Sonntag, 25. August 2019

Lieben ohne Abstriche

Wie geht lieben? Von Religions for peace, Jesus und einem Jungen, der an die frische Luft muss*

Predigt zu Markus 12,28-34

Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten,
der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten.
Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn:
Welches ist das höchste Gebot von allen?
Jesus antwortete:
Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein,
und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft«.
Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«.
Es ist kein anderes Gebot größer als diese.

Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm:
Ja, Meister, du hast recht geredet!
Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm;
und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft,
und seinen Nächsten lieben wie sich selbst,
das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm:
Du bist nicht fern vom Reich Gottes.
Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.


I. (Wie geht lieben?)

Niemand wagte mehr, ihn zu fragen.
Doch. Ich frage.
Ich soll Gott lieben. Meine Nächste. Und mich selbst.
Aber wie?

II. (Lieben über Religionsgrenzen)

900 Menschen aus aller Welt und allen Religionen der Welt treffen sich letzte Woche in Lindau. Religions for Peace.
Auf der Straße, an Tischen auf der Straße.
In Hallen. Auf der Wiese. Und auch hinter verschlossenen Türen.
Die Royinghas zusammen mit den Buddhisten von Myanmar.
Der Muslim vom Nordsudan mit der Christin im Südsudan.
Manchmal müssen Türen zu sein, um wirklich offen miteinander reden zu können.
Und dann wieder Türen öffnen. Hören. Fragen. Reden. Feiern. Essen. Entscheiden. Beten.
Nicht die großen theologischen Themen wurden besprochen, sondern wie das geht:
miteinander leben, sich versöhnen, Frieden stiften.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:
„Ein solches Treffen mach die erste Begegnung verfeindeter Gruppen möglich.
Konfliktparteien treffen sich zum hundertsten Mal, was die Sache auch nicht immer einfacher macht; aber auch der Vertreter des American Jewish Committee und die den Muslimbrüdern nahestehende Muslimin müssen hier miteinander auskommen. Manchmal dienen solche Treffen dazu, neue Ideen populär zu machen.“

Worauf kommt es an? Das ist ihre Leitfrage.
Was haben wir gemeinsam? Worauf können wir bauen?
Auf die Liebe zu Gott, auch wenn wir unterschiedlich glauben.
Auf die Liebe zum Nächsten und zu uns selbst - weil jeder Mensch es wert ist.

Und das hat konkrete Folgen.
Ich lese in der Süddeutschen weiter:
„Religions for Peace unterstützt die Verbreitung eines DNA-Tests, der es nach einer Vergewaltigung erlaubt, den Täter zu identifizieren - eine große Hilfe, wenn es um den Nachweis von Kriegsverbrechen geht und den Kampf gegen Vergewaltiger."
Und ich lese auch:
"Ohne Religions for Peace wäre es damals nicht zum Friedensschluss im Bosnienkrieg gekommen.“

So geht lieben.
Liebe konkret. Und gerade dann, wenn es schwer ist.

III. (Jesus liebt I)

Wie geht lieben?

Nur, wenn es wichtiger ist als alles andere.
Wichtiger als alle Regeln und Normen und Gesetze.
Jesus liebt. Liebt ohne Abstriche. Grenzenlos.
Gelähmte, Aussätzige, Blinde, Kranke, Traurige, Verzweifelte, Andersseiende.
Er liebt sie. Ganz praktisch. Sagt nicht: der oder die verdient meine Liebe nicht.
Und selbst als er es einmal so sagt bei der Syrophönizierin, lernt er dazu:
Die Liebe ist unteilbar.
Und sie reicht für alle wie das Brot für die 5000 Hungrigen.

Jesus hört und spricht, fragt und betet, feiert und isst und liebt -
hinter verschlossenen Türen und auf der Straße.
Und die 900 in Lindau haben es ihm nachgemacht,
ob sie nun an ihn glauben oder nicht.
Denn so geht lieben. Und nur darauf kommt es an.

IV. (Jesus liebt II)

Wie geht lieben?
Jesus isst mit einem, der ihn verrät.
 Lässt sich anfassen von einem, der zweifelt.
Jesus weint und lacht, schreibt im Sand und wirft Tische um.
Jesus nimmt die störenden Kinder in den Arm und segnet sie.
Und er erzählt von einem Ungläubigen.
Der kümmert sich um einen Fremden, der unter die Räuber gefallen war.
So geht lieben, sagt er.
Schaut euch um. Schaut die Menschen um euch an - liebevoll.
Sie sind Gottes Kinder wie ihr. Gott gibt keinen von ihnen auf.
Und dann erzählt er von dem einem Schaf: 
das wird gerettet, obwohl da ja noch andere 99 sind.
Jesus liebt ohne Abstriche.
Mit dieser Liebe geht er ans Kreuz, liebt weiter
und der Himmel öffnet sich für ihn.

