Montag, 8. April 2024

Ein Mehr an Leben - oder was Billy Elliot, Jack, Thomas und Jesus verbindet....


Predigt zu Johannes 20, 19-21.24-29

Es war Abend geworden an diesem ersten Wochentag nach dem Sabbat.

Die Jünger waren beieinander und hatten die Türen fest verschlossen.

Denn sie hatten Angst vor den Behörden.

Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!«

Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite.

Die Jünger freuten sich sehr, als sie den Herrn sahen.

 

Thomas, der auch Zwilling genannt wird, gehörte zum Kreis der Zwölf.

Er war nicht bei ihnen gewesen, als Jesus gekommen war.

Die anderen Jünger berichteten ihm: »Wir haben den Herrn gesehen!«

Er entgegnete ihnen:

»Erst will ich selbst die Wunden von den Nägeln an seinen Händen sehen.

Mit meinem Finger will ich sie fühlen.

Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen.

Sonst kann ich das nicht glauben!«

 

Acht Tage später waren die Jünger wieder beieinander.

Diesmal war Thomas bei ihnen.

Wieder waren die Türen verschlossen.

Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!«

Dann sagte er zu Thomas:

»Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an.

Streck deine Hand aus und leg sie in die Wunde an meiner Seite.

Sei nicht länger ungläubig, sondern komm zum Glauben!«

Thomas antwortete: »Mein Herr und mein Gott!«

Da sagte Jesus zu ihm: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast.

Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!«


1.    Jack kann es nicht glauben
 
Jack kann es nicht glauben.
Sein Sohn Billy, 11 Jahre alt, will Balletttänzer werden!
Alle Männer der Familie Elliot haben boxen gelernt. Die Zeiten sind hart. In den 80er toben die Arbeitskämpfe in Durham. Die Zechen sollen geschlossen werden. Sie haben Angst um ihre Arbeitsplätze. Und darum streiken sie und haben eigentlich nichts, außer ein paar Cent.
Aber boxen – das soll jeder Junge können. Schließlich wird einem nichts geschenkt und dann muss man sich wenigstens wehren können. Also geben die Väter von Durham ihre letzten 50 Cent, damit ihre Söhne in der Boxhalle trainieren können, so wie sie früher.
 
Eines Tages kommt Mrs Wilkinson, die Balletlehrerin, zu Jack und schlägt ihm vor, Billy auf die Royal Ballet School zu schicken. Billy hatte schon eine Weile bei ihr gelernt, ohne dass Jack es wusste.

Jack ist fassungslos.
Während Billys großer Bruder Tony von der Polizei zusammenschlagen wird, lernt Billy ausgerechnet: tanzen. Heimlich. Statt zu boxen. "Du hast dich um Grandma zu kümmern, während wir kämpfen!" - brüllt Jack seinen Sohn an. Und er tobt und schlägt um sich und seine Fäuste treffen Billy.
 
Jack kann nicht glauben, dass Billy ein Tänzer ist. Es passt nicht in sein Bild von Billy,
es passt nicht zu dem, was sie als Familie durchmachen.
Es passt nicht dazu, dass sie das von der toten Mutter geerbten Klavier zerhacken müssen, um Brennholz zu haben. Es passt nicht zur Brutalität der Polizei und nicht zur Dunkelheit der Zechen. Es passt nicht zum Ruß, der über Durham liegt, und den Schnee in ein matschiges Grau verwandelt. (1)
 
2.    Thomas kann es nicht glauben
 
Thomas kann es nicht glauben.
Jesus, der Freund, der Lehrer, soll leben. Die anderen Jünger und Jüngerinnen haben ihn angeblich gesehen. Der so elend am Kreuz starb und das vor allen Augen – der soll leben? Und er wurde doch dann in das Grab von Josef von Arimathäus gelegt… Das passt nicht.
Es passt nicht in die Welt, die Thomas kennt. Es passt nicht zum unerbittlichen Handeln der römischen Soldaten. Es passt nicht zum Blut, zum Schmerz, zum Grau der Tage. Nicht zu den enttäuschten Gesichtern derer, die gehofft hatten, dass nun endlich alles anders wird. Und immer noch verkriechen sie sich hinter dicken Mauern.
Dass Jesus leben soll, das passt nicht zu den Tränen der Frauen, die die ganze Zeit unter dem Kreuz waren. Nicht zu der Angst, die die Jesus-Freunde immer noch haben - dass es auch sie treffen könnte.
Thomas ist kein Ungläubiger, auch wenn er oft so genannt wird. Aber er ist auch kein Leichtgläubiger, kann nicht einfach so glauben, was seine Freunde ihm erzählen.
 
Ich verstehe Thomas gut.
Jesus lebt? Da müsste doch die Welt auf dem Kopf stehen, alles anders sein.
Die Angst verflogen - alle Türen offen. Die Tränen getrocknet. Kein Tod mehr. Kein Leid mehr.
Aber die Welt ist weiterhin wie sie ist. Die Türen sind und bleiben verschlossen.
Wieso merke ich nichts davon, dass Jesus lebt?
 
3.    Thomas begreift
 
Und plötzlich ist er da, der Auferstandene.
Steht vor Thomas - so wie 8 Tage vorher bei den anderen. Steht vor ihm - offensichtlich können Mauern und verschlossene Türen ihn nicht draußen halten. Es gibt keine Grenzen mehr, kein drinnen und draußen, Himmel und Erde verschwimmen. Wunden und Wunder gehen ineinander über. Die Schwelle zwischen Tod und Leben überschritten. Die Welt, wie Thomas sie kannte, bröckelt.

Aber es reicht noch nicht. „Erst will ich selbst die Löcher von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen.“
Zeigt mir seine Narben, sagt Thomas zu den anderen. Lasst mich begreifen, was geschehen ist.
Lasst es mich spüren. Berühren. Fleisch und Blut, Haut und Haar.
Kein Geist. Sondern Mensch. Der Mensch Jesus.
 
Und Jesus lässt es zu. Er zeigt Thomas seine Narben. Und das genügt.
Jesus zeigt sich ungeschützt, mit all den Spuren, die das Leben und der Tod hinterlassen haben.
Zeigt sich, wie er ist. Unverstellt. Echt.
Und das lässt Thomas glauben.
Jesus ist kein Geist, der mit ihm nichts zu tun hat.
Sondern vielleicht sogar mehr Mensch denn je und damit ganz nah.
 
4.    Jack begreift
 
Und plötzlich ist er da. Billy, der 11jährige Junge, steht in der Boxerhalle vor seinem Vater. Beide haben nicht damit gerechnet, dass sie sich hier treffen. Draußen und drinnen verschwimmen. Sie sind erschrocken. Wird der Vater wieder prügeln?
 
Billy fängt an zu tanzen. Alles lässt er raus - seine Wut, seine Trauer, seine Angst, seine Tränen.
Er tanzt wie noch nie. Und Jack begreift auf einmal, wen er da vor sich hat.
Es ist Billy, den er doch von klein auf kennt und liebt und den er doch nun zum ersten Mal richtig sieht.
Mit seinen Narben auf der Seele und seiner Wut im Bauch. Er lässt sich berühren, obwohl er nur zuschaut.
Denn Billy hat sich gezeigt. Ohne Mauern. Ohne Panzer. Ungeschützt, unverstellt, echt.
 
