Montag, 4. November 2024

Freiheit, sich einzumischen

Von Autoritäten, Mut und Freiheit
Predigt zum 13. Kapitel des Römerbriefs*

1.
Shifra und Pua, zwei israelitische Hebammen im alten Ägypten, hatten eine ziemlich klare Anweisung vom ägyptischen König bekommen: tötet die israelitischen männlichen Kinder noch in der Geburt. Aber sie taten es nicht und logen den König dreist an: wir kommen immer schon zu spät. Die Jungen sind dann schon da.
Sie fürchteten Gott, sagt die Bibel. Und deshalb verweigerten sie den Gehorsam gegenüber dem König. (Exodus 1)

Tja, und dann lese ich bei dir, Paulus: Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalten unter. Denn es gebe keine Gewalt, die nicht von Gott ist. Was denkst du denn über Shifra und Pua? Und was würden die beiden dir antworten?

2.
Anfang August bekommt S. einen Anruf. G., 20 Jahre alt, Jeside, bittet um Kirchenasyl. Er floh ein Jahr zuvor aus dem Irak zu seiner Familie, die in Pforzheim lebt. Allerdings wurde er in Bulgarien von der Polizei verhaftet und in ein Gefängnis gesteckt. Er wurde geschlagen und wurde dort krank. Schließlich schickten sie ihn weiter nach Deutschland. Deutschland lehnte es jedoch ab, seinen Asylantrag zu behandeln. Er soll nun nach Bulgarien abgeschoben werden: in ein Land, das sich nicht an die europäischen Standards hält, wo er niemanden kennt und wo er 1 Jahr zuvor misshandelt wurde.
Nach Beratung durch die Diakonie entscheidet der Ältestenkreis, G. in der Kirche Kirchenasyl zu gewähren. Die bulgarischen Verhältnisse verstoßen gegen die Menschenrechte, sagen sie. Die deutschen Behörden haben nicht richtig entschieden, sagen sie. G. muss das Verfahren hier durchlaufen, nicht in Bulgarien. Also schützen wir G. vor der Abschiebung nach Bulgarien.

Bei dir, Paulus, lese ich: Jeder ordne sich den Trägern der staatlichen Gewalten unter. Denn es gebe keine Gewalt, die nicht von Gott ist. Was denkst du denn über das, was die Ältesten entschieden haben? Und was würde dir G. antworten?

3.
Ist dir eigentlich klar, lieber Paulus, welche Wirkung diese Zeilen hatten?
Aus Christen, die für ihre aufrechte Haltung vom römischen Kaiser bis in die Katakomben von Rom verfolgt wurden, wurden obrigkeitshörige Kirchenleute.
Könige, Kaiser, Kanzler, Minister ließen sich als von Gott eingesetzte Autoritäten feiern.
Sklaverei, Ausbeutung, Kolonialismus - alles das wurde damit gerechtfertigt.
Und ganz besonders schlimm war, wie diese deine Worte durch die deutsche Kirche in ihrer Kungelei mit den Nationalsozialisten instrumentalisiert wurden.

Davon wachten dann endlich einige auf:
Christen und Christinnen formulierten die sogenannte Barmer Theologische Erklärung und sie mahnten sich selber, dass sie auch ein kritisches Gegenüber zum Staat und seinen Behörden sind. „Die Kirche“ so heißt es da, „die Kirche erinnert an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.

4.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es irgendeine Autorität auf der Welt geben kann, die direkt von Gott eingesetzt ist.
Keine Regierung. Kein König. Keine Verfassung.
Sie alle müssen sich doch bewähren, an ihren Absichten, an dem, was sie tun – oder auch nicht tun. Bewähren, durch das Gute, dass sie in die Welt bringen.
Und ob sie auch allen Menschen dienen und nicht nur wenigen.
Prüfet alles und das Gute behaltet - das sagst du doch selber, Paulus.
Und darüber müssen wir diskutieren und reden und sind bestimmt auch als Christinnen und Christen nicht immer einer Meinung, was das Gute ist.
Aber wir wissen doch um unseren Maßstab: nämlich Jesus selbst.
Er, der immer für die Schwächsten da war und die Liebe gelebt hat, wie kein anderer.
Er, der von der Obrigkeit hingerichtet wurde.
Er, Opfer eines brutalen Populismus.
Er, der die Armen und Barmherzigen und die Sanftmütigen selig preist.
Er, der Ohnmächtige.
Da kann ich mich doch einer staatliche Macht nicht uneingeschränkt unterordnen.
Nein, Paulus, da muss ich dir deutlich widersprechen!

5.
Vielleicht würdest du heute auch andere Worte wählen?
Vielleicht musstet du in deinem Brief an die Römer gar nicht so kritisch gegenüber dem Staat sein, weil der römische Staat seiner Zeit viel Gutes für euch getan hat.
Nicht negativ auffallen, dann wurdet ihr in Ruhe gelassen und ihr konntet predigen.
Zumindest am Anfang war das so.

Hättest du diese Worte geschrieben, wenn du gewusst hättest, dass du ausgerechnet durch das Schwert des römischen Staates sterben würdest?
Hättest du von Unterordnung und von Gott eingesetzter Macht geschrieben, wenn du von einem Hitler oder einem Stalin erfahren hättest oder von einem Terrorregime wie im Iran?


6.
Aber einen Doppelpunkt hast du, Paulus.
Erstens: Auch bei dir tritt kein Staat an die Stelle Gottes. Und kein Staat vertritt Gott. Es gibt auch keinen Gottesstaat und kein religiösen Regeln, die der Staat durchzusetzen habe. Im Gegenteil. Staatliche Ordnung und göttliche Ordnung sind nicht dasselbe. In deinen Augen ist selbst der römische Kaiser nur ein Diener Gottes - nicht Gott selber. Das Selbstverständnis des Kaisers war ein anderes. Das wusstest du, oder?

Und zweitens: Es braucht einen Staat, der dafür sorgt, dass es gerecht für alle zugeht. Dass Menschen vor Willkür geschützt sind. Und nicht alleine gelassen werden, wenn sie Hilfe brauchen. Es braucht Autoritäten, die die in die Schranken weisen, die das Recht brechen. Damit alle frei sein können zu lieben und zu glauben und zu leben, wie es ihnen entspricht. Alle Menschen müssen ihre Religion oder Nicht-Religion selber wählen können, ihren Lebensstil selber entscheiden, über ihren Körper selbst bestimmen und haben ein Recht auf Bildung und Gesundheit.

7.
Ich habe Angst davor, dass das immer mehr Menschen das in Frage stellen.
Sie träumen von Autokratien, die sich selber ermächtigen.
Sie wählen Populisten, denen die Menschenrechte für alle egal sind.
Und sie stellen die demokratischen Prinzipien in Frage: die von der Gewaltenteilung, den Schutz für Minderheiten und die Freiheit für alle, solange sie die Freiheit anderer nicht begrenzt.
Sie nutzen die  demokratische Strukturen, um all das Gute unserer Zeit zu zerstören.
Sie instrumentalisieren sogar Opfer des Nationalsozialismus wie Bonhoeffer oder Sophie Scholl, um demokratische Kräfte zu demontieren. Sie setzen heutige Probleme gleich mit dem Terror aus früheren Zeiten. Das ist gefährlich und - ja - auch Böse.

Und deshalb stimme ich dir da zu, Paulus:
Die staatliche Ordnung muss dem Guten dienen und das Gute ermöglichen.
Und mein Blick auf die staatliche Ordnung als Christin fragt genau danach:
Hat sie das Recht im Blick? Hat sie die Benachteiligten im Blick?
Schützt sie die Minderheiten, die Marginalisierten, die, die weniger Glück haben als andere?
Denn das ist der Perspektive Jesu: die der Ausgestoßenen, der Verdächtigen, der Geschundenen, der Machtlosen, der Unterdrückten und Geschmähten, kurz die Perspektive der Leidenden. Und deshalb bringst du auch das Gewissen ins Spiel. Manchmal müssen wir unserem Gewissen folgen, weil wir die Perspektive Jesu einnehmen.

