Samstag, 31. Dezember 2022

Ein Wunder voll Käseschmiere

Von Maria, Ana, Hirten und einem Kind.

Predigt zu Weihnachten 2022


(in der Predigt zitiere ich ein Video einer Whiskey-Marke, das mich sehr berührt hat, weil es eine besondere Wundergeschichte erzählt. Ich verlinke es unten)

I.

Es ist ein Wunder.
Mitten in der Nacht wird es hell. Draußen auf einem Feld irgendwo.
Und ein Engel spricht zu Hirten, die Angst haben.
Männer, die für wenig Geld auf Tiere aufpassen. Schafe und Ziegen.
Irgendwo bei einem Dorf namens Bethlehem. Hier im Nichts, wo sie nichts haben, außer ihren kleinen Job und den Schutz, den sie sich gegenseitig geben können.
Ausgerechnet hier und ausgerechnet zu ihnen spricht ein Engel.

Ein Wunder, das sie überfordert.
Wieso gerade zu uns, fragen sie vielleicht.
Hier ist doch nichts. Wir sind nichts. Sind wirklich wir gemeint?

II.

Es ist ein Wunder.
Maria trägt es in ihren müden Armen. Legt es in den Futtertrog.
Und sie weiß, sie hat nochmal Glück gehabt.
Es ist warm und trocken hier. Zwischen den Tieren.
Irgendwo in einem Dorf namens Bethlehem.
Sie sind bei freundlichen Menschen untergekommen.
Die haben nur noch diesen Raum übrig, den sie mit den Tieren teilen müssen.
So ist das nun mal, wenn man niemanden kennt und arm oder im Krieg ist:
Da kann man froh sein, wenn wenigstens der Futtertrog frei ist.
Und etwas Platz zum Gebären mittendrin.

Maria trägt es in ihren Armen, das Wunder.
Den Messias. Den Gesalbten. Mary did you know?
Ein Engel hat es ihr gesagt, vor 9 Monaten.
Ausgerechnet zu ihr, die ja nur ein junges Mädchen ist. Sonst nichts. Wer ist sie schon?
Viele Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen. Und Sorgen.
Aber jetzt - im Moment der Geburt ist alles auf Null gesetzt.
Ein kleines schreiendes runzliges Wunder
Voll mit Käseschmiere und Blut und verkniffenden Augen.

Ein Wunder, das sie überfordert.
Das Licht zu hell. Die Tierlaute zu laut. Das Weinen zu verzagt. Die Zukunft unsicher.
Aber es ist da, dieses Wesen wie von einem anderen Stern.
Warm ist es. Und es braucht alle Wärme, die Tiere und Menschen ihm geben können.
Wärme und Windeln, Decke und Muttermilch, Haut und sanfte Hände.
Irgendwo in Bethlehem.
Und ja, es ist ein Wunder.

III.

Ein alter Mann in einem Dorf irgendwo. (1)
Eines Tages greift er nach dem Lippenstift seiner Frau und probiert ihn aus.
Die ersten Versuche missglücken. Er sieht eher wie ein Clown aus.
Er kauft sich weiteres Makeup und ignoriert den Blick der Verkäuferin.
Er übt. Jeden Abend. Vor dem Spiegel. Heimlich.
Manchmal steht er nachts auf, um zu üben. Seine Frau soll nichts merken.
Er steht an der Bushaltestelle und zeichnet mit dem Finger auf dem Werbeplakat die Augen des Models nach. Und irgendwann ist es perfekt: Sein Makeup.

Eines Mittags – es ist Weihnachten:  Ein Motor brummt. Autotüren klappen.
Seine Familie kommt unter fröhlichem Lachen. Kinder und Enkelkinder.
Und da ist die 26jährige Ana, die sich noch nicht traut, Ana zu sein.
Jedenfalls nicht in der Familie. Nicht an Weihnachten.

