Freitag, 26. Dezember 2025

Tatsächlich Liebe - weihnachtliche Familiengeschichte(n)

Predigt zum 2. Weihnachtstag 2025 
basierend auf Matthäus 1* und "Tatsächlich Liebe"
mit besonderem Dank an Holger Pyka, bei dessen Predigt von 2020 ich viele Ideen entnommen habe. Und dank an Rainer Stuhlmann für seine Anregungen in den "Predigtmeditationen".

1: Bunte Mischung

Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert, denke ich immer an die Ankunftshalle im Flughafen Heathrow. Es wird allgemein behauptet, wir lebten in einer Welt voller Hass und Habgier, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil, mir scheint, wir sind überall von Liebe umgeben. Oft ist sie nicht besonders glanzvoll oder spektakulär, aber sie ist immer da – Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Ehepaare, frisch Verliebte, alte Freunde.

Mit diesen Worten, gesprochen von Hugh Grant aus dem off beginnt „Tatsächlich Liebe - Love actually“, ein, nein, vielleicht DER britische Weihnachtsfilm aus dem Jahr 2004. 

Wir sehen die Ankunftshalle Heathrow, voll mit Menschen, die eines gemeinsam haben: sie kommen zueinander. Die einen kommen an. Die anderen empfangen sie. Menschen, die einander aufgeregt zu winken, andere, die sich um den Hals fallen. Menschen, deren Augen glänzen. Und andere, die einfach den Koffer aus der Hand des Angekommenen nehmen, als ob sie sagen würden: ja, ist gut jetzt. Komm.

Am Ende des Films sehen wir die Ankunftshalle nochmal. Und dann erkennen wir unter den vielen Gesichtern einige bekannte:
Da kommt David, der Premierminister an. Ihm fällt Natalie um den Hals, die überhaupt nicht zu ihm zu passen scheint - aus einfacher Familie und ihr Ex-Freund hatte sie gehänselt wegen ihrer kräftigen Beine.
Da ist Karen, die ihren Mann Harry empfängt. Ihre Begrüßung ist noch ziemlich verhalten. Sie will es mit ihm noch einmal versuchen, obwohl er alles andere getan hat, um sich diese Chance zu verdienen.
Da ist der kleine Sam, der die amerikanische Austauschschülerin Joanna empfängt und seine Augen blitzen. 
Sein Vater Daniel, der sich nach dem Tod seiner Frau wieder neu verliebt hat. Und John und Judy, die sich selber für so unbedeutend halten und sie verraten lieber niemanden, wie sie sich kennengelernt haben.
Sarah und Karl sind nicht da. Warum?

Ein Film voller Geschichten. Skurril, schön, aber auch solche voller Schmerz. Miteinander verwoben - wie in einer großen Familie und das, obwohl sie nicht alle verwandt sind. 

Viele von ihnen sind nun dort in Heathrow, so wie wir hier sind. Wissen, dass sie nur da sind, weil es den anderen, die andere gibt. Ohne die anderen wären sie nicht die, die sie jetzt sind. God only knows what I’d be without you, singt dazu Carl Wilson von den Beach Boys. Gott allein weiß, was ich ohne dich wäre.

Klavierimprovisation zu „God only knows“ von Beachboys

2: Der vaterlose Jesus

Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert oder der Zustand meiner Wohnung oder der Blick in den Spiegel oder der Gedanke an manche ungelöste oder angestrengte Familiengeschichte - dann denke ich daran, wie das Matthäusevangelium von der Geburt Jesu erzählt. 

Da ist die Lücke, die offen bleibt. 
Wer ist der Vater von Jesus?
 Nur Matthäus erzählt davon, dass Josef nicht der biologische Vater von Jesus ist. Und dass Maria dennoch schwanger wurde, lässt natürlich alle möglichen Phantasien zu. Matthäus erzählt eine göttlich-menschliche Familiengeschichte voller gegensätzlicher Gefühle und offenen Fragen. Eine »Schwangerschaft ohne Mann« produziert bis heute eine Fülle flacher Scherze. Alles, was nicht den Erwartungen und den Normen entspricht, die das bürgerliche Empfinden an eine intakte Familie hat, ist bis heute fragwürdig. 

