Mittwoch, 29. November 2017

Kirche muss unterbrechen

Rede im Haus der Begegnung, Ulm (27.11.2017)


(auf Einladung der Verantwortlichen für dieses Haus habe ich diesen Vortrag gehalten im Rahmen eines Symposions, das die Überlegungen zum Umbau des Hauses begleiten soll. Für mich war das ein willkommener Anlass über die Aufgabe des Unterbrechens nachzudenken. Ich bin damit noch lange nicht fertig...)

1.
Unterbrechen - das ist die Aufgabe der Kirche.
Unterbrechen.
Mehr nicht?
Ich finde das schon sehr viel.
Wenn wir es ernstnehmen. Und damit ernst machen.

Unterbrechen als Aufgabe der Kirche -
auf diese Idee hat mich mein Landesbischof gebracht.
Mit einer Bibelarbeit zu einer Szene, von der nicht ganz klar ist,
ob sie ursprünglich zum Johannesevangelium gehörte oder nicht,
die dennoch aber nicht mehr wegzudenken ist.
Es geht um Jesus und die Ehebrecherin.

Sie befindet sich im 8.Kapitel:
Jesus befindet sich im Tempel und lehrt.
Aufgebracht bringt eine Gruppe von Schriftgelehrten und Pharisäern eine Frau mit,
ich vermute mal, dass sie nicht freiwillig mitgekommen ist.
Sie bauen sich vor Jesus auf und sagen:
diese Frau hat Ehebruch begangen.
Nach dem Gesetz muss sie gesteinigt werden. Was sagst du?

Jesus bückt sich und schreibt mit dem Finger auf die Erde.
Die zornigen Männer reden weiter auf ihn ein.
Er richtet sich auf und spricht dann den berühmten Satz:
Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 

Dann bückt er sich wieder, schreibt weiter auf die Erde.
Die aufgebrachte Menge geht weg.
Zurück bleiben Jesus und die Frau.
Er richtet sich wieder auf,
fragt, wo die anderen sind und ob einer sie verdammt habe.
Sie verneint.
Und Jesus sagt: dann verdamme ich dich auch nicht.
Geh und sündige nicht mehr.

2.
Jesus unterbricht.
Mitten in der sehr aufgeheizten Stimmung
bückt er sich nieder und schreibt und schweigt.
Eigentlich kann Jesus gar keine richtige Antwort geben.
Er kann nur falsch antworten.
Sagt er: nein, die Frau soll nicht gesteinigt werden,
stellt er sich auf die Seite von Gesetzesbrechern.
Sagt er: ja, sie soll gesteinigt werden,
widerspricht er allem, was er bis dahin gepredigt und gelebt hat.
Jesus sitzt zwischen allen Stühlen.

Und unterbricht.
Er geht nicht einfach weg, taucht nicht einfach ab.
Aber er gibt die Mitte frei, indem er sich bückt.
Dadurch sehen sich die Aufgebrachten auf einmal in die Augen.
Und eine Pause entsteht.
Eine Pause zum Nachdenken.
Durchdenken. Atmen. Und weiterdenken.

Tun die Aufgebrachten das? Nachdenken?
Vielleicht noch nicht sofort.
Vermutlich sind sie erstmal nur perplex. Und überrascht.
Doch Jesus nutzt die entstandene Pause für einen einzigen Satz.
Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Er spielt den Ball zurück.
Die Umstehenden sollen sich nicht nur gegenseitig sehen,
sondern auch auf sich selbst.
Die berühmten 3 Finger, die zurückweisen,
wenn ich mit dem Finger auf andere zeige.
Jesus nötigt die Aufgebrachten zum Wechsel der Perspektive.
Ihr seid aufgebracht.
Ihr seht nur noch schwarz oder weiß
und merkt zugleich, dass das der Wirklichkeit nicht gerecht wird.
Nun sucht ihr eine einfache Antwort.
Schaut einmal mit anderen Augen auf die Sache.
Und dann merkt ihr: es gibt keine einfache Antwort.

Und dann unterbricht Jesus nochmal.
Bückt sich wieder herunter und schreibt und schweigt weiter.
Die Mitte ist wieder frei.
Raum zum Nachdenken und Weiterdenken.