8.
Shifra und Pua, die beiden israelitischen Hebammen haben genau das getan:
Sie haben Leben gerettet, statt zerstört. Und deshalb einen willkürlichen, unmenschlichen Befehl widerstanden.

Die Kirchenältesen der Pforzheimer Gemeinde haben genau das getan: das Recht eingefordert für G., das ihm zusteht. Sie haben die Behörden an ihre Pflicht erinnert, nochmal genau hinzuschauen, ob sie auch alles bedacht haben. Und Gott sei Dank wurde G. nicht abgeschoben und sein Asylantrag wird nun in Deutschland geprüft. Ich hoffe sehr, dass er hier bei seiner Familie bleiben kann.

Und vielleicht, lieber Paulus, würdest du das heute auch unterschreiben?
Denn dir geht es ja darum, dass wir als Christen und Christinnen die Freiheit bekommen, Gutes zu tun und ihrem Gewissen zu folgen. Christus hat uns zur Freiheit befreit, sagst du an anderer Stelle. Und wenn eine staatliche Ordnung diese Freiheit ermöglicht, dann ist das ganz im Sinne Gottes. Grund genug, dankbar dafür zu sein!

Ja, Paulus, wir sind frei, uns einzumischen. Wir sind frei, die Liebe Jesu zu leben. Wir sind frei zum Widerspruch und frei zur Zustimmung. Prüfet alles und das Gute behaltet. Und wir sorgen dafür, dass das Gute nicht zerstört wird.
Amen.




*)
Jeder ordne sich den Trägern der übergeordneten staatlichen Gewalten unter. Denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott ist, die bestehenden Gewalten aber sind von Gott eingesetzt,  so dass, wer sich ihnen widersetzt, sich der Anordnung Gottes entgegenstellt, die sich aber widersetzen, werden sich selbst das Urteil zuziehen. Denn die Vertreter der staatlichen Behörden sind nicht ein Schrecken für das gute Werk, sondern für das böse. Du willst nicht die staatliche Gewalt fürchten? Tue das Gute, und du wirst Lob von ihr empfangen,  denn sie ist Gottes Dienerin für dich zum Guten. Wenn du aber das Böse tust, fürchte dich! Denn nicht ohne Grund trägt sie das Schwert. Sie ist nämlich Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut.
Deshalb ist es nötig, sich unterzuordnen, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern auch wegen des Gewissens.  Denn deswegen bezahlt ihr auch Steuern. Denn Gottes Gehilfen sind die, die eben genau das einfordern. Gebt allen, was ihr ihnen schuldig seid – der Steuerbehörde die Steuer, der Zollbehörde den Zoll, wem Furcht gebührt, Furcht, wem Ehre gebührt, Ehre. Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, hat das Gesetz erfüllt.


 

Montag, 16. September 2024

Sekundenglück

Predigt zu Psalm 16*

(dazu empfehle ich das "Fan"-Video von Herbert Grönemeyer zu seinem Song "Sekundenglück", in dem lauter Glückssekunden gesammelt wurden: https://www.youtube.com/watch?v=RWYx9No2hbo)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1.

Oma, I’m so happy, rief der 5jährige Tom, als er das erste Mal die Ostsee sah und umarmte seine Großmutter Karin. Er hatte gerade die ersten englischen Wörter gelernt. Einfach so. Niemand wunderte sich, warum er das auf englisch sagte. Warum auch. Er schien wirklich glücklich und überwältigt zu sein. Egal in welcher Sprache. I’m so happy.

 

Auch für Karin war das ein Glücksmoment. Oft versteht sie Tom nicht, vielleicht weil sie sich viel zu selten sehen oder weil er Autist ist und sie nicht - oder beides. Aber in diesem Moment waren sie beieinander. Verstanden sich bis in die kleinste Körperzelle hinein. Das Meer, der Sand, die Möwen, Wind und riesige Wolken. Wie aus dem Bilderbuch. Fast kitschig. Aber es war jetzt da - ganz echt. Ganz richtig. Ganz für sie beide: Oma Karin und Tom. Glücklich. Sekundenglück.

 

„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über

Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt

Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente

Das ist, was man Sekundenglück nennt“
(Grönemeyer, Sekundenglück)

 

2.

Glück - ein großes Wort. Zu groß. Voller Sehnsucht. Und oft verkitscht.

Das Sekundenglück ist aber klein. Oft übersehen.

Nur du kannst es sehen, spüren, fühlen - in dieser Sekunde.

Nur du und vielleicht die andere Person, mit der du es erlebst:

dein Enkel, deine Freundin, dein Mann, deine Patientin, dein Kunde.

 

Wenn du es erlebst, spürst du es mit jeder Faser deines Körpers. Es ist Leben pur.
Jetzt - in dieser Sekunde. Du kannst es nicht festhalten. Genau das macht es aus.

Das Sekundenglück geht vorbei.

 

Es ist das Hüpfen über die Welle am Strand oder die Muschel, die du findest.
Es ist das eine Lied im Radio, das du jetzt brauchst.

Dein Tanz in der Küche. Der erklommene Berggipfel. Der Regenbogen.

Dein schlafendes Kind im Autositz. Oma, I’m so happy.

Es ist der gemeinsame Gesang von 1000en Menschen.

Das erlösende Handballtor. Der eine Videoclip. Die erste Erdbeere im Jahr.

Der Jupiter am Sternenhimmel. Und neben ihm der Mars.

Das Telefonat mit der Jugendfreundin nach vielen, vielen Jahren.

Das Grab der Mutter, an dem sich zwei Schwestern endlich wieder umarmen.

 

„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über

Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt

Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente

Das ist, was man Sekundenglück nennt“

 

3.

Herbert Grönemeyer singt diese Worte seit 2018.
20 Jahre zuvor war seine erste Frau Anna gestorben.
Ihr Tod hatte ihn damals aus der Bahn geworfen.
Ein Jahr lang machte er nichts mehr mit Musik.
Kein Konzert. Kein Lied komponieren. Keinen Text schreiben.
Erst dann fing er langsam wieder an und fasste seine Trauer in neue Töne.
Zwei seiner bekanntesten Songs sind entstanden: „Mensch“ und „Der Weg“.
Und bis heute – 26 Jahre später – taucht die Trauer in seinen Songs auf –
und zugleich die wiedergefundene Lebensfreude.

Grönemeyer weiß, wie zerbrechlich Glück ist. Wie vergänglich.
Wie brutal der Tod. Und endgültig.

Grönemeyer weiß, wie kostbar deshalb jeder kleine Moment ist.

Wie kostbar und wie sehr zu genießen. Jetzt.

Das Sekundenglück, dass das Leben au
smacht.

 

Wer Grönemeyer auf Konzerten erlebt hat (wie ich Anfang August in Karlsruhe),
weiß, wie ansteckend seine Lebensbegeisterung ist.
Ein Abend mit ihm ist Empowerment pur mit guter Laune und starker Botschaft.
Die Füße tun danach weh vom Tanzen, die Stimme ist rauh vom Mitsingen,
aber alle sind glücklich. Sekundenglücklich.

 

Die Psalmen der Bibel kennen das nur zu gut.
Sie sind voll davon: von Jubel bis in die Haarspitzen,

von tiefster Ergriffenheit und überschwänglicher Freude.

 

Mein Herz und meine Seele sind fröhlich; auch mein Leib

Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne

So jubelt der 16. Psalm.

 

Und du? Jubelst du mit?

 

4.

Oder fällt es dir heute nicht leicht?

Vielleicht machen dir die Ergebnisse der Landtagswahlen vor zwei Wochen Sorge.

Und die bevorstehende Landtagswahl am kommenden Wochenende (22.9.) auch.

Mir geht es jedenfalls so.

Mich bedrückt insgesamt die politische Stimmung in unserem Land sehr.
Dieses Die da oben machen alles falsch. Und vielleicht stimmt davon vieles sogar.

Mich bedrückt es, dass immer mehr jesidische und iranische Geflüchtete abgeschoben werden, obwohl es in ihrer alten Heimat immer noch gefährlich für sie ist.