Für die Familie ist sie Alvaro. Ein schüchterner, stiller junger Mann im schwarzen Anzug.
Als alle den Tisch decken, nimmt der Großvater Ana, die noch Alvaro heißt, an die Hand
und führt sie nach nebenan.
Dann greift er zum Makeup und schminkt sie. Das, was er Abend für Abend geübt hat.
Behutsam, liebevoll, nimmt sich alle Zeit der Welt.
Ana weiß nicht, wie ihr geschieht. Das Wunder überfordert sie.
Aber als sie beide wieder zur Familie stoßen, staunen die anderen.
Und dann klatschen sie und nehmen Ana in den Arm.
Und endlich ist Ana angekommen. Mitten an Weihnachten. Irgendwo in einem Dorf.
Es ist ein Wunder.

IV.

Es ist ein Wunder.
Maria hält es in den Armen.
Ana spürt es auf der Haut.
Anas Großvater im Herzen.
Und die Hirten trauen ihren Augen nicht.
Ein Wunder, das die Menschen überfordert und verändert. Das die Seele heilt.
Ein Wunder, das allen gilt.

Es ist ein Wunder: voller Käseschmiere und nassen schwarzen Haaren.
Im Futtertrog. In einem Dorf irgendwo.
Dort, wo gelacht wird und geweint, gestritten und versöhnt.
Ein Wunder für die, die denken, dass sie es sowieso nicht verdienen.
Sie rechnen nicht damit, weil sie nicht so „wichtig“ sind wie Augustus oder Herodes.
Menschen wie die Hirten. Wie Maria. Oder wie Ana.
Irgendwo.

V.
Ja, es ist das Wunder Gottes, dass jeder Mensch liebenswert ist.
Du und ich und deine Nachbarin und das Kind in Kiew.
Ihr seid wert zu lieben. Zu achten.

Dieses Wunder Gottes glänzt in den Augen von Ana.
Es ist der Großvater, der in Anas Seele blickt und sieht, wie allein sie ist.
Und wie sehr sie sich danach sehnt, offen und frei zu leben, was sie ist.
Es ist Maria, die das runzlige Kind hält und wärmt und das Große und Weite sieht, was in ihm schlummert. Yes, Maria, you did know.
Es ist ihre Stimme, die sie erhoben hat, weil Gott es ihr zutraut.
Es ist der Mut der Hirten, auf einmal zu predigen.
Ja, sie haben was zu sagen, obwohl sie doch sonst nichts zu sagen haben.

Es ist der Engel, der zu ihnen sagt: Fürchtet euch nicht.
Denn heute ist der Heiland geboren. Geboren wie ihr. Geboren wie alle Menschenkinder.
Wunderbar gemacht, aber Gott sei Dank nicht perfekt.
Geliebt. Gewollt. Voller Sehnsucht.
Wie ihr. (2)


VI.

Ich wünsche dir dieses Wunder heute.
Ich wünsche dir, dass dich jemand in den Arm nimmt.
Dich ansieht, wie du gesehen werden willst.
Dass du spürst, wie sehr Gott dich lieb hat. Gerade dich.
Ich wünsche dir, dass du etwas erlebst, womit du nicht rechnest.
Irgendwo in Pforzheim: zuhause oder auf der Straße oder hier in den Bänken.
Ein Augenzwinkern vielleicht. Oder ein Lächeln. Oder ein Wort, ein Licht, ein Lied.
Eine Wärme, die sich wie eine Decke um deine Schultern legt.

Ich sehne mich nach diesem Wunder für die mutigen Frauen und Männer im Iran.
Dass sie leben dürfen, wie sie wollen. Frei und mutig und liebevoll.
Ich sehne mich nach diesem Wunder für die Menschen in der Ukraine.
Nicht die Herrscher Augustus und Herodes haben das Sagen,
sondern die Frauen, die ihre Haare wehen lassen und auf der Straße tanzen,
die Kinder in den U-Bahnhöfen Kiews, wo sie Schutz suchen –
und sie leben frei und müssen nicht mehr um ihr Leben fürchten.
Ja, nach diesem Wunder sehne ich mich.

Vielleicht überfordert es mich, mich und die Welt.
Aber wir brauchen dieses Wunder so sehr.