5.    Ein Mehr an Leben
 
Damit ist der Damm gebrochen. Jack erkennt, was Billy braucht.
Und für die ganze Familie beginnt ein neues Leben.
Immer noch voller Tränen und Zweifel. Nicht wissend, ob Billy es schaffen wird.
Sie gehören zusammen und niemand kann sie auseinander treiben, noch nicht mal das Grau in Grau von Durham oder die gnadenlose Dunkelheit der Zechen.
Billy wird ein großer Tänzer, der die Herzen berührt und seinem Vater die Tränen in die Augen treibt.
Ja, sie beginnen zu glauben, dass es mehr gibt. Ein Mehr an Leben.
Und obwohl so viel dagegen spricht: das Leben lohnt sich und hat alle Liebe verdient.
 
Ein Mehr an Leben….
Auch Thomas beginnt zu glauben. Mein Herr und mein Gott - mehr kann ein Mensch nicht bekennen, wenn er Jesus begegnet.

Mit seiner Geschichte macht er zahllosen anderen Mut.
Mir jedenfalls ist Thomas sehr nahe.
Wenn ich mich nicht einfach vertrösten lassen will, habe ich Thomas an meiner Seite.
Wenn ich mich danach sehne, Jesus begreifen zu können, bin ich in den Spuren von Thomas.
Wie er will ich mich berühren lassen und will berühren.
Wie er brauche ich diesen lebendigen Jesus, der mir seine Narben zeigt.
Dieser Jesus ermutigt mich dazu, selber meine Narben offenzulegen, echt zu sein, mich nicht zu verstellen. Auf Tuchfühlung zu gehen mit Menschen, die mich lieben und die ich liebe.
Unsere Welt braucht es, dass die Grenzen zwischen Himmel und Erde, zwischen Tod und Leben fallen.
Ein Mehr an Leben – und es lohnt sich, obwohl so viel dagegen spricht.
Und ich möchte glauben, dass dies geschieht.
 
6.    Ich glaube
 
Ich kann es glauben.
Ich glaube, dass ein boxender Junge Tänzer wird.
Ich möchte glauben, dass jeder Mensch frei leben kann – echt und unverstellt. 
Ich klammere mich daran, dass das eines Tages geschieht.
 
Das Holz vom Klavier wird nicht zum Heizen gebraucht, sondern lässt Musik erklingen.
Die Arbeit laugt die Menschen nicht mehr aus.
Und alle tanzen auf der Straße mit Boxerstiefeln und Ballettschuhen.
 
Ich will glauben, dass die Welt nicht so bleiben muss, wie sie ist.
Ich möchte glauben, dass ein machtbesessener Präsident nicht einfach einen Krieg anzetteln kann,
sondern Parlament und Ministerinnen ihn stoppen.
Ich möchte glauben, dass die Welt nicht auf eine Terroristenbande wie die Hamas hört,
sondern auf die misshandelten jungen Frauen, die einfach nur tanzen wollten.
Ich klammere mich daran, dass das eines Tages geschieht.
 
Und ich spüre meine Narben und sehe deine Wunden.Und ich glaube, dass das wichtig ist.
Wir begreifen, dass wir Gottes Kinder sind und unser Leben hat alle Liebe verdient.

Lahme gehen, Blinde sehen, Tote stehen auf.
Und ja, Gottes Liebe zum Leben ist stärker als alles andere.
Das glaube ich.
Und das hoffe ich – mit Billy und Jack und mit Thomas.
Amen.

(1) Billy Elliot - I will dance. Aus dem Jahr 2000. Absolut empfehlenswert!
https://de.wikipedia.org/wiki/Billy_Elliot_%E2%80%93_I_Will_Dance

Freitag, 29. März 2024

Es schreit zum Himmel


Kreuzestod, Kindesmissbrauch und Einsamkeit

Predigt zu Matthäus 27, 33-56 

(mit Dank an die "Predigtbuddies" mit Holger Pyka für die Anregung (1)
und großem Dank an Detlev Zander, der seine Geschichte so offen und mutig erzählt!)

 Bibeltext s.u. (2)

Achtung: Triggerwarnung Gewalt und Missbrauch!

1. Der Schrei zum Himmel

Es schreit zum Himmel.
Da wird einer zum Gespött der Leute.
Angespuckt. Verhöhnt. Erniedrigt. Gequält.
Matthäus lässt nichts aus. Weder den Schmerz, noch die Einsamkeit.
Und auch nicht die brutale Gemeinheit aller drumherum.
Und wie der Teufel einst in der Wüste (Matthäus 4) verspotten sie ihn mit ihrem
„Wenn du der Sohn Gottes wärest, dann…“
Nein, es gibt kein „dann“ für Jesus. Nicht jetzt. Nicht hier am Kreuz.
Nicht mit der Dornenkrone und dem Blut und den Nägeln im Fleisch.
Ohnmächtig wie nur einer ohne Macht sein kann.
Ausgeliefert den Folterern und denen, die sich daran ergötzen.
Für diese ist das alles nicht mehr als ein Spektakel.
Draußen vor der Stadt und doch für alle sichtbar.
Da ist kein „es ist vollbracht“, kein Ausblick ins Paradies, kein „Vater, vergib“.
Nur nackte Gewalt. Sie schreit zum Himmel.
Und er, Jesus, schreit zum Himmel.
Wer hört ihn?

2. Das Schreien der Alleingelassenen

Es schreit zum Himmel.
Und ich höre das Schreien der Kinder, die in evangelischen Kinderheimen gefoltert wurden.
In unseren Häusern.
Ich höre Detlev Zander, der im SWR-Nachtcafé von Korntal erzählt.
Nicht weit weg von hier.
Wie er dort als 4jähriger seinen Peinigern ausgeliefert war  -
im Fahrradkeller, während oben drüber gebetet wurde.
Detlev schrie zum Himmel.
Und niemand hörte ihn.

Ich aber höre von ihm, wie er noch 40 Jahre später verhöhnt wird.
Du scheinst ja ein gutes Gedächtnis zu haben.
Du willst ja nur Geld.
Du willst unsere Kirche zerstören.

Diese Stimmen waren lauter als die von Detlev.
Sie wurden gehört. Detlev nicht.

Ja, es schreit zum Himmel.
Und es gehört zur nackten Gewalt, dass niemand hört.
Dann bist du allein mit deinem Leid.
Das ist Methode.

So sagte vor 3 Jahren Alexei Navalny (3):
"das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat,
was unser ganzes System solchen Menschen sagen will:
“Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger.”
Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist. (…)
Ja, die Sache mit der Einsamkeit ist sehr wichtig.
Es ist ein sehr wichtiges Ziel dieses Regimes. (….)
Wissen Sie, die Burschen, die den Gefangenentransport bewachen, sind tolle Jungs,
und meine Wächter im Gefängnis sind auch okay – aber sie reden nicht mit mir.
Es wurde ihnen wohl verboten. Sie sagen nur gelegentlich etwas Dienstliches.
Und das ist eben auch so eine Sache, damit ich mich ständig einsam fühle.“


3. Der Himmel reagiert

Es schreit zum Himmel.
Doch der Himmel hört auf Jesus und reagiert. Und zwar laut!
Er reagiert mit Erdbeben und zerbrechenden Felsen und offenen Gräbern.
Und mit Dunkelheit.

Im Talmud heisst es:
Wenn der König trauert, löscht er die Lampen aus.
Wenn Gott trauert, löscht er Sonne und Sterne.

Gott trauert. Und seine Trauer legt sich über das ganze Land.
Was da am Kreuz geschieht, bleibt nicht unbemerkt,
es kann nicht unbemerkt bleiben.