Ich sehe die Reflexe auf den grausamen Terrorakt in Solingen:
das Asylrecht wird in Frage gestellt und die Menschenwürde versinkt im Mittelmeer.

Ich mach mir Sorgen um meine Kirche:
schafft sie es, wirklich und ernsthaft, die sexualisierte und spirituelle Gewalt, die durch ihre Leute geschah und geschieht, aufzuarbeiten und anzugehen?
Und ich mach mir Sorgen um die vielen sehr belasteten Familien, um ihre Kinder:
sie stehen immer mehr unter Druck und haben Angst vor der Zukunft.

 

So wie Oma Karin: ihr Enkel Tom - wird er eine Schule finden, die zu ihm passt?
Kann er überhaupt mal so leben, dass er sich nicht verbiegen muss?
Wie kann sie seine Eltern noch besser unterstützen, auch wenn sie so weit weg wohnen?

 

All diese Gedanken hat Karin.
Dennoch ist sie in diesem einen Moment mit Tom glücklich.
Dieses Sekundenglück will sie wach halten. Sich daran erinnern.
Mit der Muschel z.B., die sie mit Tom gefunden hat.
Wenn sie diese in der Hand hält, riecht sie wieder die Ostsee.
Sie hört die Möwen und die Wellen. Sie fühlt den Arm von Tom um ihren Hals.
Ja, die Sorgen sind dann noch da, aber sie füllen sie nicht mehr allein aus.
Und sie weiß ganz genau: in diesem Sekundenglück mit Tom - da war auch Gott dabei.
Gott ist da und die Muschel in ihrer Hand erinnert sie auch daran.
Aber reicht das, wenn die Sorgen wieder Überhand gewinnen: ist Gott dann auch da?

 

5.

Ich habe den Herrn allezeit vor Augen - singt der 16. Psalm.

Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, du bist bei mir - diese Worte lese ist im 23. Psalm. 

Ja, unsere Psalmisten kennen nicht nur die freudigen und wonnigen Momente,
sondern auch die dunklen Täler, die Angst, die Verzweiflung.
Auch dann lassen sie Gott nicht los.
Du bist bei mir. Du musst bei mir sein. Gott, es ist deine Aufgabe!

Du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen

und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.

 

Wow, denke ich dann. So möchte ich auch mit Gott rechnen.
Im Guten wie im Schlechten.

Das Sekundenglück aus der Hand der Ewigen nehmen

und ihre Nähe spüren, wenn das Glück zerbricht.
Ich will in Gutem und Bösen, das mir geschieht, verbunden bleiben -
mit Gott, mit mir und mit meinen Lieben.

 

Denn ja, das ist das Leben, dass du, Gott, mir schenkst:
ein Leben voller Glückssekunden
und zugleich endlich, zerbrechlich, begrenzt.
Weil es so begrenzt und zerbrechlich ist,
sind die Glückssekunden um so wichtiger.
Das Sekundenglück trägt auch dann, wenn es nicht mehr da ist.
Weil du, Gott, immer noch da bist.

 

6.

„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über

Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt

Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente

Das ist, was man Sekundenglück nennt“

 

Sekundenglück, das trägt. Ob das geht?

Auf YouTube schreibt eine Sekundenglück-Hörerin:

Wir haben dieses Lied bei der Beerdigung meiner Mutter gespielt.
Eine Frau, die 2018, in dem Jahr, in dem das Lied ver
öffentlicht wurde, eine Krebsdiagnose bekam und 4 Jahre gegen diesen Krebs gekämpft und leider verloren hat.
Sie hatte es im Leben oft schwierig, da ihr Mann bereits 1992 starb
und sie nun mit 4 kleinen Kindern alleine war.
Trotzdem hat sie immer versucht, das Beste aus ihren schwierigen Situationen zu machen.
Auch im Kampf gegen den Krebs versuchte sie immer sch
öne Momente zu haben
und das Leben zu genießen. (…)
Ihre letzten Worte am Sterbebett waren: "Alles ist gut!“

 

Oma, I’m so happy!

Wenn die Sorgen um die junge Familie zu groß werden,
erinnert sich Karin an diesen Satz von Tom.
An seine Arme, an den Geruch vom Meer.
Sie erinnert sich daran, dass Gott in diesem Moment da ist
und darum auch da sein wird, wo es schwer ist.

Dieses Sekundenglück hilft ihr, nicht aufzugeben und der jungen Familie zu helfen.
Hilft mir, zu weiteren „I’m so happy“ beizutragen.

Dieses Sekundenglück hilft mir, mich weiterhin für die Menschenwürde einzusetzen
und für eine Kirche, die glaubwürdig ist.

 

Denn das Sekundenglück ist von Gott getragen.
So wie auch das zerbrochene Glück.

 

Ja, du bist da, Gott. Immer. Auch jetzt.

In diesem zerbrechlichen, endlichen Leben voller Sekundenglücksmomente.

Amen.

 

*)

Der Herr ist mein Gut und mein Teil;  du hältst mein Los in deinen Händen!

Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land;  mir ist ein schönes Erbteil geworden.

 

Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts.

Ich habe den Herrn allezeit vor Augen; er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht.

Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher wohnen.
Denn du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen
und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.

 

Du tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.

Sonntag, 28. April 2024

Freiheit. Leben. Singen.

Vom Schilfmeer und einem Meer
aus Glas und Feuer.
Von Pessach, Toomaj Saleh
und Gospels.
Und vom Singen - gerade jetzt.

Eine Predigt zu Offenbarung 15, 2-4


1.
Lasst uns singen von der Freiheit.
Lasst uns singen vom Leben.
Lasst uns singen von Gott.

When Israel was in Egyptsland -
let my people go!

Lass mein Volk ziehen.
Lass es frei -
ruft Mose dem Pharao zu.

In diesen Tagen wird dies wieder gefeiert - in aller Welt.
Pessach - das jüdische Freiheitsfest. Let my people go!
Dieses Jahr mit einem besonderen Ton. Verzweifelt, klagend, weinend.
Mit Fotos von Romi, Noam und Nora, Alon, Evyatar und Carmen.
Let my people go! Lasst die Geiseln frei!
133 werden noch in der Hand der Hamas festgehalten.
Lasst sie frei - rufen die Israelis der Hamas zu.
Holt sie raus - rufen sie ihrer Regierung zu,
damit sie endlich einen Weg findet, die Geiseln zu retten.
Pessach - mit bitteren Kräutern, die an die Gefangenschaft erinnern,
mit Salzwasser für die vergossenen Tränen und mit Matzen
und am Ende beten die Lebenden für die Toten.
Dieses Jahr bleiben viele Stühle an den Tischen frei.
Let my people go!

Lasst uns singen von der Freiheit!
Sie ist bedroht wie nie.
Lasst uns singen für die Frauen im Iran,
die immer noch mutig auf die Straße gehen und ihre Haare zeigen, 
und für den iranischen Rapper Toomaj Saleh, der hingerichtet werden soll,
weil er regimekritische Songs veröffentlicht hat.
Er hat sich auch nicht einschüchtern lassen, als er gefoltert wurde.
Er singt und singt und singt. Und nun soll er deshalb ermordet werden.

Let my people go!
Verstummt nicht.
Singt mit erstickter Stimme. Mit einem Kloß im Hals.
Singt laut.

2.
Ich will singen von der Freiheit.
Will singen vom Leben. Und von Gott.

Im Buch der Offenbarung des Johannes lesen wir im 15. Kapitel:
Und ich sah, —
und es war wie ein gläsernes Meer, mit Feuer vermengt.
und die den Sieg behalten hatten über das Tier
und sein Bild und über die Zahl seines Namens,
die standen an dem gläsernen Meer
und hatten Gottes Harfen
und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes,
und das Lied des Lammes:
Groß und wunderbar sind deine Werke,
Herr, allmächtiger Gott!
Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege,
du König der Völker.
Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten
und deinen Namen nicht preisen?
Denn du allein bist heilig!


