junge Familie zu groß werden,
erinnert sich Karin an diesen Satz von Tom.
An seine Arme, an den Geruch vom Meer.
Sie erinnert sich daran, dass Gott in diesem Moment da ist
und darum auch da sein wird, wo es schwer ist.

Dieses Sekundenglück hilft ihr, nicht aufzugeben und der jungen Familie zu helfen.
Hilft mir, zu weiteren „I’m so happy“ beizutragen.

Dieses Sekundenglück hilft mir, mich weiterhin für die Menschenwürde einzusetzen
und für eine Kirche, die glaubwürdig ist.

 

Denn das Sekundenglück ist von Gott getragen.
So wie auch das zerbrochene Glück.

 

Ja, du bist da, Gott. Immer. Auch jetzt.

In diesem zerbrechlichen, endlichen Leben voller Sekundenglücksmomente.

Amen.

 

*)

Der Herr ist mein Gut und mein Teil;  du hältst mein Los in deinen Händen!

Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land;  mir ist ein schönes Erbteil geworden.

 

Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts.

Ich habe den Herrn allezeit vor Augen; er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht.

Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher wohnen.
Denn du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen
und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.

 

Du tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.