Unfassbares Leid - wir versuchen wegzusehen.
Es soll nicht bemerkt werden. Niemand soll hören.
Ja, die Hinrichtung von Jesus findet zwar öffentlich statt,
aber doch draußen vor der Stadt,
weit weg vom Leben innerhalb der Stadtmauern Jerusalems.
Dieser Tod hat mit uns nichts zu tun, will man damit sagen.
Er gehört nicht zu uns. Lasst ihn draußen.
Schaut hin, aber lasst es nicht in euch hinein. Nicht in euer Herz.


Doch Gott lässt das nicht zu.
Gott hört. Gott sieht. Und wird laut.
Wenn jemand auf so brutale Weise ums Leben kommt und gequält wird,
macht Gott das Licht aus. Lässt es donnern und blitzen.
Und die Gewalt da draußen trifft ins Mark, mitten ins Zentrum.
Der Vorhang zum Allerheiligsten zerreißt.
Wenn einem Menschen Leid zugefügt wird,
fällt die Grenze zwischen draussen und drinnen in sich zusammen.
 
Am Kreuz schreit es zum Himmel und Gott schreit stumm zurück:
ich bin da und sehe, was geschieht.
Ich bin da, bei meinem Kind.
Wenn es zum Himmel schreit, schreit auch der Himmel.
Und es bleibt nicht unbemerkt. Es wird aufgedeckt.

4. Gott hört und andere auch

Und das ist die Botschaft von Matthäus für mich heute.
Neben den vielen Botschaften vom Kreuz,
die in unseren Liedern und Traditionen immer wieder auch gesagt werden,
ist das heute die Botschaft für mich:
Unfassbare Grausamkeit, unfassbare Ungerechtigkeit bleibt nicht verborgen.

Gott sieht hin und tut was.
Gott ist da und trauert und schreit
und Gott sorgt dafür, dass auch wir hinsehen und handeln.


Ja, Matthäus erzählt so viel Brutales und Unversöhnliches.
Denn das ist das Kreuz auch und wir müssen aufpassen,
dass wir es nicht schön reden, auch wenn es kaum auszuhalten ist.

Aber Matthäus erzählt noch mehr.
Da sind nicht nur die Folterer und die Verhöhnenden und die johlende Menge.
Matthäus erzählt auch von Menschen, die anders sind,
die da sind und da bleiben, die hinhören und was tun.

Da ist einer, der will dem sterbenden Jesus helfen und ihm zu trinken geben.
Da ist einer, der erkennt, dass er Gottes Sohn vor sich hat und sagt es laut.
Und das sind die Frauen, Maria Magdalena und die anderen.
Die sind die ganze Zeit da. Bei ihm, ihrem Freund, ihrem Lehrer, ihrem Jesus.
Sie sind da und sie bleiben da und lassen sich nicht wegscheuchen.
Sie sind auch später noch da, als alle anderen weg sind.

Ja, wenn es zum Himmel schreit, schreit Gott nicht nur,
sondern macht dich fähig, mitmenschlich zu sein.
Gott macht, dass du nicht wegläufst, sondern bleibst.
Gott macht dich stark genug, den Schmerz auszuhalten.
Und die Geschichte zu erzählen, damit sie nicht vergessen wird.

5. Ich schreie mit

Es schreit zum Himmel und Gott schreit mit.
Und ich bitte Gott, dass er auch mich mitschreien lässt.
Dass Gott mich stark macht, da zu sein und hinzusehen.
Und menschlich zu sein.
Zu trinken zu geben und die Wahrheit laut zu sagen.
Ich bitte Gott darum, dass ich die Kraft und den Mut habe,
mich für die einzusetzen, deren Leid verborgen wird.

Menschen wie Detlev Zander brechen das Schweigen.
Sie sagen laut, was im Folterkeller des Kinderheimes passiert ist.
Sie klagen an, dass unsere Kirche das ermöglicht hat.
Sie lassen sich nicht aufhalten, als unsere Kirche das vertuschen will.
Sie lassen sich verspotten und verhöhnen und geben dennoch nicht auf.
Und sie lassen auch jetzt nicht zu, dass wir wegschauen oder ihr Leid kleinreden.
Es schreit zum Himmel und wir sollten das Schreien endlich hören.

Menschen wie Alexei Navalny brechen das Schweigen.
Sie lassen sich nicht mundtot machen.
Sie lassen sich nicht verbannen in die Einsamkeit.
Sie können nicht verhindern, dass das Regime sie tötet.
Aber sie lassen nicht zu, dass man ihr Sterben vertuscht.
Und andere Menschen stehen auf, ermutigt von ihnen, 
und gehen zur Trauerfeier und es kommen so viele,
dass die Polizei sie nicht wegschicken kann.
Sie schreien zum Himmel und wir sollen ihr Schreien hören - und mitschreien.

6. Gott schreitet ein

Gott schreit vom Himmel als es zum Himmel schreit. Am Kreuz.
Und die Ewige schreitet ein. Wenigstens bei diesem einen, bei Jesus.
Sie lässt ihn nicht im Tod.
Dieser Verhöhnte, dieser Gequälte, dieser Hingerichtete und Weggeworfene
ist und bleibt ihr Kind.
Der zu Unrecht Getötete wird rehabilitiert.
Jetzt gibt es kein „Wenn du der Sohn Gottes wärest, dann…“ mehr.
Sondern nur noch „Du bist mein geliebter Sohn, ohne wenn und aber.“
Endlich. Endlich.
Himmlische Gerechtigkeit.

Auch wir sind Gottes Kinder.
Aber: Diese himmlische Gerechtigkeit steht für uns noch aus.
Das Böse ist noch da.
Und so schreit Gerechtigkeit für den einen nach der Gerechtigkeit für alle,
die immer noch unschuldig leiden.
Und das bleibt erstmal so. Es schreit weiterhin zum Himmel.

Und darum ist es an uns, da zu sein,
- als Christen und Christinnen, als Mitmenschen.
Unter dem Kreuz.
Hinsehen, aufdecken, mitschreien.
Jetzt und heute und morgen und die nächsten Monate.
Das ist unsere Aufgabe. Die Botschaft vom Karfreitag:
Wir schreien zum Himmel für alle, die niemand hören will.
Und für sie rufen wir:
Mein Gott, warum hast du sie verlassen?
Wir sorgen dafür, dass ihr Schreien gehört wird.
Und der Himmel wird antworten.
Amen.


(1) https://www.podcast.de/podcast/2689573/die-predigtbuddies

(2) 

33Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. 35Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36Und sie saßen da und bewachten ihn. 37Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. 38Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! 41Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. 43Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?47Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.

51Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, 52und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf 53und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. 54Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! 55Und es waren viele Frauen da, die von ferne zusahen; die waren Jesus aus Galiläa nachgefolgt und hatten ihm gedient; 56unter ihnen war Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.

(3) https://sinnundgesellschaft.de/alexej-nawalnys-schlusswort/


Mittwoch, 13. März 2024

Augenblicke der Wahrheit

Von einem feigen Petrus und einer feigen Kirche und dass das nicht so bleiben muss

Predigt zu Lk 22*

Simon ist ein mutiger Mann.
Als Fischer direkt von den Booten weg zum Jünger von Jesus berufen.
Galiläer durch und durch – sein Akzent verrät das.
Und er erkannte früh, wer Jesus ist.
Dafür bekommt er von Jesus den Ehrentitel „Petrus“ – Stein, Fels.
Jesus traut ihm viel zu.