3.
Ein Meer wie aus Glas, durchzuckt von gelegentlichen Blitzen und Feuern.
Ein Meer wie einst das Schilfmeer, deren Wellen wie eine Mauer stehen.
Aber jetzt verspricht es Ruhe. Klarheit und Wärme.
Und am Ufer dieses wundersamen Meeres stehen sie, die Überlebenden.
Und sie singen ein Lied vom Leben. Vom Überleben.

We shall over come….. some day….

Ja, da stehen sie, die das Böse überwunden haben.
Die Überlebenden.
Es sind die Guten, die zu Unrecht verurteilten
die, für die man nichts tun konnte, und alle, die jemals litten,
die zu früh gingen,
die erlebten, was sie nicht verdienten und was du keinem wünschst.
Es sind die vergewaltigten Frauen vom 7. Oktober und die weinenden Kinder im Gaza.
Es sind die Alexey Navalnys dieser Welt und die jesidischen Mädchen wie Nadia Murat.
Es sind junge Männer wie Yamil,
der mit 14 Jahren aus Syrien floh und sich im bulgarischen Gefängnis wiederfand.
Ganz allein.

Sie sind alle da - am gläsernen Meer.
Wie einst die Israeliten haben sie es geschafft.
Und es geht ihnen gut.
Hier am Meer aus Glas und Feuer, aus Klarheit und Wärme, ist alles vorbei.
Sie sitzen am Ufer, auf der Insel der Verbannten und sie singen ihr Lied.
Sie singen das Lied des Mose und des Lammes.
Das Lied des Helden und des Opfers. Das Lied der Sieger und der Besiegten.
Alles zugleich. Und in verschiedenen Sprachen.
Dieses Lied wird wohl fremd klingen und wundersam und seltsam.
Vielleicht wie Glas und Feuer.
Und ich weiß noch nichtmal, ob es Musik sein wird,
Musik in unserem Sinne. –
Oder ist es vielleicht dann einfach nur noch ein großes, weites Klingen –
ein Summen "wie im Himmel".
Ich weiß es nicht. Und das macht auch nichts.

Denn ich weiß:
Mit ihnen da am Meer werde ich einst das Lied vom Leben singen.
Mit euch und allen, die an diesem Ufer stehen und stehen werden.
Dann, am Ende, wenn es kein Dann mehr gibt.
Dann - wenn alles gut ist.
Wir werden singen für das Leben. Für das Überleben.
Jedes von uns mit seinem Lebensklang.
Helle und dunkle Geräusche.
Und da klingen vielleicht alle Töne zusammen:
Einer singt hell, eine andere spielt ein Instrument –
und noch eins schluchzt vielleicht noch und läßt einfach alles raus.

Aber es wird gut sein. Dann. Am Ende.
Ganz am Ende, wenn alles zu Ende ist. Wenn es kein Dann mehr gibt.
Dann singen wir alle zusammen am Meer aus Glas und Feuer von der Freiheit.
Und vom Leben. Und von Gott.

… oh deep in my heart, I do believe, that we shall over come some day….

4.
Aber jetzt ist es noch nicht gut. Jetzt ist noch nicht dieses Dann. Jetzt ist jetzt.
Jetzt sehe ich kein gläsernes Meer, sondern eine Welt, die ächzt und seufzt.
Da wird gelacht und gelitten. Da wird gejubelt und geweint und geheult.
Da wird sehr geliebt und fürchterlich gehasst.
Und wird umarmt und liebkost und geschlagen und gemordet.
Und manche weinen, und es werden Bäche und Ströme daraus,
die fließen ins Tränenmeer. Ein broken halleluja.

Hier in dieser Welt, hier im Jetzt, höre ich nicht nur Dank- oder Liebeslieder.
ich höre auch Hassgesänge und rohes Gebrüll.
Und ich bin ratlos, dass es immer leichter geht, die einen gegen die anderen aufzuhetzen.
Die leisen Stimmen werden übertönt von den listigen Wahrheitsverdrehern mit ihrem Lügen.
Und dann fühle ich mich manchmal wie ein Kind, das nicht mehr weiß, wo es hingehört.
Und kann nur noch stammeln:

Sometimes I feel like a motherless child…. a long way from home….

5.
Nein, ich lass mich nicht verstummen.
Und auch wenn die Stimme brüchig ist und auch wenn ich nur stammeln kann:
Ich will singen.
Ich will singen von der Freiheit.
Ich will singen vom Leben.
Und von Gott.

Ich will singen von einem Gott, der die Verfolgten beschützt und die Gedemütigten aufrichtet.
Ich will singen, dass Gott die Liebe ist und diese Liebe in die Herzen aller Menschen gepflanzt hat.
Ich will singen, dass Gott mich ermutigt da zu sein
und mich so geschaffen hat, wie ich bin,
und dass ich nicht besser oder klüger oder schneller sein muss, sondern Gottes geliebtes Kind bin.

Und ich singe das mit allen Songs, die mich begeistern.
Ob weltlich oder geistlich - das ist egal.
Ich will, dass das Leben in mir klingt und summt und brummt.

Mit den Gospels ziehe ich durch das Schilfmeer
und hoffe, dass die Wellen nicht über mir zusammenschlagen.
Mit Freddie Mercury weine ich um den bedrohten Jungen aus der "Bohemien Rhapsodie".
Ich lobe "den Herrn dort droben" mit Paul Gerhardt
und bitte um die Freiheit der iranischen Frauen mit "Baraye Azadi".
"Where is the love" frage ich mit Black Eyed Peas,
danke Gott für den guten Morgen und jeden neuen Tag
und singe den einen letzten Song, "One last song" mit Lord of the Lost.
Alles das gehört zusammen.
Und alles das verbindet mich mit euch und so vielen Menschen,
von denen ich viele kenne und die meisten nicht.

Und Gott? Gott singt und klingt in uns:
rauh und geschmeidig, hoch und tief und schräg und harmonisch.
Wild und leise, Geistlich und weltlich.
Alles zusammen. Denn so ist die Welt. Voller Klang. Und so ist Gott.

6.
Darum lasst uns singen.
Lasst uns singen von der Freiheit.
Lasst uns singen vom Leben. Und vom Überleben.
Lasst uns singen von Gott.
Und wenn die Stimme nicht singen kann, schwingt vielleicht immer noch das Herz mit.

Lasst uns singen mit den jüdischen Geschwistern:
Let my people go!
  Lasst die Geiseln frei.
Lasst uns singen mit Toomaj Saleh, dem iranischen Rapper, um sein Leben.
Lasst uns singen für die Toten in der Ukraine und in Gaza,
Für die, die wir vermissen und um die wir auch hier trauern.
We shall live in peace some day.
Lasst uns singen von Gott, die uns Töne und Klänge und Stimmen und Instrumente schenkt.
Von einem Gott, der uns aus der Gefangenschaft in die Freiheit führt.
Und uns dann, wenn es so weit ist, alle zusammenführen wird
- Juden, Musliminnen, Christinnen und Atheisten -
uns alle wird er zusammenführen an einem Meer aus Glas und Feuer,
und das Böse wird nicht mehr sein. Nie wieder.
We shall live in peace someday

Ja, lasst uns singen von Freiheit
und vom Leben
und von Gott.
Und vom Frieden,
der höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.



Montag, 8. April 2024

Ein Mehr an Leben - oder was Billy Elliot, Jack, Thomas und Jesus verbindet....


Predigt zu Johannes 20, 19-21.24-29

Es war Abend geworden an diesem ersten Wochentag nach dem Sabbat.

Die Jünger waren beieinander und hatten die Türen fest verschlossen.

Denn sie hatten Angst vor den Behörden.

Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!«

Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite.

Die Jünger freuten sich sehr, als sie den Herrn sahen.

 

Thomas, der auch Zwilling genannt wird, gehörte zum Kreis der Zwölf.

Er war nicht bei ihnen gewesen, als Jesus gekommen war.

Die anderen Jünger berichteten ihm: »Wir haben den Herrn gesehen!«

Er entgegnete ihnen:

»Erst will ich selbst die Wunden von den Nägeln an seinen Händen sehen.

Mit meinem Finger will ich sie fühlen.

Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen.

Sonst kann ich das nicht glauben!«

 

Acht Tage später waren die Jünger wieder beieinander.