Doch diesmal kommt Bewegung in die Sache.
Die aufgebrachten Männer merken,
dass sie gefangen waren im Schwarz-oder-Weiß,
im Richtig-oder-Falsch -
und Hauptsache, wir machen alles richtig
und lassen uns nichts zu schulden kommen.
In diesem ganzen waren sie so gefangen,
dass sie das Mensch sein vergessen hatten.
Auch ihr eigenes Mensch sein.
Das ist nämlich genauso wenig sündenfrei wie das der Ehebrecherin.

Ja, Jesus hat Raum geschaffen durch seine Unterbrechung.
Und es kam Bewegung in die Sache.
Heilsame Bewegung.
Denn auch die Ehebrecherin kann einen neuen Weg gehen.

3.
Unterbrechung - die brauchen wir.
Nötiger denn je.

Arbeiten, Termine, Besprechungen.
Nachrichten rund um die Uhr und aus allen Ecken der Welt.
Terroranschläge. Vulkanausbrüche. Überschwemmungen.
Dax-Kurs. Aktien. Flüchtlinge im Mittelmeer. Scheiternde Koalitionsverhandlngen.
An Sonntagen besondere Verkaufsaktionen. Black Friday auch in Deutschland.
Mails und WhatsApp und ein dringender Gesprächstermin.

Perfekt wollen wir sein. Keine Fehler machen.
Und wir als Kirche machen da mit.
Ich auch.
Die Verwaltung meines Kirchenbezirks ist hoffnungslos überlastet.
Die Pfarrer und Pfarrerinnen
und Gemeindediakone und -diakoninnen
wissen nicht mehr, wie sie ihre Arbeit bewältigen sollen.
Und wir spiegeln damit nur wieder,
wie es den meisten Menschen in Deutschland geht.
Ich kenne eigentlich kaum jemanden,
der - wenn er eine Arbeit hat - nicht mehr hinterher kommt.
Die einzigen Unterbrechungen, die wir uns erlauben, sind Urlaub
oder Krankheit.

Wir brauchen die Unterbrechung.

Populismus ist das Schüren von Ängsten.
Ein Horrorszenario wird ans andere gereiht.
So bleibt die Luft weg.
Und man meint, einfachen Parolen hinterherrennen zu können.
Fake-News nähren die Angst.
Die Like-Klicks und Clickbaits feuern noch zusätzlich an.
Das Karussell des Populismus dreht sich immer schneller.
Und die, die nicht mitmachen, stehen hilflos vor diesem Karussell
und wissen nicht, wie sie es stoppen können.

Wer weiß es schon wirklich?
Auslachen? Ein Mahnmal im Nachbargarten eines Höcke aufbauen?
Mit Rechten reden? Ignorieren? Ernstnehmen?
Alles das kursiert in den Köpfen derer,
die dem Populismus, besonders dem Rechtspopulismus nicht auf den Leim gehen.
Sie möchten dem Rad in die Speichen greifen (Bonhoeffer),
das Karussell anhalten.
Aber es macht auch sie schwindlig.

Wir brauchen die Unterbrechung.

Pforzheim, wo ich lebe, hat ein enormes Haushaltsdefizit.
Die Gemeinderäte wissen nicht, wie sie es bewältigen können.
Es gibt einen neuen Oberbürgermeister.
Gewählt von vielen, die Pforzheim vor allem als bürgerliche Stadt sehen.
Und so sind die ersten Maßnahmen für Ordnung und Sicherheit da
und für 30 Minuten freies Parken in der Innenstadt.
Dafür wurde er gewählt.
Aber was ist mit den Kindern, die unter Armut leiden?
Über 20% sollen es in Pforzheim sein.
Ja, und der Gedenktag für die Zerstörung der Stadt am Ende des 2.Weltkriegs
soll wieder still werden.
Kein Protest gegen die Instrumentalisierung,
die durch Rechtsextreme auf dem Wartberg stattfindet,
soll die Ruhe  stören.

Wir brauchen die Unterbrechung.
Nötiger denn je.