V. (sich selbst lieben)

Wie geht lieben?

Nur wenn du dich selbst liebst.
Vielleicht das schwerste von allen.
Denn du kennst dich ja gut genug.
Auch das, was du für nicht liebenswert, für nicht gut genug hältst
Darum beginne mit Hören.
Hören auf Gott. Auf Adonai. Den einzigen.
Höre nicht auf die, die sagen: es ist zu wenig, was du tust.
Höre auf den, der dich geschaffen hat.
Der ist größer und mehr als du. 

Und er trägt dich und liebt dich so wie du bist und mit allem, was du bist und nicht bist.
Voller Liebe.

VI. (verbunden sein)

Letzte Woche lief im Openair-Kino „Der Junge muss an die frische Luft“.
Da geht es um die Kindheit von Hape Kerkeling.
Der dickliche Junge entdeckt seine komische Seite,
weil er versucht, seine traurige Mutter aufzuheitern.
Als sie sich dann doch das Leben nimmt, hat er das Gefühl versagt zu haben.
Vielleicht hätte ich mich noch mehr anstrengen müssen. Würde Mama dann noch leben?

Er hat es nicht geschafft, ihre Liebe zum Leben zu erhalten.
Doch da sind seine Oma und sein Opa. Sie nehmen ihn an die Hand.
Und dank seiner großen bunten und lauten Familie schafft er es,
weiter zu leben und weiter zu lachen und weiter das Leben zu lieben.

Am Ende des Films schaut der erwachsene Hape den jungen Hape an -
mit einer Liebe im Blick, die mich weinen ließ.
Und der erwachsene Hape sagt:
"Dass der kleine dicke, schüchterne Junge aus dem Kohlenpott das alles mit naivem Gottvertrauen schaffen würde, hätte ich ihm nie zugetraut. Das hat er gut gemacht.
Und ich weiß:
Ich bin meine Mutter und mein Vater, meine Großaltern, mein Bruder, meine Tante Gertrud, Tante Lisbeth, Tante Hedwig, Onkel Kurt und Tante Veronika. Ich bin Frau Edelmund, Frau Rädere und Frau Strecke und viele mehr. Jeder hat mich zu dem gemacht, was ich bin.
Ich bin die gescheckte Kuh auf der Weide, das gelbe Korn auf dem Feld und der rote Mohn am Wegesrand. Ich bin der schmale Trampelpfad und dessen Ende. Ich bin der wolkenlose Himmel. Ich bin wach.“

So geht lieben.

VII. (gemeinsam lieben)

Liebe Gott. Liebe dich selbst. Liebe die Menschen.
Mehr braucht es nicht, sagt Jesus.
Und er stimmt damit ein in das Bekenntnis seines Volkes.
Gott ist größer als wir und als alles, was wir denken können, das haben wir gemeinsam.
Und die Liebe ist das wichtigste Gebot - auch das ist gemeinsam. Und so viel mehr.

Wir Christen und Christinnen haben diese Gemeinsamkeit fast 2000 Jahre lang geleugnet,
haben unsere jüdischen Wurzeln verraten.
Unsere Vorfahren wollten sie vor 80 Jahren auslöschen.
Nie wieder darf das geschehen!

Darum gehören wir an die Seite unserer jüdischen Geschwister
und mit ihnen zusammen an die Seite der muslimischen und buddhistischen
und hinduistischen und jesidischen Schwestern und Brüder.
Wir sind miteinander verwoben, Teil eines großen Ganzen,
wie Hape mit der Kuh und dem Mohn und mit seinen Tanten und Onkeln.
Wir alle gehören zu Gott und zu dieser wunderbaren Welt, in die er uns geworfen hat.
Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen für ein sogenanntes christliches Abendland.
Gemeinsam leben wir als Religions for peace.
Hinter verschlossenen Türen und auf der Straße.
Hören. Fragen. Reden. Feiern. Essen. Entscheiden. Beten. Für Gottes Welt.

So geht lieben. Und nicht anders.
Lieben ohne Abstriche.

VIII. (Mehr nicht)

Du bist nicht fern vom Reich Gottes, sagt Jesus zu seinem Gesprächspartner.
Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Lieben.
Lieben.
Lieben.
Das geht.
Und das will ich hören - und tun.
Mehr Worte brauche ich nicht.

Amen.

*Mit Dank an Birgit Mattausch und Franz K. Schön für Impulse und Anregungen!

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