Ja, es ist dieses eine Wunder, das diese meine Sehnsucht weckt:
Das Wunder im Futtertrog irgendwo in Bethlehem -
mit Käseschmiere und rauher Stimme,
mit Tier-Atem und Armen, die es festhalten.

Es macht mein Herz weich, meine Augen hell und meinen Mut groß.
Ja, es ist ein Wunder. Ein Wunder auch für dich.
Amen.

(1) Der folgende Abschnitt erzählt das erwähnte Video nach. Zu sehen hier: https://www.youtube.com/watch?v=oOVVgEtuybk

(2) Die kursiv gedruckten Worte habe ich mir von der wunderbaren Predigerin Birgit Mattausch ausgeliehen. https://frauauge.blogspot.com/2022/12/in-diesem-jahr-meine-kleine_25.html

Montag, 12. Dezember 2022

Stimmen und Einstimmen

Von Trost und Tränen, Sprachlosigkeit und Stimmen der Hoffnung

Predigt zu Jesaja 40, 1-11

I. Tränen

»Tröstet, tröstet mein Volk!«, spricht euer Gott.
Redet herzlich mit Jerusalem, sagt über die Stadt:
»Ihre Leidenszeit ist zu Ende,
ihre Schuld ist restlos abgezahlt.
Denn für all ihre Vergehen wurde sie vom Herrn doppelt bestraft.
«

Nimm sie in den Arm, Gott. Nimm sie in den Arm und halte sie fest.
Die Mütter und Töchter in Teheran, in Saqqez und Shiraz und Zahedan.
Erschossen, weil sie ihre Haare frei wehen lassen.
Die Eltern der 16jährigen Mahak Hashemi, die ihre Tochter nur schweigend begraben durften.
Die Großmutter von der 7jährigen Hasti Naroui: Sie ging mit ihr zum Freitagsgebet und konnte sie nach einem Tränengasangriff nur noch tot im Schoß wiegen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Und sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.

Nimm sie in den Arm, die Mütter und Töchter aus Kiew und Charkiw und Mariupol.
Die die Massengräber öffneten und ihre Söhne und Väter und Töchter identifizierten.
Die sich versteckten und doch gefunden wurden von den Folterern.
Die ihre Heimat verließen und nun hier um ihre Liebsten bangen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.

Ist sie zu Ende?
Nichts wünscht du dir sehnlicher.
Dass Gott auch zu dir herzlich spricht und dich in den Arm nimmt.
Weil auch du manchmal nicht weißt, wohin mit deiner Not.
Weil dich die Tränen der Frauen und Mädchen im Iran und in der Ukraine berühren.
Weil du mit der Großmutter von Hasti weinst.
Und weil deine ganze verdammte Ohnmacht dich erdrückt.

Und vielleicht singst du mit mir:
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal. (EG 7,4)

II. Wüstenbahn

Eine Stimme ruft: »Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn!
Ebnet unserem Gott in der Steppe eine Straße!
Alle Täler sollen aufgefüllt werden, Berge und Hügel abgetragen.
Das wellige Gelände soll eben werden und das hügelige Land flach.
Der Herr wird in seiner Herrlichkeit erscheinen, alle Menschen miteinander werden es sehen.
Denn der Herr selbst hat es gesagt.
«

Eine Stimme ruft: Gott kommt und verändert die Welt.
Gott kommt und alles gerät in Bewegung. Oder alles stoppt. Jedenfalls ist alles anders.
Gott stellt sich vor die russischen Panzer.
Gott nimmt ihren Hijab ab und tanzt auf der Straße.
Gott singt „Baraye“, aber verweigert die Nationalhymne eines Terrorregimes.

Gott ist da – gerade dort, wo du ihn nicht vermutest.
In der Wüste, im Stall, am Kreuz.
Gott steht am Fließband bei Amazon. Putzt die Schultoilette. Friert auf der Parkbank.
Trinkt müde einen Kaffee in der Cafeteria der Klinik, bevor es zur nächsten OP geht.
Gott kommt. Gott ist da. Und Gott sei Dank kann das niemand verhindern.