Auch jetzt ist Simon Petrus mutig, zumindest am Anfang.
Nachdem Jesus abgeführt wurde, wagt er sich als einziger nahe heran an den Ort,
wo Jesus verhört werden soll.
Mitten in den Hof des Hohepriesters setzt er sich zu Fremden ans Feuer.
Keiner seiner Freunde und Freundinnen ist bei ihm. Er ist alleine dort.
Aber das ignoriert er.
Denn er möchte aus der Nähe mitbekommen, wie es mit Jesus weitergeht.
Und ihm vielleicht sogar helfen?
Er hat es ja versprochen.

2. Augenblick der Wahrheit

Doch in was für eine Gesellschaft ist er da geraten?
Tuschelnde Stimmen. Blicke treffen ihn, die ihn genau ansehen – mustern – kritisch beäugen.
Das ist er: der Augenblick der Wahrheit.

Offensichtlich hat sich Petrus selbst übernommen –
er ist der ganzen Situation nicht gewachsen.
Zunächst tuschelt die Magd zu den anderen „Dieser war auch mit ihm.“
Petrus wehrt sich: „Frau, ich kenne ihn nicht“.
Und dann geht das noch zweimal so.
Er windet sich und leugnet selbst da, wo es nichts zu leugnen gibt.
Ein schöner Felsen ist das, der unter kritischen Blicken und tuschelndem Flüstern 
und ganz allein unter Fremden immer mehr ins Wanken kommt!
Dabei hätte Petrus es doch ahnen können:
Binnen weniger Tage hat sich seine Welt komplett verändert.
Binnen weniger Stunden sieht sein Leben ganz anders aus.
War er vor kurzem noch Jünger eines gefeierten Rabbis und Heilers,
hält die Politik seinen besten Freund nun für einen Verbrecher.
Und das ist auch für Petrus gefährlich.
Hat er es erst jetzt realisiert?

3. Feigheit

Und ja, da ist er, der Augenblick der Wahrheit.
Aus dem mutigen Simon ist der feige Petrus geworden.
In dem Moment, als er merkt, was passiert ist, ist es zu spät.
Jesus schaut ihn an. Der Hahn kräht.
Der Augenblick der Wahrheit tut weh. So weh, dass er sich nur noch schämt.
Allein im Hof mit der Wahrheit und mit sich selbst.
Was hab ich nur gemacht?

Ein Augenblick der Wahrheit ist für unsere Kirche der 25. Januar in diesem Jahr:
die ForuM-Studie wurde der Öffentlichkeit vorgestellt** -
die Studie, die das jahrzehntelange Versagen der evangelischen Kirchen in Deutschland
im Umgang mit sexualisierter Gewalt durch ihre Mitarbeiter dokumentiert.
Weggeschaut, ignoriert, weggehört, lächerlich gemacht, geschwiegen -
alles das haben viel zu viele in unserer Kirche gemacht,
obwohl Betroffene sich an sie gewandt haben.
Statt sich auf ihre Seite zu stellen und ihnen zu glauben,
hat die Kirche sogar die Täter geschützt.
Denn es waren ja die "netten", die "tollen", die "charismatischen" Pfarrer und Leiter -
"nein, der doch nicht. Das musst du dir ausgedacht haben.
Und wir müssen doch auch an ihn denken."

Und so ging es weiter und weiter und jahrzehntelang passierte - nichts.
"Wir sind nicht zuständig. Nein, ich bin es nicht."
Und auf einmal kräht der Hahn. Und Jesus schaut uns an.

Ja, unsere Kirche war feige
und hat ausgerechnet die unter uns in Stich gelassen, die ihr vertraut haben.
Und wir müssen sehr aufpassen, dass wir dasselbe nicht wieder tun.
Indem wir uns rausreden:
"ach, das war doch früher so. Heute haben wir das im Griff.
Und schließlich gab es das woanders ja auch. Das ist doch ein gesellschaftliches Problem.
Und in den Vereinen ist das noch viel schlimmer."

Und so gehen die Relativierungen weiter.
Dabei hat der Hahn schon längst gekräht
und jetzt muss Schluss sein mit diesen Ausflüchten und Verweigerungen.

4. Beistehen

Simon Petrus macht es uns vor.
Jetzt weicht er nicht mehr aus, sondern weint.
Große Worte, große Gesten helfen nicht weiter.
Nur noch Tränen. Nur noch echt sein. Nur noch da sein.
Auf dem Hof der Wahrheit.
Die eigene Feigheit anschauen.

Ich hätte ihm gewünscht, dass er da im Hof nicht alleine gewesen wäre.
Ich stelle mir vor, Maria Magdalena wäre auch dabei gewesen.
Am Feuer, als das Dienstmädchen über Simon spricht:
Der da war auch mit ihm zusammen!
Und Simon sagt: Ich kenne ihn gar nicht.

Und Maria Magdalena tritt ans Feuer und sagt:
Ich kenne ihn und dieser Jesus ist der gütigste Mensch, den ich kenne.
Und aus dem Schatten tritt Levi in den Feuerschein und sagt:
Ja, er hat mich dazu gebracht, dass ich all meinen Besitz geteilt habe!
Und so fasst sich auch Simon ans Herz und sagt:
Ihr habt recht, ich kenne ihn auch. Ich kenne ihn sehr gut.
Und noch besser kennt er mich. Und darüber bin ich froh.
Vielleicht hätte Simon das gebraucht?
Dass da noch andere mit ihm stehen und er nicht alleine ist?
Dann hätte er vielleicht seinen Mut wieder gefunden.

5. Andere stärken

Er hat es dann ja verstanden.
Das war ja der Auftrag von Jesus an ihn:
Stärke deine Brüder und Schwestern!
Steh ihnen bei. Stell dich an ihre Seite. Richte sie auf. Tu dich mit ihnen zusammen.

Und vielleicht brauchte er genau diesen Tiefpunkt im Hof des Hohepriesters:
Die Erkenntnis: Alleine bin ich nicht stark genug.
Ich bin auch nicht besser als die anderen.
Und trotzdem hält Jesus an mir fest.
Jesus schaut mich an, sieht mein Versagen, meinen Kampf, meine Tränen, meine Feigheit.
Trotzdem traut er mir zu, ein Felsen zu sein und andere zu stärken.
Und genau das muss ich nun tun.

Ja, Simon Petrus schämt sich aus tiefstem Herzen für seine Feigheit
und sein Wegducken und gerade darin ist er ein Vorbild.
Er hört schließlich auf, feige zu sein.
Und geht dafür sogar ins Gefängnis.

6. Augenblicke der Wahrheit

Der Augenblick der Wahrheit kann dich einsam machen.
Der Augenblick der Wahrheit treibt dir die Tränen der Scham in die Augen.
Der Augenblick der Wahrheit kann dir aber auch die Augen öffnen
und du weißt, was zu tun ist.

Für unsere Kirche ist der Augenblick der Wahrheit gekommen.
Und auch wir wissen, was zu tun ist.
Zuhören, aufdecken, hinsehen, ehrlich sein,
und Entschädigung zahlen.
Und alles dafür tun, dass Betroffene von Gewalt nie wieder in Stich gelassen werden.
Das ist bei weitem noch nicht alles. Aber es ist dran.
Es ist dran, endlich mit der Feigheit aufzuhören.
Das Gute ist: wir sind nicht alleine unterwegs. Und Jesus traut uns das zu.