Diesmal war Thomas bei ihnen.

Wieder waren die Türen verschlossen.

Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!«

Dann sagte er zu Thomas:

»Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an.

Streck deine Hand aus und leg sie in die Wunde an meiner Seite.

Sei nicht länger ungläubig, sondern komm zum Glauben!«

Thomas antwortete: »Mein Herr und mein Gott!«

Da sagte Jesus zu ihm: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast.

Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!«


1.    Jack kann es nicht glauben
 
Jack kann es nicht glauben.
Sein Sohn Billy, 11 Jahre alt, will Balletttänzer werden!
Alle Männer der Familie Elliot haben boxen gelernt. Die Zeiten sind hart. In den 80er toben die Arbeitskämpfe in Durham. Die Zechen sollen geschlossen werden. Sie haben Angst um ihre Arbeitsplätze. Und darum streiken sie und haben eigentlich nichts, außer ein paar Cent.
Aber boxen – das soll jeder Junge können. Schließlich wird einem nichts geschenkt und dann muss man sich wenigstens wehren können. Also geben die Väter von Durham ihre letzten 50 Cent, damit ihre Söhne in der Boxhalle trainieren können, so wie sie früher.
 
Eines Tages kommt Mrs Wilkinson, die Balletlehrerin, zu Jack und schlägt ihm vor, Billy auf die Royal Ballet School zu schicken. Billy hatte schon eine Weile bei ihr gelernt, ohne dass Jack es wusste.

Jack ist fassungslos.
Während Billys großer Bruder Tony von der Polizei zusammenschlagen wird, lernt Billy ausgerechnet: tanzen. Heimlich. Statt zu boxen. "Du hast dich um Grandma zu kümmern, während wir kämpfen!" - brüllt Jack seinen Sohn an. Und er tobt und schlägt um sich und seine Fäuste treffen Billy.
 
Jack kann nicht glauben, dass Billy ein Tänzer ist. Es passt nicht in sein Bild von Billy,
es passt nicht zu dem, was sie als Familie durchmachen.
Es passt nicht dazu, dass sie das von der toten Mutter geerbten Klavier zerhacken müssen, um Brennholz zu haben. Es passt nicht zur Brutalität der Polizei und nicht zur Dunkelheit der Zechen. Es passt nicht zum Ruß, der über Durham liegt, und den Schnee in ein matschiges Grau verwandelt. (1)
 
2.    Thomas kann es nicht glauben
 
Thomas kann es nicht glauben.
Jesus, der Freund, der Lehrer, soll leben. Die anderen Jünger und Jüngerinnen haben ihn angeblich gesehen. Der so elend am Kreuz starb und das vor allen Augen – der soll leben? Und er wurde doch dann in das Grab von Josef von Arimathäus gelegt… Das passt nicht.
Es passt nicht in die Welt, die Thomas kennt. Es passt nicht zum unerbittlichen Handeln der römischen Soldaten. Es passt nicht zum Blut, zum Schmerz, zum Grau der Tage. Nicht zu den enttäuschten Gesichtern derer, die gehofft hatten, dass nun endlich alles anders wird. Und immer noch verkriechen sie sich hinter dicken Mauern.
Dass Jesus leben soll, das passt nicht zu den Tränen der Frauen, die die ganze Zeit unter dem Kreuz waren. Nicht zu der Angst, die die Jesus-Freunde immer noch haben - dass es auch sie treffen könnte.
Thomas ist kein Ungläubiger, auch wenn er oft so genannt wird. Aber er ist auch kein Leichtgläubiger, kann nicht einfach so glauben, was seine Freunde ihm erzählen.
 
Ich verstehe Thomas gut.
Jesus lebt? Da müsste doch die Welt auf dem Kopf stehen, alles anders sein.
Die Angst verflogen - alle Türen offen. Die Tränen getrocknet. Kein Tod mehr. Kein Leid mehr.
Aber die Welt ist weiterhin wie sie ist. Die Türen sind und bleiben verschlossen.
Wieso merke ich nichts davon, dass Jesus lebt?
 
3.    Thomas begreift
 
Und plötzlich ist er da, der Auferstandene.
Steht vor Thomas - so wie 8 Tage vorher bei den anderen. Steht vor ihm - offensichtlich können Mauern und verschlossene Türen ihn nicht draußen halten. Es gibt keine Grenzen mehr, kein drinnen und draußen, Himmel und Erde verschwimmen. Wunden und Wunder gehen ineinander über. Die Schwelle zwischen Tod und Leben überschritten. Die Welt, wie Thomas sie kannte, bröckelt.

Aber es reicht noch nicht. „Erst will ich selbst die Löcher von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen.“
Zeigt mir seine Narben, sagt Thomas zu den anderen. Lasst mich begreifen, was geschehen ist.
Lasst es mich spüren. Berühren. Fleisch und Blut, Haut und Haar.
Kein Geist. Sondern Mensch. Der Mensch Jesus.
 
Und Jesus lässt es zu. Er zeigt Thomas seine Narben. Und das genügt.
Jesus zeigt sich ungeschützt, mit all den Spuren, die das Leben und der Tod hinterlassen haben.
Zeigt sich, wie er ist. Unverstellt. Echt.
Und das lässt Thomas glauben.
Jesus ist kein Geist, der mit ihm nichts zu tun hat.
Sondern vielleicht sogar mehr Mensch denn je und damit ganz nah.
 
4.    Jack begreift
 
Und plötzlich ist er da. Billy, der 11jährige Junge, steht in der Boxerhalle vor seinem Vater. Beide haben nicht damit gerechnet, dass sie sich hier treffen. Draußen und drinnen verschwimmen. Sie sind erschrocken. Wird der Vater wieder prügeln?
 
Billy fängt an zu tanzen. Alles lässt er raus - seine Wut, seine Trauer, seine Angst, seine Tränen.
Er tanzt wie noch nie. Und Jack begreift auf einmal, wen er da vor sich hat.
Es ist Billy, den er doch von klein auf kennt und liebt und den er doch nun zum ersten Mal richtig sieht.
Mit seinen Narben auf der Seele und seiner Wut im Bauch. Er lässt sich berühren, obwohl er nur zuschaut.
Denn Billy hat sich gezeigt. Ohne Mauern. Ohne Panzer. Ungeschützt, unverstellt, echt.
 
5.    Ein Mehr an Leben
 
Damit ist der Damm gebrochen. Jack erkennt, was Billy braucht.
Und für die ganze Familie beginnt ein neues Leben.
Immer noch voller Tränen und Zweifel. Nicht wissend, ob Billy es schaffen wird.
Sie gehören zusammen und niemand kann sie auseinander treiben, noch nicht mal das Grau in Grau von Durham oder die gnadenlose Dunkelheit der Zechen.
Billy wird ein großer Tänzer, der die Herzen berührt und seinem Vater die Tränen in die Augen treibt.
Ja, sie beginnen zu glauben, dass es mehr gibt. Ein Mehr an Leben.
Und obwohl so viel dagegen spricht: das Leben lohnt sich und hat alle Liebe verdient.
 
Ein Mehr an Leben….
Auch Thomas beginnt zu glauben. Mein Herr und mein Gott - mehr kann ein Mensch nicht bekennen, wenn er Jesus begegnet.

Mit seiner Geschichte macht er zahllosen anderen Mut.
Mir jedenfalls ist Thomas sehr nahe.
Wenn ich mich nicht einfach vertrösten lassen will, habe ich Thomas an meiner Seite.
Wenn ich mich danach sehne, Jesus begreifen zu können, bin ich in den Spuren von Thomas.
Wie er will ich mich berühren lassen und will berühren.
Wie er brauche ich diesen lebendigen Jesus, der mir seine Narben zeigt.
Dieser Jesus ermutigt mich dazu, selber meine Narben offenzulegen, echt zu sein, mich nicht zu verstellen. Auf Tuchfühlung zu gehen mit Menschen, die mich lieben und die ich liebe.
Unsere Welt braucht es, dass die Grenzen zwischen Himmel und Erde, zwischen Tod und Leben fallen.
Ein Mehr an Leben – und es lohnt sich, obwohl so viel dagegen spricht.
Und ich möchte glauben, dass dies geschieht.
 