Ich höre diese Stimme. Du auch? Ich möchte dieser Stimme glauben. Mehr denn je.
Und auch wenn es mir schwer fällt, so singe ich leise (und du vielleicht mit):
Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht. (EG 16,5)

III. Kraftlosigkeit

Eine Stimme spricht: »Verkünde!«

Manchmal ist sie zu laut, diese Stimme vom Advent.
Manchmal will ich nichts als Stille. Alles scheint so vergeblich.

Ich fragte: »Was soll ich verkünden? Alle Menschen sind doch wie Gras.
In ihrer ganzen Sch
önheit gleichen sie den Blumen auf dem Feld.
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind des Herrn darüber weht.
Nichts als Gras ist das Volk!
«

Ich teile die Worte der Iranerinnen im Netz.
Aber wird es ihnen helfen? Ist das Regime nicht doch stärker?
Ich habe Decken für die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine zum Diakoniepunkt gebracht.
Aber was nützt das ihren Verwandten? 
Ich sehe, wie viel zu viele Menschen zu viel arbeiten.
Ich selber arbeite zu viel.
Will Hoffungsworte verkünden und mühe mich mit ihnen ab. Brauche selbst dafür zu viel Kraft.

Kennst du das?
Mich macht das müde. Und sprachlos. Mir fehlen die Worte.
Und es tut mir gut, auch dieses Fehlen in der Bibel zu finden.

IV. Stimme der Hoffnung

»Ja, das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit.«
Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin für die Stadt Zion!
Verkünde deine Botschaft mit kraftvoller Stimme, du Freudenbotin für Jerusalem!
Verkünde sie, hab keine Angst! Sprich zu den Städten Judas:
»Seht, da kommt euer Gott!

Hab keine Angst, sagt die Stimme.
Sei eine Freudenbotin. Verstumme nicht.
Wenn du kannst, sei laut.
Aber auch deine leise Stimme ist wichtig.
Vielleicht ist sie brüchig, heiser, zitternd.
Es ist deine Stimme, mit der du zu Gott betest.
Es ist deine Stimme, mit der du ein kleines gutes Wort sagst in einer Welt,
die diese guten kleinen Worte so nötig hat.
Es ist deine Stimme, die die Zwischentöne einbringt.
Hab keine Angst, sagt die Stimme.

Hörst du die Stimmen, die rufen: Frauen. Leben. Freiheit!?
Hast du die andere Stimme gehört, die einst rief: Ich habe einen Traum. I have a dream.
Vor 60 Jahren.
Die schwarze Stimme eines Predigers in der Wüste einer rassistischen Welt.
Martin Luther King:

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erh
öht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.
Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück.
Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.

Sei Freudenbote. Sei Freudenbotin.
Hau einen Stein der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Das Wort unseres Gottes lässt sich nicht aufhalten.
Dass jeder Mensch ein Kind Gottes ist und unvergleichlich ist
und niemand niemand niemand das Recht hat, das anzuzweifeln –
das ist stärker als jede Verzweiflung, jedes Verstummen, jede Patrone.
Ein großes Wort. Ein kleines Wort.
Stark genug, um ewig zu sein und eine Welt zu verwandeln.
Licht in der Nacht.

Stimmst du mit ein?
Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht, es hat Hoffnung und Zukunft gebracht; es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis, Not und Ängsten, ist wie ein Stern in der Dunkelheit.

IV. Weitergehen

Tröste, tröste sie, Gott.
Nimm die Frauen und Töchter in den Arm, die in Teheran und Shiraz, in Mariupol und Charkiw.
Nimm Sabine in den Arm, die um ihre Mutter weint.
Und Frida, deren Opa zum Schluss niemanden mehr erkannte.
Trockne ihre Tränen. Schreie mit ihnen.
Tröste, tröste mich, Gott.
Gib mir meine Stimme zurück. Hilf mir, sie zu erheben.
Für sie. Für die Welt. Für dich.