Okay, es ist heute nicht mehr so skandalös alleinerziehend zu sein, wie es noch vor 50 Jahren war, als ich ein Kind war. Meine Mutter war z.B. nicht verheiratet - ein Skandal in den 60ern bis in die 70er hinein. Stimmt es, dass du keinen Vater hast? - fragte mich vor versammelter Klasse eine Mitschülerin. Und ja, meine Herkunft hatte damit was Anrüchiges, meine Mutter wurde als Schlampe beschimpft und sie wurde immer besonders gelobt, wenn wir was "gut" gemacht haben - "obwohl" wir ja ohne Vater aufgewachsen sind. 

Heute ist das nicht mehr so - Gott sei Dank. Aber wenn zwei Frauen zusammen ein Kind bekommen oder zwei Männer eines adoptieren, wenn Frauen keine Kinder bekommen  können oder wollen oder sich bewusst entscheiden, alleine ein Kind großzuziehen - oder gar umgekehrt das Kind beim Vater wohnen zu lassen - alles das wird immer noch schief angesehen. Und es gibt mindestens eine Partei in Deutschland, die das alles nicht zulassen will, wenn sie mal an der Macht ist. 

Weihnachten ist kein Familienidyll, das macht Matthäus mehr als deutlich. Weihnachten ist Gefühlsstress bei Josef und Maria, ist die Überlegung, ob eine Trennung womöglich besser ist. Weihnachten ist das Aushalten von Lücken und Brüchen, Weihnachten ist hart errungene Entscheidung - die Entscheidung von Maria und Josef sich auf dieses Familienabenteuer mit einem Kind ohne Herkunft einzulassen. Sie springen in die Lücke, die Gott lässt. Josef adoptiert Jesus. Vielleicht würde Jesus einstimmen in das „God only knows what I’d be without you". Gott allein weiß, was ich ohne euch wäre. Und Maria und Josef würden ihm antworten: Mit dir ist Gott bei uns. Und darauf kommt es an.

Lied EG 549 Wir singen dir Immanuel, 1.2.5
Wir singen dir, Immanuel, du Lebensfürst und Gnadenquell, du Himmelsblum und Morgenstern, du Jungfraunsohn, Herr aller Herrn.
Wir singen dir in deinem Heer aus aller Kraft Lob, Preis und Ehr, daß du, o lang gewünschter Gast, dich nunmehr eingestellt hast.
Nun du bist hier, da liegest du, hältst in dem Kripplein deine Ruh, bist klein und machst doch alles groß, bekleidest die Welt und kommst doch bloß.


3: Herkunft Jesu

Schwanger vom Heiligen Geist - mehr sagt Matthäus nicht. Die natürliche Herkunft von Jesus bleibt ein Geheimnis, abgesehen von seiner Mutter. Das ist insofern spannend, weil Matthäus zuvor sehr ausführlich vom Stammbaum von Josef erzählt. Es ist so etwas wie ein antiker DNA-Nachweis über Josef, dass Jesus ein Davidssohn ist - aber am Ende ist Josef gar nicht sein biologischer Vater. Der Stammbaum läuft sozusagen ins Leere. Die direkte Linie ist unterbrochen.

Und dennoch ist er wichtig. Jesus ist tief verbunden mit seinen Vorfahren: mit dem jüdischen Volk, mit den vielen Geschichten, die es erzählt, und nicht zuletzt mit einer Ahnengalerie, die es in sich hat. Dieses Kind liegt da nicht einfach alleine in der Krippe - wie vom Himmel gefallen - sondern ist und bleibt Teil einer heiligen Familie, die gar nicht so heil ist - weder was die Geburtsumstände, noch die Herkunft betrifft.  
Immanuel, Gott mit uns - das Kind wird von Marias und Josefs Armen umfangen und ist verwoben mit den Menschen, die es zu dem gemacht haben, was es ist. Sie alle gehören zusammen, ob sie wollen oder nicht - und in welcher Familiienkonstellation auch immer.

Lied EG 549 Wir singen dir Immanuel, 6.7.10
Du bist der Ursprung aller Freud und duldest soviel Herzeleid, bist aller Heiden Trost und Licht, suchst selber Trost und findst ihn nicht.
Ich aber, dein geringster Knecht, ich sag es frei und mein es recht: Ich liebe dich, doch nicht so viel, als ich gerne lieben will.
Darum, so hab ich guten Mut: Du wirst auch halten mich für gut. O Jesulein, dein frommer Sinn macht, daß ich so voll Trostes bin.