6.    Ich glaube
 
Ich kann es glauben.
Ich glaube, dass ein boxender Junge Tänzer wird.
Ich möchte glauben, dass jeder Mensch frei leben kann – echt und unverstellt. 
Ich klammere mich daran, dass das eines Tages geschieht.
 
Das Holz vom Klavier wird nicht zum Heizen gebraucht, sondern lässt Musik erklingen.
Die Arbeit laugt die Menschen nicht mehr aus.
Und alle tanzen auf der Straße mit Boxerstiefeln und Ballettschuhen.
 
Ich will glauben, dass die Welt nicht so bleiben muss, wie sie ist.
Ich möchte glauben, dass ein machtbesessener Präsident nicht einfach einen Krieg anzetteln kann,
sondern Parlament und Ministerinnen ihn stoppen.
Ich möchte glauben, dass die Welt nicht auf eine Terroristenbande wie die Hamas hört,
sondern auf die misshandelten jungen Frauen, die einfach nur tanzen wollten.
Ich klammere mich daran, dass das eines Tages geschieht.
 
Und ich spüre meine Narben und sehe deine Wunden.Und ich glaube, dass das wichtig ist.
Wir begreifen, dass wir Gottes Kinder sind und unser Leben hat alle Liebe verdient.

Lahme gehen, Blinde sehen, Tote stehen auf.
Und ja, Gottes Liebe zum Leben ist stärker als alles andere.
Das glaube ich.
Und das hoffe ich – mit Billy und Jack und mit Thomas.
Amen.

(1) Billy Elliot - I will dance. Aus dem Jahr 2000. Absolut empfehlenswert!
https://de.wikipedia.org/wiki/Billy_Elliot_%E2%80%93_I_Will_Dance

Freitag, 29. März 2024

Es schreit zum Himmel


Kreuzestod, Kindesmissbrauch und Einsamkeit

Predigt zu Matthäus 27, 33-56 

(mit Dank an die "Predigtbuddies" mit Holger Pyka für die Anregung (1)
und großem Dank an Detlev Zander, der seine Geschichte so offen und mutig erzählt!)

 Bibeltext s.u. (2)

Achtung: Triggerwarnung Gewalt und Missbrauch!

1. Der Schrei zum Himmel

Es schreit zum Himmel.
Da wird einer zum Gespött der Leute.
Angespuckt. Verhöhnt. Erniedrigt. Gequält.
Matthäus lässt nichts aus. Weder den Schmerz, noch die Einsamkeit.
Und auch nicht die brutale Gemeinheit aller drumherum.
Und wie der Teufel einst in der Wüste (Matthäus 4) verspotten sie ihn mit ihrem
„Wenn du der Sohn Gottes wärest, dann…“
Nein, es gibt kein „dann“ für Jesus. Nicht jetzt. Nicht hier am Kreuz.
Nicht mit der Dornenkrone und dem Blut und den Nägeln im Fleisch.
Ohnmächtig wie nur einer ohne Macht sein kann.
Ausgeliefert den Folterern und denen, die sich daran ergötzen.
Für diese ist das alles nicht mehr als ein Spektakel.
Draußen vor der Stadt und doch für alle sichtbar.
Da ist kein „es ist vollbracht“, kein Ausblick ins Paradies, kein „Vater, vergib“.
Nur nackte Gewalt. Sie schreit zum Himmel.
Und er, Jesus, schreit zum Himmel.
Wer hört ihn?

2. Das Schreien der Alleingelassenen

Es schreit zum Himmel.
Und ich höre das Schreien der Kinder, die in evangelischen Kinderheimen gefoltert wurden.
In unseren Häusern.
Ich höre Detlev Zander, der im SWR-Nachtcafé von Korntal erzählt.
Nicht weit weg von hier.
Wie er dort als 4jähriger seinen Peinigern ausgeliefert war  -
im Fahrradkeller, während oben drüber gebetet wurde.
Detlev schrie zum Himmel.
Und niemand hörte ihn.

Ich aber höre von ihm, wie er noch 40 Jahre später verhöhnt wird.
Du scheinst ja ein gutes Gedächtnis zu haben.
Du willst ja nur Geld.
Du willst unsere Kirche zerstören.

Diese Stimmen waren lauter als die von Detlev.
Sie wurden gehört. Detlev nicht.

Ja, es schreit zum Himmel.
Und es gehört zur nackten Gewalt, dass niemand hört.
Dann bist du allein mit deinem Leid.
Das ist Methode.

So sagte vor 3 Jahren Alexei Navalny (3):
"das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat,
was unser ganzes System solchen Menschen sagen will:
“Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger.”
Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist. (…)
Ja, die Sache mit der Einsamkeit ist sehr wichtig.
Es ist ein sehr wichtiges Ziel dieses Regimes. (….)
Wissen Sie, die Burschen, die den Gefangenentransport bewachen, sind tolle Jungs,
und meine Wächter im Gefängnis sind auch okay – aber sie reden nicht mit mir.
Es wurde ihnen wohl verboten. Sie sagen nur gelegentlich etwas Dienstliches.
Und das ist eben auch so eine Sache, damit ich mich ständig einsam fühle.“


3. Der Himmel reagiert

Es schreit zum Himmel.
Doch der Himmel hört auf Jesus und reagiert. Und zwar laut!
Er reagiert mit Erdbeben und zerbrechenden Felsen und offenen Gräbern.
Und mit Dunkelheit.

Im Talmud heisst es:
Wenn der König trauert, löscht er die Lampen aus.
Wenn Gott trauert, löscht er Sonne und Sterne.

Gott trauert. Und seine Trauer legt sich über das ganze Land.
Was da am Kreuz geschieht, bleibt nicht unbemerkt,
es kann nicht unbemerkt bleiben.

Unfassbares Leid - wir versuchen wegzusehen.
Es soll nicht bemerkt werden. Niemand soll hören.
Ja, die Hinrichtung von Jesus findet zwar öffentlich statt,
aber doch draußen vor der Stadt,
weit weg vom Leben innerhalb der Stadtmauern Jerusalems.
Dieser Tod hat mit uns nichts zu tun, will man damit sagen.
Er gehört nicht zu uns. Lasst ihn draußen.
Schaut hin, aber lasst es nicht in euch hinein. Nicht in euer Herz.


Doch Gott lässt das nicht zu.
Gott hört. Gott sieht. Und wird laut.
Wenn jemand auf so brutale Weise ums Leben kommt und gequält wird,
macht Gott das Licht aus. Lässt es donnern und blitzen.
Und die Gewalt da draußen trifft ins Mark, mitten ins Zentrum.
Der Vorhang zum Allerheiligsten zerreißt.
Wenn einem Menschen Leid zugefügt wird,
fällt die Grenze zwischen draussen und drinnen in sich zusammen.
 
Am Kreuz schreit es zum Himmel und Gott schreit stumm zurück:
ich bin da und sehe, was geschieht.
Ich bin da, bei meinem Kind.
Wenn es zum Himmel schreit, schreit auch der Himmel.
Und es bleibt nicht unbemerkt. Es wird aufgedeckt.

4. Gott hört und andere auch

Und das ist die Botschaft von Matthäus für mich heute.
Neben den vielen Botschaften vom Kreuz,
die in unseren Liedern und Traditionen immer wieder auch gesagt werden,
ist das heute die Botschaft für mich:
Unfassbare Grausamkeit, unfassbare Ungerechtigkeit bleibt nicht verborgen.

Gott sieht hin und tut was.
Gott ist da und trauert und schreit
und Gott sorgt dafür, dass auch wir hinsehen und handeln.


Ja, Matthäus erzählt so viel Brutales und Unversöhnliches.
Denn das ist das Kreuz auch und wir müssen aufpassen,
dass wir es nicht schön reden, auch wenn es kaum auszuhalten ist.

Aber Matthäus erzählt noch mehr.
Da sind nicht nur die Folterer und die Verhöhnenden und die johlende Menge.
Matthäus erzählt auch von Menschen, die anders sind,
die da sind und da bleiben, die hinhören und was tun.