7. Mutig sein

Der Augenblick der Wahrheit führt ins Licht.
Für Simon Petrus ist die Nacht vorbei.
Der Morgen bricht an. Rosarot.
Der letzte Blick von Jesus gilt ihm.
Und er weiß, dass er nicht allein ist.

Und auch du bist dann nicht allein.
Jesus sieht dich an.  
Und auch dein Morgen bricht an. Rosarot.

Und da sind die Schwestern und Brüder,
die du stark machst und die dich stark machen.
Zusammen tretet ihr ein für alles, was unseren Freund und Bruder Jesus ausmacht:
für seine Liebe zu den Menschen.
In den nächsten Wochen und Monaten wird euer Mut gebraucht.
Und ihr seid nicht allein.

Mit euch ist der Friede, welcher höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

*) Lukas 22, 24 - 34 und 54 - 62

Die Jünger begannen darüber zu streiten, wer von ihnen der Wichtigste war.
Aber Jesus sagte zu ihnen::
»Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Machthaber lassen sich Wohltäter nennen.
Aber ihr sollt nicht so sein:
Sondern wer unter euch der Wichtigste ist, soll sein wie der Geringste –,
und wer führen will, wie einer, der dient.
Wer ist denn wichtiger? Der zu Tisch liegt und isst oder der ihn bedient?
Natürlich der zu Tisch liegt! Doch ich bin unter euch wie einer, der dient.
Ihr habt mit mir durchgehalten, wann immer ich auf die Probe gestellt wurde.
So gebe ich euch Anteil an der Herrschaft, die mein Vater mir übertragen hat:
In meinem Reich sollt ihr an meinem Tischessen und trinken.
Ihr sollt auf Thronen sitzen und über die zwölf Stämme Israels Gericht halten.«

Simon, Simon! Sieh doch:
Der Satan hat sich von Gott erbeten, euch durchzusieben wie den Weizen!
Aber ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhört.
Wenn du dann wieder zu mir zurückgekehrt bist, sollst du deine Brüder und Schwestern stärken.«

Petrus entgegnete Jesus:
»Herr! Ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis zu gehen – ja, sogar mit dir zu sterben!«
Aber Jesus erwiderte:
»Das sage ich dir, Petrus:
Noch bevor heute der Hahn kräht, wirst du dreimal abstreiten, dass du mich kennst.«
-------------------------------------
Die Männer nahmen Jesus fest, führten ihn ab
und brachten ihn in das Haus des Hohepriesters.
Petrus folgte in einiger Entfernung.
In der Mitte des Hofes brannte ein Feuer, um das sich einige Leute versammelt hatten.
Petrus setzte sich mitten unter sie.
Ein Dienstmädchen sah Petrus dort im Schein des Feuers sitzen.
Sie musterte ihn aufmerksam und sagte: »Der da war auch mit ihm zusammen!«
Petrus stritt das ab und sagte: »Ich kenne ihn gar nicht, Frau!«
Kurz darauf sah ihn jemand anderes und sagte: »Du gehörst auch zu denen!«
Aber Petrus erwiderte: »Mensch, ich doch nicht!«
Etwa eine Stunde später behauptete ein anderer:
»Ganz bestimmt gehört er zu denen! Er kommt doch auch aus Galiläa.«
Aber Petrus stritt es wieder ab: »Mensch, ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.«
Im selben Moment, während er noch redete, krähte ein Hahn.
Der Herr drehte sich um und blickte Petrus an.
Da erinnerte sich Petrus an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte:
»Noch bevor heute der Hahn kräht, wirst du dreimal abstreiten, mich zu kennen.«
Und Petrus lief hinaus und weinte heftig.


**) Siehe www.forum-studie.de

Freitag, 1. März 2024

Dass so etwas nie wieder geschieht.....


 Ansprache anlässlich des Gedenktags der Zerstörung Pforzheims am 23. Februar
(1)
 

„Wenn ich heute zurückdenke, dann kann ich nur hoffen
und beten, dass so etwas nie wieder geschieht!“ 


Das sagte eine Zeitzeugin vor 3 Jahren (2).
Am 23. Februar 1945 war sie 12 Jahre alt.
Sie und ihre Familie lebten im Norden der Stadt. 
Ihr Haus hatte keinen Keller, also versteckten sie sich, so gut es ging,
in einem Graben im Garten. 
Die Angst, dass es sie erwischen würde, ist immer noch präsent.
Wie auch das Weinen der Mutter.
Denn da waren ja noch die 2 Schwestern unten in der Stadt, als die Bomben fielen.
Sie haben sie in den Trümmern nie gefunden. 



„Dass so etwas nie wieder geschehe“.

Nie wieder - wie ein Stoßgebet. 

Ein Auftrag an die Menschen damals und heute:
Lebt den Frieden. Nicht den Krieg. Und lernt aus dem, was uns passiert ist. 



Und ja, wir haben gelernt. 

Wir haben ein Grundgesetz, das auf dem Boden der Menschenrechte fußt. 

„Dass so etwas nie wieder geschehe.“ 

Die Stadt Pforzheim ist wieder aufgebaut und sie ist größer als je zuvor. 

Die Freundschaften mit Menschen in aller Welt tun uns gut. 

Unsere Stadt ist bunt und international und lernt jeden Tag neu,
wie es gehen kann mit dem Frieden.
 
Aber Narben sind sichtbar – alleine hier auf dem Hauptfriedhof -
und die Narben in den Seelen der Zeitzeugen tun immer noch weh.
Wir wissen, wie unsere Vorfahren hinein verstrickt waren in Schuld und Gewalt. 

Und es gibt wieder Krieg in Europa.

Und ja, alles das mahnt uns: Nie wieder.




Wir lernen den Frieden und jeden Tag fühlt er sich neu an. 

Er riecht nach gefüllten Zwiebeln, die mir Wajida, meine jesidische Nachbarin, vorbei bringt,
duftet nach Thymian und Zitrone.
Aus dem Irak ist Wajida hierher geflohen und hat hier ein neues Zuhause gefunden. 

Das alles teilt sie mit mir, wenn sie mir ihre dampfende Schüssel reicht. 



Wir lernen den Frieden -
er klingt nach kyrillischen und arabischen Buchstaben,

und nach Saz, der kurdischen Gitarre mit ihrem langen Hals, deren Töne miteinander verschwimmen.  

Er schmeckt nach dem Hummus meiner jüdischen Glaubensgeschwister, 

zu dem sie mich an Chanukka einladen. 

Gemeinsam zünden wir die Kerzen am Chanukka-Leuchter an
und wir teilen unsere Sorgen um den Frieden in Israel und Gaza
zusammen mit unseren muslimischen Freunden.
In der Vesperkirche teilen wir Zeit, Essen und Frieden mit Alten und Jungen.

Und die Kinder in der Pforzheimer Kita der Religionen leben jeden Tag diesen Frieden.
Irenicus heißt die Kita. Irenicus - Der Friedensbringer.

Wir leben hier in einer Stadt und wissen so wenig voneinander. 

Aber wir brauchen uns. Immer wieder machen wir uns das klar. 

Und so tasten wir uns vor und lernen uns kennen. 

Wir machen auch Fehler. Und lernen daraus. 

Immer wieder lernen wir, wie es gehen kann mit dem Frieden.

Und wir spüren genau: nie wieder ist jetzt.


Im Vers 9, vom 85. Psalm heißt es:

„Ich will hören, was Gott zu sagen hat. Er redet vom Frieden. 

Er verspricht ihn seinem Volk und seinen Frommen. 