.... (Jazz-Musik)

4.
Wir brauchen die Unterbrechung.
Den Raum zum Nachdenken und Weiterdenken.
Den Blickwechsel zwischen denen auf der anderen Seite und mir.
Wir brauchen einen Freiraum,
der entsteht, weil einer in den Sand schreibt.
Der uns eine Pause verschafft
und uns irritiert
und fragend stehen lässt.
Ja, stehen und mal nicht rennen.
Oder meinetwegen auch mal aufs Sofa setzen.
Auf jeden Fall Halt machen.
Stopp. Still sein. Nachdenken.
Steine weglegen.
Neue Wege denken. Neues schmecken. Neues malen.
Neues schreiben.
Oder sogar das Neue unterbrechen.

Gott ist die Unterbrechung.
Er unterbricht die Woche am 7.Tag
und hält das Meer auf, damit es die Israeliten in Ruhe lässt.
Er zieht dem Mose die Schuhe aus
und hält ihn eine halbe Ewigkeit auf dem Sinai fest,
damit er die 10 Gebote in Stein hauen kann.

Gott begegnet dem Elia als sanftes Säuseln
und durchbricht damit den Lärm.

Gott kommt als ein Kind in den Stall
und unterbricht die Nacht.

Ein junges lediges schwangeres Mädchen singt von der großen Unterbrechung des Lebens.
Und ihr Sohn wird die Barmherzigen und Traurigen und Sanftmütigen selig preisen -
ausgerechnet die.
Ja, ein leidender, mitleidender Gott...
Er -
Tritt an die Seite der Gebrochenen.
Und lässt seine Liebe gewinnen.

Gott ist die Unterbrechung.
Er unterbricht alles, was Menschen bricht,
und schafft neue Räume und Dimensionen und Wege.

5.
Ich will, dass wir uns davon inspirieren lassen.
Dass wir es wie Jesus machen und -

- unterbrechen.

Was könnte dann geschehen?
Wenn wir uns und andere unterbrechen und uns unterbrechen lassen?
Das sind keine rhetorischen Fragen, auf die ich schon längst eine Antwort habe.
Diese Fragen unterbrechen mich selber in meinen Selbstverständlichkeiten
und ich würde gerne darüber mit Ihnen nachdenken.
Und nicht sofort daran denken müssen,
ob das vernünftig, effektiv, zukunftsweisend oder theologisch richtig ist.
Und ob es gut für Ihre Überlegungen für das Haus der Begegnung ist.

6.
Denken wir doch gemeinsam darüber nach:
Was könnte geschehen, wenn wir unterbrechen?
Und uns unterbrechen lassen?
Wenn wir also tun, was Jesus tut.

Vielleicht wären wir dann nicht mehr so perfekt, aber menschlicher.
Wir würden auch unseren Schwächen und Fehlern ihren Raum geben,
weil sie zu uns gehören und uns so unverwechselbar machen.
Und wir würden endlich Gottes Gnade ernstnehmen.

Vielleicht würden wir uns mehr und ernsthafter mit Modellen beschäftigen,
die die Arbeit menschenfreundlicher gestalten
und in denen niemand sich verbiegen muss, um anderen zu gefallen.
Und wir könnten diese Modelle ausprobieren - gerade in der Kirche.
Und davon dürfen auch einige scheitern.

Oder wir würden einfach nur nichts tun.
Einen Raum mit Sand befüllen, uns hinhocken und in diesen Sand schreiben.
Worte, die mit einer Handbewegung weggewischt werden
und dennoch wichtig sind.

....

Was könnte geschehen, wenn wir unterbrechen?

Vielleicht würden wir Räume schaffen für die Opfer von Populismus und Gewalt.
Die Fremden, die Aufrechten, die Widerständigen, die Andersgläubigen.
Für sie.
Wir würden sie beherbergen, ihnen zuhören
und sie ins Zentrum rücken und nicht die Täter.

Und wir würden eine sehr bunte Gegenwelt erdenken -
eine Gegenwelt zu den ganzen Horrorszenarien,
säkulare Zukunftsforscher einladen
und darüber nachdenken,
wie wir diese Gegenwelt Wirklichkeit werden lassen.
In dieser Welt wäre Platz für all die Sinners and Saints (Nadia Bolz-Weber),
die wir sonst so leicht ausschließen und mit Steinen bewerfen.