Da ist einer, der will dem sterbenden Jesus helfen und ihm zu trinken geben.
Da ist einer, der erkennt, dass er Gottes Sohn vor sich hat und sagt es laut.
Und das sind die Frauen, Maria Magdalena und die anderen.
Die sind die ganze Zeit da. Bei ihm, ihrem Freund, ihrem Lehrer, ihrem Jesus.
Sie sind da und sie bleiben da und lassen sich nicht wegscheuchen.
Sie sind auch später noch da, als alle anderen weg sind.

Ja, wenn es zum Himmel schreit, schreit Gott nicht nur,
sondern macht dich fähig, mitmenschlich zu sein.
Gott macht, dass du nicht wegläufst, sondern bleibst.
Gott macht dich stark genug, den Schmerz auszuhalten.
Und die Geschichte zu erzählen, damit sie nicht vergessen wird.

5. Ich schreie mit

Es schreit zum Himmel und Gott schreit mit.
Und ich bitte Gott, dass er auch mich mitschreien lässt.
Dass Gott mich stark macht, da zu sein und hinzusehen.
Und menschlich zu sein.
Zu trinken zu geben und die Wahrheit laut zu sagen.
Ich bitte Gott darum, dass ich die Kraft und den Mut habe,
mich für die einzusetzen, deren Leid verborgen wird.

Menschen wie Detlev Zander brechen das Schweigen.
Sie sagen laut, was im Folterkeller des Kinderheimes passiert ist.
Sie klagen an, dass unsere Kirche das ermöglicht hat.
Sie lassen sich nicht aufhalten, als unsere Kirche das vertuschen will.
Sie lassen sich verspotten und verhöhnen und geben dennoch nicht auf.
Und sie lassen auch jetzt nicht zu, dass wir wegschauen oder ihr Leid kleinreden.
Es schreit zum Himmel und wir sollten das Schreien endlich hören.

Menschen wie Alexei Navalny brechen das Schweigen.
Sie lassen sich nicht mundtot machen.
Sie lassen sich nicht verbannen in die Einsamkeit.
Sie können nicht verhindern, dass das Regime sie tötet.
Aber sie lassen nicht zu, dass man ihr Sterben vertuscht.
Und andere Menschen stehen auf, ermutigt von ihnen, 
und gehen zur Trauerfeier und es kommen so viele,
dass die Polizei sie nicht wegschicken kann.
Sie schreien zum Himmel und wir sollen ihr Schreien hören - und mitschreien.

6. Gott schreitet ein

Gott schreit vom Himmel als es zum Himmel schreit. Am Kreuz.
Und die Ewige schreitet ein. Wenigstens bei diesem einen, bei Jesus.
Sie lässt ihn nicht im Tod.
Dieser Verhöhnte, dieser Gequälte, dieser Hingerichtete und Weggeworfene
ist und bleibt ihr Kind.
Der zu Unrecht Getötete wird rehabilitiert.
Jetzt gibt es kein „Wenn du der Sohn Gottes wärest, dann…“ mehr.
Sondern nur noch „Du bist mein geliebter Sohn, ohne wenn und aber.“
Endlich. Endlich.
Himmlische Gerechtigkeit.

Auch wir sind Gottes Kinder.
Aber: Diese himmlische Gerechtigkeit steht für uns noch aus.
Das Böse ist noch da.
Und so schreit Gerechtigkeit für den einen nach der Gerechtigkeit für alle,
die immer noch unschuldig leiden.
Und das bleibt erstmal so. Es schreit weiterhin zum Himmel.

Und darum ist es an uns, da zu sein,
- als Christen und Christinnen, als Mitmenschen.
Unter dem Kreuz.
Hinsehen, aufdecken, mitschreien.
Jetzt und heute und morgen und die nächsten Monate.
Das ist unsere Aufgabe. Die Botschaft vom Karfreitag:
Wir schreien zum Himmel für alle, die niemand hören will.
Und für sie rufen wir:
Mein Gott, warum hast du sie verlassen?
Wir sorgen dafür, dass ihr Schreien gehört wird.
Und der Himmel wird antworten.
Amen.


(1) https://www.podcast.de/podcast/2689573/die-predigtbuddies

(2) 

33Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. 35Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36Und sie saßen da und bewachten ihn. 37Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. 38Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! 41Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. 43Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?47Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.

51Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, 52und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf 53und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. 54Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! 55Und es waren viele Frauen da, die von ferne zusahen; die waren Jesus aus Galiläa nachgefolgt und hatten ihm gedient; 56unter ihnen war Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.

(3) https://sinnundgesellschaft.de/alexej-nawalnys-schlusswort/


Mittwoch, 13. März 2024

Augenblicke der Wahrheit

Von einem feigen Petrus und einer feigen Kirche und dass das nicht so bleiben muss

Predigt zu Lk 22*

Simon ist ein mutiger Mann.
Als Fischer direkt von den Booten weg zum Jünger von Jesus berufen.
Galiläer durch und durch – sein Akzent verrät das.
Und er erkannte früh, wer Jesus ist.
Dafür bekommt er von Jesus den Ehrentitel „Petrus“ – Stein, Fels.
Jesus traut ihm viel zu.

Auch jetzt ist Simon Petrus mutig, zumindest am Anfang.
Nachdem Jesus abgeführt wurde, wagt er sich als einziger nahe heran an den Ort,
wo Jesus verhört werden soll.
Mitten in den Hof des Hohepriesters setzt er sich zu Fremden ans Feuer.
Keiner seiner Freunde und Freundinnen ist bei ihm. Er ist alleine dort.
Aber das ignoriert er.
Denn er möchte aus der Nähe mitbekommen, wie es mit Jesus weitergeht.
Und ihm vielleicht sogar helfen?
Er hat es ja versprochen.

2. Augenblick der Wahrheit

Doch in was für eine Gesellschaft ist er da geraten?
Tuschelnde Stimmen. Blicke treffen ihn, die ihn genau ansehen – mustern – kritisch beäugen.
Das ist er: der Augenblick der Wahrheit.

Offensichtlich hat sich Petrus selbst übernommen –
er ist der ganzen Situation nicht gewachsen.
Zunächst tuschelt die Magd zu den anderen „Dieser war auch mit ihm.“
Petrus wehrt sich: „Frau, ich kenne ihn nicht“.
Und dann geht das noch zweimal so.
Er windet sich und leugnet selbst da, wo es nichts zu leugnen gibt.
Ein schöner Felsen ist das, der unter kritischen Blicken und tuschelndem Flüstern 
und ganz allein unter Fremden immer mehr ins Wanken kommt!
Dabei hätte Petrus es doch ahnen können:
Binnen weniger Tage hat sich seine Welt komplett verändert.
Binnen weniger Stunden sieht sein Leben ganz anders aus.
War er vor kurzem noch Jünger eines gefeierten Rabbis und Heilers,
hält die Politik seinen besten Freund nun für einen Verbrecher.
Und das ist auch für Petrus gefährlich.
Hat er es erst jetzt realisiert?

3. Feigheit

Und ja, da ist er, der Augenblick der Wahrheit.
Aus dem mutigen Simon ist der feige Petrus geworden.
In dem Moment, als er merkt, was passiert ist, ist es zu spät.
Jesus schaut ihn an. Der Hahn kräht.
Der Augenblick der Wahrheit tut weh. So weh, dass er sich nur noch schämt.
Allein im Hof mit der Wahrheit und mit sich selbst.
Was hab ich nur gemacht?

Ein Augenblick der Wahrheit ist für unsere Kirche der 25. Januar in diesem Jahr:
die ForuM-Studie wurde der Öffentlichkeit vorgestellt** -
die Studie, die das jahrzehntelange Versagen der evangelischen Kirchen in Deutschland
im Umgang mit sexualisierter Gewalt durch ihre Mitarbeiter dokumentiert.
Weggeschaut, ignoriert, weggehört, lächerlich gemacht, geschwiegen -
alles das haben viel zu viele in unserer Kirche gemacht,
obwohl Betroffene sich an sie gewandt haben.
Statt sich auf ihre Seite zu stellen und ihnen zu glauben,
hat die Kirche sogar die Täter geschützt.
Denn es waren ja die "netten", die "tollen", die "charismatischen" Pfarrer und Leiter -
"nein, der doch nicht. Das musst du dir ausgedacht haben.
Und wir müssen doch auch an ihn denken."