Seht, Gott, der Herr! Er kommt mit aller Macht und herrscht mit starker Hand.
Seht, mit ihm kommt sein Volk! Die er befreit hat, ziehen vor ihm her.
Wie ein Hirte weidet er seine Herde:
Die Lämmer nimmt er auf seinen Arm
und trägt sie an seiner Brust.
Die Muttertiere führt er sicher.
«

Darauf hoffe ich, Gott.
Mit dir zünde ich die 3. Kerze heute an.
Mit dir gehe ich durch die Wüste.
Mit dir flüstere ich das kleine, unscheinbare Wort, das so viel Kraft hat.
Mit dir haue ich die Steine der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Mit dir träume ich von einer Welt,
die Platz hat für wehende Haare in Teheran, Frieden in der Ukraine und sichere Häfen für alle.
Von einer Welt, in der auch die kleine, leise Stimme des Friedenskindes gehört wird.

Und mit dir stimme ich an:
Peacechild, in the sleep of the night, in the dark before light you come, in the silence of stars, in the violence of wars
Savior, your name.

Amen.

Montag, 5. Dezember 2022

Liebe und Frühling im Winter

Von Barbara, Blütenzweigen, Liebespaaren und einem Gott voller Sehnsucht

Predigt zum Hohelied 2, 8 - 13 am 2. Advent

(mit großem Dank an Kathrin Oxen, deren Predigtentwurf die Grundlage für meine Predigt war. Link s.u.)

I. Barbara: passt nicht


Barbara weiß, was sie will und was nicht.
Jesus will sie. Heiraten will sie nicht. Und das geht in ihrer Zeit gar nicht.  Wie es genau mit ihr war, weiß niemand. Vielleicht gab es sie auch gar nicht. Aber es gibt ihre Geschichte. Und deswegen ist heute ihr Tag: Der Tag der Heiligen Barbara, schön und klug. Immer müssen die schönen und klugen Jungfrauen sterben in solchen Heiligengeschichten. Weil es noch nie jemand aushalten konnte, wenn Frauen schön und klug zugleich sind?

In Barbaras Fall ist es ihr Vater. Er kann nicht ertragen, dass sie zu keinem Mann gehören will, bloß zu Jesus. Und da lässt er sie in einen Turm sperren, wo sie auf ihre Hinrichtung warten muss. Auf dem Weg in den Turm verfängt sich ein trockener Zweig in ihrem Gewand. Den stellt sie in ihren Becher. Und er blüht an dem Tag, als sie stirbt.
Der Barbarazweig.

Eine Geschichte voller unpassender Sehnsucht. Barbara sehnt sich danach, ein eigenes Leben zu leben und nicht den Erwartungen anderer zu gehorchen. Überhaupt nach Leben, blühendem Leben, auch und gerade, als sich alles um sie herum dunkel und tot und ohne Ausweg anfühlt. Sie sehnt sich nach Frühling und Liebe in Tod und Winter.

Mit Heiligen haben wir es in der evangelischen Kirche ja nicht so. Selbst die katholische Kirche hat Barbara inzwischen aus ihrem Heiligenkalender aussortiert. Aber die Sehnsucht lässt sich weder wegsperren noch aussortieren. Sie dringt noch durch die kleinsten Ritzen von Mauern und Fenstern und verschlossenen Türen. Sie blüht, auch im Dezember.

II. Hohelied: zwei, die zusammen passen

Er weiß, was er will - oder besser: wen er will und wer zu ihm passt. Sulamit, die schöne Geliebte. Und Sulamit weiß, wen sie will: ihren Geliebten, niemanden sonst. Ihre Sehnsucht macht die beiden Verliebten schier wahnsinnig und lässt Worte aus ihrem Herzen fließen ohne Scham, ohne Scheu, voller Poesie. Diese Worte haben ihren Platz in unserer Bibel gefunden.
Hören wir auf sie im Hohelied:

Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon!
Er springt über die Berge, hüpft herbei über die Hügel.
Mein Liebster gleicht der Gazelle oder einem jungen Hirsch.
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter.
Mein Liebster redet mir zu:
»Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!
Denn der Winter ist vorüber, der Regen vorbei, er hat sich verzogen.
Blumen sprießen schon aus dem Boden, die Zeit des Frühlings ist gekommen.
Turteltauben hört man in unserem Land.
Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen. Die Reben blühn, verströmen ihren Duft.
Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!