4: Man sucht sich seine Familie nicht aus 

Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert oder der Zweifel an die Menschheit zu groß wird - dann denke ich an die Ahnengalerie von Jesus, mit der Matthäus sein Evangelium startet. Und wenn Matthäus sie schon aufzählt, stelle ich mir vor, die würden das Neugeborene besuchen - zumindest einige von ihnen. Wer würde da so kommen? Man sucht sich seine Familie ja nicht aus - auch Jesus nicht, auch in Bethlehem nicht. 

Da könnte König David den Stall betreten - über ihn könnte man viel erzählen.
Märchenhafter Aufstieg - fast wie in Hollywood. Aber David ist auch der Machthaber, der einen seiner Generäle in den Tod schickt, um sich an seine Frau ran zu machen. Und irgendwie hat der Premierminister David Ähnlichkeit mit ihm.
An Davids Seite steht: Bathsheba (oder ist es Natalie?). Es ist jedenfalls die Frau, wegen der David gemordet hat. Und wehren konnte sie sich auch nicht. An ihrer Hand ein kleiner Junge: Salomo. Sie hat ihm die Krone selber aufgesetzt. Er ist ungeduldig. Sie lächelt.

Ihr Lächeln wird beantwortet von einer anderen Frau, die gerade hereinkommt. Stark geschminkt. Schlank. Sie blickt sich um - im Stall, wo sie nicht hinpasst. Die anderen rümpfen die Nase, aber Rahab lächelt. Als ob sie sagen würde: Ihr haltet mich für eine Prostituierte, aber wenn ich nicht die Spione gerettet hätte, als sie Jericho erkundet haben - hey, ihr wäret alle nicht hier. Tut also nicht so überheblich!

Ihr Blick wandert zu einer weiteren Frau im Raum. Sie sieht nochmal anders aus. Ihre Haltung, ihr Akzent verrät sie: eine Fremde - ausgerechnet aus Moab. Einige der Umstehenden versuchen so dezent und gleichzeitig so weit wie möglich von ihr abzurücken. Aber Ruth scheint das nicht zu stören. Stolz blickt sie sich um, als wollte sie sagen: ich bin anders als ihr. Und ich hab genauso das Recht hier zu sein - ob ihr mich haben wollt oder nicht.  Und sie drückt zärtlich die Hand der älteren Frau, die neben ihr steht.

Da sind noch einige mehr. Aber nur diese Gäste zeigen schon, mit welcher illustren Gesellschaft es Jesus zu tun hat. Wieviele schräge Figuren mit ihrer je eigenen Schuld und ihren krummen Lebensläufen haben da in Bethlehem ihren Platz! Maria und Josef schauen sich an und denken: da sind wir ja gar nicht so falsch. Und das Kind schläft, als ob es überhaupt kein Problem damit hat. Warum auch? Es gehört hierher, genau hierher. Denn diese Welt braucht dieses Kind. Diese schräge Welt braucht die ungeschminkte Liebe dieses Kindes.

Ich bin bei euch, hat Gott einst zu Mose gesagt. Und nun sagt er wieder mit diesem Kind: ich bin bei euch, überall und immer. Ich bin mit euch in dieser Welt, weil die Welt meine Liebe braucht. All you need is love.

Klavierimprovisation zu "All you need is love" (Beatles)

5: Am Ende gewinnt „tatsächlich Liebe“

Weihnachten, das Fest der Familie - wir stellen es uns so schön vor. Alles in Ordnung. Dabei war es das noch nie. Weder an Weihnachten noch in der Heiligen Familie. Gott braucht keine perfekte Familie, sondern stellt sich in unsere Menschheitsfamilie hinein - mit all ihren Rissen und schrägen Figuren. 

Wegen seiner schrägen Figuren mag ich den Film „Tatsächlich Liebe“. Da gibt es sogar Hummer und Kraken im Krippenspiel und die beiden super-sympathischen und bescheidenen Judy und Jack lernen sich ausgerechnet als Lichtdoubles beim Pornofilm kennen. Manches ist schon sehr britisch-schräg, und manches Aufeinandertreffen sehr unwahrscheinlich. Aber da wo es ernst wird, ist der Film am weihnachtlichsten. 

Da ist Sarah, die seit über 2 Jahren in Karl verliebt ist. Als sie nach der Weihnachtsfeier endlich zusammenkommen, werden sie mehrfach unterbrochen. Sarahs psychisch kranker Bruder Michael kann sie jederzeit anrufen und tut es auch, und sie geht immer ran, wenn er es tut. Dazwischen scheint keine andere Liebe zu passen - jedenfalls nicht die zu Karl und nicht jetzt. Das ist traurig, aber auch Realität. 
Zum Schluss feiert sie mit ihrem Bruder Weihnachten, weil sie weiß, dass sie die einzige ist, der er vertraut. Ist das tatsächlich Liebe? Und ja, die verpassten Chancen gehören eben auch zu Weihnachten, wie die Erkenntnis, dass viele Menschen mit ihren Überforderungen und Erkrankungen alleine gelassen werden.