Und so ging es weiter und weiter und jahrzehntelang passierte - nichts.
"Wir sind nicht zuständig. Nein, ich bin es nicht."
Und auf einmal kräht der Hahn. Und Jesus schaut uns an.

Ja, unsere Kirche war feige
und hat ausgerechnet die unter uns in Stich gelassen, die ihr vertraut haben.
Und wir müssen sehr aufpassen, dass wir dasselbe nicht wieder tun.
Indem wir uns rausreden:
"ach, das war doch früher so. Heute haben wir das im Griff.
Und schließlich gab es das woanders ja auch. Das ist doch ein gesellschaftliches Problem.
Und in den Vereinen ist das noch viel schlimmer."

Und so gehen die Relativierungen weiter.
Dabei hat der Hahn schon längst gekräht
und jetzt muss Schluss sein mit diesen Ausflüchten und Verweigerungen.

4. Beistehen

Simon Petrus macht es uns vor.
Jetzt weicht er nicht mehr aus, sondern weint.
Große Worte, große Gesten helfen nicht weiter.
Nur noch Tränen. Nur noch echt sein. Nur noch da sein.
Auf dem Hof der Wahrheit.
Die eigene Feigheit anschauen.

Ich hätte ihm gewünscht, dass er da im Hof nicht alleine gewesen wäre.
Ich stelle mir vor, Maria Magdalena wäre auch dabei gewesen.
Am Feuer, als das Dienstmädchen über Simon spricht:
Der da war auch mit ihm zusammen!
Und Simon sagt: Ich kenne ihn gar nicht.

Und Maria Magdalena tritt ans Feuer und sagt:
Ich kenne ihn und dieser Jesus ist der gütigste Mensch, den ich kenne.
Und aus dem Schatten tritt Levi in den Feuerschein und sagt:
Ja, er hat mich dazu gebracht, dass ich all meinen Besitz geteilt habe!
Und so fasst sich auch Simon ans Herz und sagt:
Ihr habt recht, ich kenne ihn auch. Ich kenne ihn sehr gut.
Und noch besser kennt er mich. Und darüber bin ich froh.
Vielleicht hätte Simon das gebraucht?
Dass da noch andere mit ihm stehen und er nicht alleine ist?
Dann hätte er vielleicht seinen Mut wieder gefunden.

5. Andere stärken

Er hat es dann ja verstanden.
Das war ja der Auftrag von Jesus an ihn:
Stärke deine Brüder und Schwestern!
Steh ihnen bei. Stell dich an ihre Seite. Richte sie auf. Tu dich mit ihnen zusammen.

Und vielleicht brauchte er genau diesen Tiefpunkt im Hof des Hohepriesters:
Die Erkenntnis: Alleine bin ich nicht stark genug.
Ich bin auch nicht besser als die anderen.
Und trotzdem hält Jesus an mir fest.
Jesus schaut mich an, sieht mein Versagen, meinen Kampf, meine Tränen, meine Feigheit.
Trotzdem traut er mir zu, ein Felsen zu sein und andere zu stärken.
Und genau das muss ich nun tun.

Ja, Simon Petrus schämt sich aus tiefstem Herzen für seine Feigheit
und sein Wegducken und gerade darin ist er ein Vorbild.
Er hört schließlich auf, feige zu sein.
Und geht dafür sogar ins Gefängnis.

6. Augenblicke der Wahrheit

Der Augenblick der Wahrheit kann dich einsam machen.
Der Augenblick der Wahrheit treibt dir die Tränen der Scham in die Augen.
Der Augenblick der Wahrheit kann dir aber auch die Augen öffnen
und du weißt, was zu tun ist.

Für unsere Kirche ist der Augenblick der Wahrheit gekommen.
Und auch wir wissen, was zu tun ist.
Zuhören, aufdecken, hinsehen, ehrlich sein,
und Entschädigung zahlen.
Und alles dafür tun, dass Betroffene von Gewalt nie wieder in Stich gelassen werden.
Das ist bei weitem noch nicht alles. Aber es ist dran.
Es ist dran, endlich mit der Feigheit aufzuhören.
Das Gute ist: wir sind nicht alleine unterwegs. Und Jesus traut uns das zu.

7. Mutig sein

Der Augenblick der Wahrheit führt ins Licht.
Für Simon Petrus ist die Nacht vorbei.
Der Morgen bricht an. Rosarot.
Der letzte Blick von Jesus gilt ihm.
Und er weiß, dass er nicht allein ist.

Und auch du bist dann nicht allein.
Jesus sieht dich an.  
Und auch dein Morgen bricht an. Rosarot.

Und da sind die Schwestern und Brüder,
die du stark machst und die dich stark machen.
Zusammen tretet ihr ein für alles, was unseren Freund und Bruder Jesus ausmacht:
für seine Liebe zu den Menschen.
In den nächsten Wochen und Monaten wird euer Mut gebraucht.
Und ihr seid nicht allein.

Mit euch ist der Friede, welcher höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

*) Lukas 22, 24 - 34 und 54 - 62

Die Jünger begannen darüber zu streiten, wer von ihnen der Wichtigste war.
Aber Jesus sagte zu ihnen::
»Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Machthaber lassen sich Wohltäter nennen.
Aber ihr sollt nicht so sein:
Sondern wer unter euch der Wichtigste ist, soll sein wie der Geringste –,
und wer führen will, wie einer, der dient.
Wer ist denn wichtiger? Der zu Tisch liegt und isst oder der ihn bedient?
Natürlich der zu Tisch liegt! Doch ich bin unter euch wie einer, der dient.
Ihr habt mit mir durchgehalten, wann immer ich auf die Probe gestellt wurde.
So gebe ich euch Anteil an der Herrschaft, die mein Vater mir übertragen hat:
In meinem Reich sollt ihr an meinem Tischessen und trinken.
Ihr sollt auf Thronen sitzen und über die zwölf Stämme Israels Gericht halten.«

Simon, Simon! Sieh doch:
Der Satan hat sich von Gott erbeten, euch durchzusieben wie den Weizen!
Aber ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhört.
Wenn du dann wieder zu mir zurückgekehrt bist, sollst du deine Brüder und Schwestern stärken.«

Petrus entgegnete Jesus:
»Herr! Ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis zu gehen – ja, sogar mit dir zu sterben!«
Aber Jesus erwiderte:
»Das sage ich dir, Petrus:
Noch bevor heute der Hahn kräht, wirst du dreimal abstreiten, dass du mich kennst.«
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Die Männer nahmen Jesus fest, führten ihn ab
und brachten ihn in das Haus des Hohepriesters.
Petrus folgte in einiger Entfernung.
In der Mitte des Hofes brannte ein Feuer, um das sich einige Leute versammelt hatten.
Petrus setzte sich mitten unter sie.
Ein Dienstmädchen sah Petrus dort im Schein des Feuers sitzen.
Sie musterte ihn aufmerksam und sagte: »Der da war auch mit ihm zusammen!«
Petrus stritt das ab und sagte: »Ich kenne ihn gar nicht, Frau!«
Kurz darauf sah ihn jemand anderes und sagte: »Du gehörst auch zu denen!«
Aber Petrus erwiderte: »Mensch, ich doch nicht!«
Etwa eine Stunde später behauptete ein anderer:
»Ganz bestimmt gehört er zu denen! Er kommt doch auch aus Galiläa.«
Aber Petrus stritt es wieder ab: »Mensch, ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.«
Im selben Moment, während er noch redete, krähte ein Hahn.
Der Herr drehte sich um und blickte Petrus an.
Da erinnerte sich Petrus an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte:
»Noch bevor heute der Hahn kräht, wirst du dreimal abstreiten, mich zu kennen.«
Und Petrus lief hinaus und weinte heftig.


**) Siehe www.forum-studie.de