....

Was könnte geschehen, wenn wir unterbrechen?

Vielleicht würden wir aufhören, uns in unserer bürgerlichen Nische wohlzufühlen.
Vielleicht wären Sicherheit und Ordnung nicht mehr so wichtig,
aber stattdessen Kreativität und Phantasie und durchaus auch mal etwas Chaos.
Die Steine aus der Hand legen.
Und dafür bunte Papierflieger in die Hand nehmen oder Graffitispraydosen.
Mal Rapper und Punker zu Wort kommen lassen, auch hier.
Und statt eines entweder-oder ein Und proklamieren -
und wenigstens in unseren kirchlichen Räumen das auch leben.

Kann sein, dass wir dann noch lauter und unbequemer werden
für die, die sich nicht stören lassen wollen.
Und wir nennen das, was unrecht ist und den Frieden kaputt macht, beim Namen.
Wahrscheinlich würden wir damit auch einige verärgern, bestimmt sogar viele.
Aber vielleicht muss das dann so sein?
Vielleicht?

....

7.
Vielleicht ist das alles auch gar nicht so neu.
Nein, ist es nicht.
Mir fallen viele heilsame Unterbrechungen ein, die es schon gibt:
die Atelierkirchen zum Beispiel.
Oder das House of One in Berlin
oder in Pforzheim das Sonntagscafé mit Flüchtlingen und Studierenden,
die jetzt anfangen, zusammen Musik zu machen.

Das ist nicht alles neu.
Aber bisher sind es nur (nur?) Nischen der Unterbrechung.
Wichtig, ermutigend, inspirierend.
Wie können wir diese Nischen öffnen?
Oder muss vielleicht noch nicht mal das sein?

Jede Unterbrechung ordnet die Wirklichkeit neu.
Wenn der Raum zum Nachdenken und Weiterdenken größer wird
und den Blick freigibt auf die anderen und auf mich.
Und das möchte ich ermöglichen -
und ich möchte, dass meine Kirche das ermöglicht.
Ich möchte, dass meine Kirche unterbricht.
Mich. Die Aufgebrachten. Die Bequemen. Die Ängstlichen.
Und ganz besonders die, die glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben
und damit andere klein machen.
Ja, auch die soll meine Kirche unterbrechen.

8.
Ich will, dass wir unterbrechen.
Ordnen wir die Wirklichkeit neu.
Unterbrechen wir, wo es nur noch schwarz oder weiß gibt.
Ja oder nein. Oder gut und böse.

Unterbrechen wir,
wo unterschieden wird zwischen „die gehören dazu“ und „die nicht“.
Greifen wir dem Rad in die Speichen, wo Menschen ausgeschlossen werden.

Fragen wir, wo die Antworten allzu schnell kommen
und keine Rücksicht auf Minderheiten nehmen.
Fragen wir - denn auch das ist Unterbrechung.

Unterbrechen wir, indem wir auch mal unhöflich sind
und bei allzu geschliffenen Sätzen lachen.
Sagen wir laut, dass der Kaiser nackt ist und keine Kleider anhat,
auch wenn er es behauptet.

Und unterbrechen wir die Spirale des „Das ist nun mal so“
oder des „Das geht nicht anders“.
Es geht fast immer anders.
(und dieses Anders darf auch Spaß machen)

Wir brauchen die Unterbrechung.
Wir brauchen den freien Raum.
Und wir brauchen einen, der sich bückt
und in den Sand schreibt.
Der unseren Blick auf die Welt verändert,
uns mit in die Welt nimmt
und die Steine aus der Hand.

Und darum unterbreche ich nun zum letzten Mal meine Rede.
Sie hat genug Worte und ist noch lange nicht zu Ende.

Aber denken wir doch nun gemeinsam darüber nach:
Was könnte geschehen, wenn wir es wie Jesus machen:
Wir unterbrechen und wir lassen uns unterbrechen. Was dann?




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