Und da ist Karen. Sie findet in der Jacke ihres Mannes Harry eine Halskette und freut sich, dass er sie ihr an Weihnachten schenken will. Doch als sie ihr Geschenk dann an Weihnachten auspackt, ist da eine CD drin. Ja, ihre Lieblingssängerin Joni Mitchel, aber in diesem Moment wird ihr Verdacht bestätigt, dass Harry was mit seiner Sekretärin hat. Weinend hört sie im Schlafzimmer der Sängerin zu:  
Ich habe die Liebe nun von beiden Seiten betrachtet
Vom Geben und Nehmen, und doch irgendwie
Sind es die Illusionen der Liebe
Ich kenne die Liebe wirklich nicht
(Both sides now)

Karen stellt Harry schließlich zur Rede. Er gibt zu, dass er einen Fehler gemacht hat.
Und offensichtlich versuchen sie es weiter miteinander. Der Film lässt offen, ob sie es schaffen.

Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert, denke ich immer an die Ankunftshalle im Flughafen Heathrow. Es wird allgemein behauptet, wir lebten in einer Welt voller Hass und Habgier, aber das stimmt nicht. So die Stimme von Hugh Grant. Halt stop, will ich dazwischen rufen. So einfach ist das nicht.

Aber er fährt ungerührt fort: 
Als die Flugzeuge ins World Trade Center flogen, gab es unter den Anrufen der Menschen an Bord meines Wissens nach keine Hass- oder Rachebotschaften. Es waren alles Botschaften der Liebe. Ich glaube, wer darauf achtet, wird feststellen können, dass Liebe tatsächlich überall zu finden ist.

Vielleicht hat er Recht. Auf jeden Fall glaube ich, dass Gott diese Welt nicht einfach sich selbst überlässt. Wie der kleine Sam, der durch die Flughafensecurity bricht, um zu seiner Joanna zu kommen, bricht Gott durch den Kokon dieser Welt und lässt sich nicht abhalten, zu uns zu kommen. 
Der Immanuel, der Gott mit uns. Er macht noch aus der verrücktesten schrägen Familie eine heilige Familie: David und Batheseba, Salomo, Tamar und Juda, Ruth, Rahab, Josef, Maria, Jesus. 

Wir sind alle selber Teil dieser verrückten heiligen Familie - wie auf dem Flughafen Heathrow oder im Stall. Wir lieben und werden geliebt. Wir scheitern und machen etwas wieder gut. Mit unseren krummen Lebensläufen ist in Bethlehem Platz für uns. Wir gehören dahin, weil Gott genau deshalb zu uns kommt. Gott liebt diese verrückte Welt. Und am Ende gewinnt - auch wenn es auf krummen Wegen ist - tatsächlich Liebe.
Amen.


*Matthäus 1:
 
Zur Geburt von Jesus Christus kam es so:
Seine Mutter Maria war mit Josef verlobt. Sie hatten noch nicht miteinander geschlafen. Da stellte sich heraus, dass Maria schwanger war – aus dem Heiligen Geist. Ihr Mann Josef lebte nach Gottes Willen, aber er wollte Maria nicht bloßstellen. Deshalb wollte er sich von ihr trennen, ohne Aufsehen zu erregen. Dazu war er entschlossen.
Doch im Traum erschien ihm ein Engel des Herrn und sagte: »Josef, du Nachkomme Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen. Denn das Kind, das sie erwartet, ist aus dem Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn zur Welt bringen. Dem sollst du den Namen Jesus geben. Denn er wird sein Volk retten: Er befreit es von aller Schuld.«
Das alles geschah, damit in Erfüllung ging, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: »Ihr werdet sehen: Die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn zur Welt bringen. Dem werden sie den Namen Immanuel geben«, das heißt: Gott ist mit uns.
Josef wachte auf und tat, was ihm der Engel des Herrn befohlen hatte: Er nahm seine Frau zu sich. Aber er schlief nicht mit Maria, bis sie ihren Sohn zur Welt brachte. Und er gab ihm den Namen Jesus.


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