Doch sie sollen nicht mehr zurückkehren zu den Dummheiten der Vergangenheit!“




Nehmt den Frieden ernst, sagt Gott. 
Passt auf ihn auf.
Gebt der Liebe Raum und nicht dem Hass. 

Verbindet euch, statt euch gegeneinander aufhetzen zu lassen. 

Sagt ja zu Menschenrechten, die allen gelten, ja zur Demokratie,
und sagt nein zum nationalistischem Albtraum. 

Geht respektvoll miteinander um,
auch mit denen,
die anders sind, anders lieben, anders glauben. 



Ja, nehmen wir den Frieden ernst,
denn es gibt sie, die den Frieden bedrohen. 

Sie wiederholen die "Dummheiten der Vergangenheit". 

Sie überfallen die Ukraine. Sie ermorden Menschen in israelischen Kibbuzim.
Sie opfern ihre eigene Bevölkerung im Gaza und im Iran und in Russland.


Es gibt sie, die die Dummheiten der Vergangenheit wiederholen:

Sie bedrohen die Synagoge und die Moscheen hier.
Bereiten den Boden für Hass und Gewalt. 

Und jedes Jahr kommen sie auf den Wartberg mit ihren Fackeln.
Immer wieder am 23. Februar. 

Nie wieder ist jetzt!



Und wenn es uns ernst ist mit dem Frieden,
dann stehen wir auf gegen diese Dummheiten der Vergangenheit.

Immer wieder. 

Wir sagen laut, dass wir nur miteinander leben können und wollen,
- ohne den Hass der Ewiggestrigen. 

Wir stellen uns vor die, die bedroht werden.

Wir lassen den Frieden nicht nur auf der Zunge zergehen, sondern köcheln ihn weiter.
Mit allen Zutaten, die bei den Menschen in unserer Stadt zu finden sind.
Das gibt uns Kraft.
Kraft für den Frieden.
Kraft für unsere Demokratie.

„Wenn ich heute zurückdenke,
dann kann ich nur hoffen und beten, 
dass so etwas nie wieder geschieht!“  


Ja, ich bete mit der Zeitzeugin um den Frieden für unsere Stadt und unser Land. 

Ich bete um einen Frieden, der größer ist als unser zerbrechliches Wir. 

Dieser Friede soll uns zusammenbringen aus Nah und Fern, 

mit unseren Sprachen und Gerüchen und Tönen.
Zu diesem Frieden gehören meine jesidische Nachbarin
und mein jüdischer Glaubensbruder, 
mein alevitischer Freund
und natürlich unsere Zeitzeuginnen.


Ich will diesen Frieden lernen - mit euch und über alle Trümmer hinweg. 

Immer wieder. Denn nie wieder ist jetzt.



(1) Am  23.2.1945 wurde Pforzheim durch Bomben der britischen Luftwaffe innerhalb von 20 Minuten zerstört. 80% der Innenstadt lag in Trümmer, nahezu ein Drittel der damaligen Bevölkerung kam ums Leben (ca 17.600 Menschen). Bis heute ist dieses traumatische Ereignis präsent. Und leider wird es durch rechte und rechtsextreme Gruppen geschichtsrevisionistisch interpretiert bishin zu einer sog. "Fackelmahnwache" auf dem Wartberg am Rand der Stadt.
Jedes Jahr rund um den 23.2. gibt es seitens der Stadt und ihrer Bevölkerung zahlreiche Veranstaltungen, die das Gedenken auf vielfältige Weise gestalten.
Wichtig dazu ist die sog. "Pforzheimer Erklärung" (https://www.pforzheim.de/stadt/stadtgeschichte/gedenken-friedenskultur/gedenktage/23-februar/erklaerung-zum-23-februar-2023.html)
Meine Rede habe ich auf dem Hauptfriedhof gehalten.

(1) https://www.pz-news.de/pforzheim_artikel,-Tod-im-Feuersturm-Video-Interview-mit-Zeitzeugin-Therese-Ratzenberger-zum-23-Februar-1945-_arid,1415026.html

Dienstag, 6. Februar 2024

Manchmal lässt du auf dich warten, Gott

Predigt zu Markus 4

1.
Wo bist du, Gott?
Wir bitten dich, dass dein Reich kommen möge. Jedes Mal in diesem Gottesdienst.
Dass du da bist, dass wir dich spüren, dass wir mit dir eins sind, im Einklang mit der Schöpfung.
Und dann schlage ich die Zeitungen auf oder höre im Radio
oder lese im Netz von jungen Männern, die im Iran hingerichtet werden,
weil sie für die Freiheit von Frauen kämpfen.
Oder von AfDlern, die offen davon sprechen, die Parteiendemokratie abschaffen zu wollen.
Ich höre von Familien, denen das Geld fehlt für die Klassenreise ihres jüngsten Kindes.
Oder ich höre Detlev Zander, wie er von sich und den vielen Menschen spricht,
die in unserer evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt erfahren haben
und die nie gehört wurden.
Wo bist du, Gott? Wo bleibst du? Wann kommst du endlich?

Jesus erzählt von dir auf seine Weise (Markus 4):
»Mit dem Reich Gottes ist es wie bei einem Bauern.
Er streut die Körner auf das Land,
dann legt er sich schlafen und steht wieder auf –
tagaus, tagein.
Die Saat geht auf und wächst – aber der Bauer weiß nicht, wie das geschieht.
Ganz von selbst bringt die Erde die Frucht hervor.
Zuerst den Halm, dann die Ähre und zuletzt den reifen Weizen in der Ähre.
Wenn das Getreide reif ist, schickt er sofort die Erntearbeiter los,
denn die Erntezeit ist da.«


2.
Du lässt auf dich warten, Gott!
Und ich muss mich in Geduld üben. Oje!
Dein Wort ruht in der Erde und ich muss das aushalten.
Die Samen hast du gelegt.
Worte zur Nächstenliebe und Fremdenliebe.
Worte der Hoffnung, dass alles gut werden kann.
Das Wissen, dass jeder Mensch von dir geliebt ist und eine Würde hat,
egal woher er kommt und wen sie liebt.
Worte, dass es nicht gerecht ist, wenn Menschen in Armut leben.
Ja, diese Samen hast du gelegt, und ich streue sie weiter.

Und ja, auch ich habe meinen Anteil daran.
Ich lege die Hände nicht einfach in den Schoß. Ich streue weiter.
Ich widerspreche, wo Menschen das Netz mit Hass überfluten.
Ich versuche mit denen ins Gespräch zu kommen,
die alles, was schief läuft, auf die Ampel schieben oder auf die Medien oder auf die Migranten.
Ich spende für Brot für die Welt.
Ich gehe sogar demonstrieren.
Und unterstütze die Vesperkirche.
Samen für das Reich Gottes.
Nicht damit ich besser da stehe oder mich gut fühle,
sondern damit die Welt zu einem besseren Ort wird.
Ein Ort, wo alle spüren, dass du da bist. Oder bald da bist.
Den Boden bereiten.

3.
Ja, du lässt auf dich warten, sagt Jesus.
Und ich merke, dass ich nicht immer Samen streuen kann.
Ich kann nicht alles. Und das ist gut so.
Schlafen und ruhen sind genauso wichtig wie streuen und ackern.
Pause machen. Ausruhen. Loslassen. Überhaupt: lassen. Nicht immer nur tun.
Das ist schwer heutzutage.
Und zugleich werden immer mehr Menschen auf dazu gezwungen.
Sie können nicht mehr. Werden krank. Oder einfach nur müde.
Und manche dürfen auch nicht.
Packerinnen bei Klingel verlieren ihre Arbeit.
Oder Flüchtlinge dürfen oft nicht arbeiten.

Okay, das ist nicht dasselbe wie bei dem Bauern, von dem Jesus erzählt.
Aber manchmal fühlt es sich vielleicht genauso an:
Ich. Kann. Nichts. Tun.

Ich kann nichts ändern.
Und wenn ich das Gefühl habe, dass alles vergeblich ist.
Meine Stimme zählt nichts. Rechte Ideologie wird immer lauter.
Die Armen werden noch ärmer. Und die Abschiebungen gnadenloser.

Ja, du lässt auf dich warten, Gott.
Und das halte ich manchmal nur schwer aus.

4.
»Mit dem Reich Gottes ist es wie bei einem Bauern.
Er streut die Körner auf das Land,
dann legt er sich schlafen und steht wieder auf –
tagaus, tagein.
Die Saat geht auf und wächst – aber der Bauer weiß nicht, wie das geschieht.“


Manchmal weiß ich auch nicht, wie was geschieht.
Dass seit 3 Wochen die Menschen auf die Straße gehen, um die Demokratie zu verteidigen.
Dass ein iranischer Sänger doch wieder frei kommt.
Dass 50 deutsche Unternehmen die Viertagewoche testen.

Ja, manchmal wissen wir nicht, wie was geschieht.
Als vor 25 Jahren Maria Trautz und Christel Rieke in Pforzheim die Idee mit der Vesperkirche hatten
und anfingen, diese Idee umzusetzen, hätten sie auch nicht gedacht, wie groß sie werden würde.
Wieviele helfen würden, wieviele spenden würden,
wieviele her kommen und sich auf diese Zeit freuen.
Die Saat, die sie gelegt hatten, ging auf und sie wussten nicht, wie ihnen geschah.

Als ich letztes Jahr am 15. Oktober
mit über 20 anderen aus den verschiedenen Religionen unserer Stadt in der Synagoge war,
um unseren jüdischen Freunden zu zeigen, dass wir an ihrer Seite sind,
war es wie ein „ich weiß nicht, wie das geschieht“.
Denn es war wie ein Wunder.
8 Jahre vorher wäre das so noch nicht möglich gewesen.
Damals - vor 8 Jahren - gab es hasserfüllte Gazademos und brennende Davidssterne.
Und nun - letzten Oktober - waren wir gemeinsam da:
Muslime, Jesiden, Aleviten, Christen. Als Freunde und Freundinnen.
Die Saat, über Jahre gelegt -
viele Gespräche, viele Besuche, viel Lachen, viel Streit, viel gemeinsam Essen,
viel Zuhören und sogar getanzt haben wir zusammen -
und nun ging die Saat auf:
wir waren und blieben beieinander -
auch als sich um uns herum die Welt spaltete in pro Gaza und pro Israel.

5.
Auch wenn es wichtig ist, die Saat zu kennen, die wir streuen:
Es ist gut, dass wir manchmal nicht wissen, warum was gedeiht.
Dass nicht alles erklärbar ist oder nicht alles einfach zu machen.
Das Stück Wunderhafte macht zumindest mich demütig.
Ich weiß ja, dass es nicht an mir alleine liegt, ob eine Saat aufgeht.
Ich brauche andere Menschen dazu, die mitsäen und ackern.
Manchmal muss es einfach der richtige Zeitpunkt sein.
Und du musst da sein, Gott....

Ich bin dankbar, dass Correctiv nun aufgedeckt hat,
was die AfD Menschenverachtendes denkt und sagt - auch wenn mir vieles nicht neu war.
Aber auf einmal haben es alles gehört.
Ich bin dankbar, dass es nun diese ForuM-Studie gibt,
die aufdeckt, wie in meiner geliebten evangelischen Kirche jahrzehntelang weggeschaut wurde,
als Pfarrer ihre Macht missbraucht haben.
Auch wenn es weh tut: wir müssen hinschauen und hinhören und ernst nehmen, was da passiert ist.
Und dann das Richtige tun: Betroffene entschädigen und Täter bestrafen.
Auch wenn es verjährt ist.
Da haben viele Menschen viel Saat gelegt und nun geht sie auf.
Und das ist gut so.

6.
Auch wenn ich manchmal nicht weiß, wie was geschieht:
ich kann den Boden bereiten.
Ich kann Samen streuen. Ich kann Pause machen. Und ich kann hinsehen.
Und dann entdecke ich auch, wenn etwas wächst und da ist.
Und wenn die Zeit reif ist, dass was passiert.
Und ich entdecke dich, Gott.
Mitten drin. Mitten in meinem Leben. Mitten in meiner Welt.

Hier an den Tischen der Vesperkirche. Und im Hefezopf.
Und bei Brot und Kelch im Abendmahl.
Im richtigen Wort zur richtigen Zeit, das mich ermutigt.
In der Sprachnachricht von meinem Freund Michael, der mir zeigt, wie nah er mir ist -
trotz der vielen 100 Km zwischen uns  .
In den Blumensträußen am Straßenrand zwischen Neuhausen und Schellbronn.
Und im leidenschaftlichen Streit mit meinen jüdischen Freunden.
Ja, auch in der Studie zur sexualisierten Gewalt, weil endlich die Betroffenen zu Wort kommen.
Worte, die lange in der Erde ruhten. Viel zu lange.

Ja, da bist du, Gott. Auch wenn du immer wieder auf dich warten lässt.
Und ich entdecke dich, wenn es Zeit ist.
Und ich weiß nicht, wie das geschieht.
Aber ich will, dass mir das nichts ausmacht. Sondern dass ich auf dich vertraue.

Ich säe die Saat, ich schlafe und wache, esse und trinke,
ich halte meine Augen und Ohren offen,
und es kommt der Moment, da wächst die Saat.
Da wird sie grün und stark.
Weil du sie wachsen lässt.
Tun und Lassen und wach sein.
Und dann bist du da, Gott.
Ja, jetzt bist du da.
Amen.

Montag, 15. Januar 2024

Gnade gegen Gift


Von stärkender Musik, müden Händen und trotzigen Feiern
Predigt zu Hebräer 12 und zur Kantate "Wie schön leuchtet der Morgenstern" von Johann Kuhnau

1.
Kommt ihr Völker! Kommt und huldigt diesem Kind!
Leichtfüßig, mit aufstrebenden Tönen und Koloraturen.
Wasser wird zu Wein, ein Fest wie eine Hochzeit.
Kommt mit tanzenden Schritten, denn Gott ist da.
In diesem Kind, das wir seit drei Wochen feiern.
Engel auf den Feldern singen. Hirten wird es hell.
Ein Stück vom Himmel mitten in der Welt.

Zu fröhlich? Zu hell?
Ich gestehe, mir tut diese Fröhlichkeit gut, diese hellen Töne, die Schönheit der Musik.
Mit tut es gut, heute nochmal ein Stück Weihnachten zu haben.
Denn ja, es ist ja noch Weihnachten,
auch wenn die meisten ihren Weihnachtsbaum schon entsorgt haben.
Hier (in der Stadtkirche) erinnern wir daran, dass noch Weihnachten ist. (seht den Baum!)
Und die Kantate heute erinnert daran.
An dieses Kind, an die Engel, an die Hirten - an den Glanz, der die Nacht erhellt.

2.
Ja, es tut mir gut, weil der Rest der Wochen so gar nicht weihnachtlich ist.
Demonstrationen von Landwirten, die von Populisten instrumentalisiert werden.
Die Ampel muss weg - Schilder und Erschießungswünsche gegen Politikerinnen,
Und viel zu viele ignorieren das und finden es sogar gut.
Deportationspläne von AfD und Werteunion,
Israel wird von der Eishockey-WM ausgeschlossen.
Ein Teil meiner Freunde und meiner Familie überlegt, auszuwandern,
weil sie sich nicht mehr sicher fühlen.

„Alle Himmel sind sein eigen, wie sollt‘ sich nicht vor ihm die ganze Erde neigen.“
Ja, diese Zuversicht von Johann Kuhnau wünsche ich mir.
Mir fällt sie gerade schwer.

3.
Damit befinde ich mich in guter Gesellschaft.
Offensichtlich fehlte Christen und Christinnen am Ende des 1. Jahrhunderts
auch diese fröhliche unbeschwerte Zuversicht.
Denn im Hebräerbrief heißt es:
Macht die müden Hände und die erlahmten Knie wieder stark!
Und schafft für eure Füße gerade Pfade.
Denn was lahm ist, soll nicht auch noch fehltreten, sondern geheilt werden.


Ihr habt einen Berg vor euch, sagt der Hebräerbrief.
Euer Weg als wanderndes Gottesvolk ist anstrengend.
Da können die Beine schon mal zittrig werden, wenn es steil wird
oder die Angst zu groß ist, dass man ausrutscht.
Gut ist es, wenn ihr dann nicht alleine seid, sondern euch gegenseitig unterstützt.

Und aufeinander achtet.

4.
Was das heißt, sagt der Hebräerbrief so:
Bemüht euch um Frieden mit allen Menschen.
Achtet darauf, dass niemand zurückbleibt und so die Gnade Gottes verliert.
Lasst keinen Spross aus einer giftigen Wurzel aufgehen.
Sonst richtet sie Unheil an, und viele werden durch sie vergiftet.


Ja, es gibt sie, diese giftgewordenen Pflanzen.
Es gibt sie, diese toxischen Sätze und Parolen.
Wenn Hass gesät wird. Wenn Neid geschürt wird.
Wenn man sich über eine mehrgewichtige Frau lustig macht.
Wenn man einer Familie mit arabischem Namen keine Wohnung vermietet.
Wenn eine Transfrau zusammengeschlagen wird.
Wenn man sagt, dass Geflüchtete hierher kommen, um sich die Zähne machen zu lassen.

Alles das meint der Hebräerbrief, wenn er sagt:
Eine giftige Wurzel richtet Unheil an.
Das Gift derer, die Angst schüren, vergiftet gerade unsere Gesellschaft.

Umso wichtiger ist es, sich um den Frieden zu bemühen und für einander da zu sein.
Sich gegenseitig zu stärken, zu stützen und niemanden in Stich lassen.
Die Gnade Gottes gilt allen. Sorgt dafür, dass dies auch alle, die es brauchen, spüren.

Es geht um geschwisterliche Solidarität - nicht mehr und nicht weniger.
Dass wir nicht zulassen, dass es Menschen 2.Klasse geben soll.
Denn Gottes Gnade gilt allen. Gott ist für alle Mensch geworden.

(Oder wie es in der Kantate heißt:
O Wundersohn, dein überirdisch Wesen
hat sich zum Thron den irdschen Leib erlesen,
damit der Mensch, die Erde zu deinem Himmel werde.
)

5.
Johann Kuhnau hat seiner Kantate übrigens einen ganz besonderen Akzent verliehen.
Philipp Nicolai besingt in seinem Choral „Wie schön leuchtet der Morgenstern“
die innige Zweierbeziehung mit seinem Jesus.
Die Welt bleibt dabei außen vor.

Dagegen betont Kuhnau mit den Texten zwischen den Choralversen,
dass Gott in die Welt hineinkommt, nicht nur in das Herz des Beters.
Gott kommt in die Welt und diese Welt wird nicht verdrängt oder verniedlicht.
Kuhnaus Kantate spricht von schlechter Krippe und dem Stall als Herberge,
spricht von Niedrigkeit, die nicht verklärt wird.
Und eben in dieser Niedrigkeit, in dieser Welt ist Gott zu finden.
Nirgendwo sonst.

6.
In einer Woche beginnt hier die Vesperkirche.
Vor 24 Jahren fand sie das erste Mal statt.
Lasst uns Zeichen setzen, dass niemand alleine sein muss. So hieß es damals.
Lasst uns dafür sorgen, dass wenigstens vier Wochen lang alle genug zu essen haben.
Lasst uns wenigstens vier Wochen lang Wärme schenken und miteinander essen und trinken.
Und ja, diese Kirche soll der Ort dafür sein.

Vier Wochen sind nicht viel.
Und ja, eigentlich sollte die Vesperkirche nicht nötig sein.
Eigentlich sollten alle immer genug zu essen haben, immer eine warme Wohnung.
Niemand sollte einsam sein. Aber noch ist das so.
Und solange das so ist, brauchen wir sowas wie die Suppenküche und wie die Vesperkirche.
Einen Ort, wo müde Hände und wankende Knie gestärkt werden.
Eine Zeit, wo niemand zurückbleibt.
Eine Geste, dass die Gnade Gottes bleibt und allen gilt.
Ein Stück vom himmlischen Jerusalem.
Einen Ort, wo Gott sichtbar wird.

7.
In der Niedrigkeit leuchtet ein Strahl von seiner Göttlichkeit -
so singt der Tenor in Kuhnaus Kantate.
Wo müde Hände und wankende Knie gestärkt werden, wird Gott sichtbar, sagt der Hebräerbrief.
Ihr seid auf dem Weg mit Gott - und eigentlich seid ihr schon längst angekommen.
Dort, wo es hell ist,
wo Gnade vor Recht ergeht,
wo Engel den Hirten singen und Weise vor einem Kind knien.
Und jetzt geht ihr zurück vom Stall in den Alltag und das ist mühsam,
aber das Kind in der Krippe geht mit euch mit.
Und mitten auf eurem Weg, in eurer Müdigkeit und Erschöpfung,
da hört ihr Worte, die euch Mut machen und aufrichten:

"Ihr seid bereits zu dem Berg Zion gekommen und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den  vielen tausend Engeln und zur Festversammlung."

Wasser ist bereits zu Wein geworden.
Das Fest der Liebe Gottes feiert ihr bereits.
Hier in der Kirche vier Wochen im Jahr und jede Woche in der Suppenküche.
Ihr feiert es, wenn ihr den toxischen Parolen des Hasses widersprecht.
Ihr feiert es, wenn ihr die schönsten Kantaten singt.
Ihr feiert es, wenn ihr zusammenkommt und mit Respekt begegnet.
Ihr feiert es, wenn ihr euch an die Seite derer stellt, die aus dem Land verjagt werden sollen.

8.
Mir macht das Mut.
Mir machen die Worte vom Hebräerbrief Mut.
Und eine Kantate wie die von Johann Kuhnau tut mir gut.

Denn Gott ist da.
Jesus ist da. Jesus ist hier.
Und ich feiere mit ihm.
Gerade dann, wenn der Weg mühsam ist und die Hände müde sind.

Ich lasse mich anstecken von Gottes Liebe zur Welt
und dann lasse ich die süße Musica ganz freudenreich erschallen,
Singe, springe, jubiliere, triumphiere und danke meinem Gott, dass er bei mir ist.
Auch und gerade jetzt.
Amen.