III. Worte, die nicht passen

Worte voller Sehnsucht im Advent.
Nun ja, denkst du vielleicht: Das kenn ich gut. Verliebt und voller Sehnsucht. Jede Faser deines Körpers tut weh und will berührt werden von ihm, von ihr, von diesem zauberhaften Wesen, das sich in dein Herz gestohlen hat. Aber ehrlich: was hat das mit Advent zu tun?

Vielleicht denkst du: So ein Liebeslied, das vom Frühling erzählt, von sexueller Leidenschaft, von großem Verliebtsein, das passt doch nicht hierher. Und übrigens haben wir Dezember.
Und du hast recht. Erstaunlich, dass dieses Lied einen Platz in der Bibel bekommen hat. Da ist noch nichtmal von Gott die Rede. Irgendwann geriet das Lied der Liebeslieder in das Buch der Bücher. Wie genau, das bleibt ein Geheimnis.
Ich bekenne: ich bin Gott froh darüber. Ich bin froh, dass auch die Leidenschaft, die sich an keine Regeln hält, Teil der Bibel ist.

Die jüdische Tradition hat daraus eine Leidenschaft zwischen Gott und seinem Volk Israel gemacht. Die christliche Tradition hat das übertragen auf Christus und die Kirche. Und ich vermute, wenn es Barbara gegeben hat, hat sie es genauso gelesen: Christus ist ihr Geliebter, der sich nach ihr verzehrt. Und sie sich nach ihm. Nur er ist wichtig. Niemand sonst.

Und ja, mit dieser Übertragung hat man alles Anstößige rausgenommen. Die Sexualität wurde verbannt aus der Bibel. Besonders im Christentum. Dass es mitten in der Bibel Szenen gibt, die davon erzählen, dass es Sex außerhalb der Ehe gibt - puh, da hat man lieber nicht hingeschaut.

Deshalb ist es gut, diese Lieder der Lieder auch als das zu sehen, was sie sind: orientalische erotische Lyrik - mit allem, was dazu gehört. Und das ganze Buch riecht nach Thymian und Lavendel, nach Wein und Heu und Feigen, nach Sex, Schweiß, Parfum und Bettlaken.
Und das passt in die Bibel. Punkt.

IV. Gottes Liebeslied: passt zum Advent

Ja, es ist ein Liebeslied. Ein Lied von Frühling und Liebe. Durch und durch menschlich.
Und gerade deshalb ist auch ein Liebeslied Gottes, ein adventliches Liebeslied:
Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon!
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter.


Probiere es aus. Höre es dann doch mal als Liebeslied Gottes:
Gott ist wie ein junger Mann, der weiß, was er will, wen er will. Er hat es eilig, zu seiner Freundin zu kommen, so wie es alle jungen Männer immer eilig haben, zu ihrer Freundin zu kommen. Oder besser: Alle, die lieben, zu denen, die sie lieben.
Wie eine Gazelle, wie ein Hirsch kommt Gott. Mühelos überwindet er die Berge und die Hügel, so jung und voller Kraft. Springend und hüpfend kommt Gott, als Überschuss an Kraft und Leben.
Still steht Gott erst vor dem Haus der Geliebten, an ihrer Tür oder vor ihrem Fenster. Gott bleibt stehen an dem Ort, wo sich die Geliebten, die Liebhaber immer schon eingefunden haben, wo schon seit Jahrtausenden ihr Ort war. Wo er immer sein wird.

Und dann ist da nur noch die Tür zwischen den beiden. Die Geliebte riecht ihn förmlich, seinen Körper. Es braucht kein Zeichen mehr, kein Klopfen oder Rufen. Denn sie kommt ihm ja schon entgegen und öffnet ihm mehr als nur eine Tür.

Eine Szene, so alt wie die Welt und das Leben: Es kommt einer, der will nur zu mir. Kommt über die Berge und Hügel, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit der U-Bahn. Kommt und steht vor meiner Tür, mit Wind in den Haaren und dem Geruch von draußen in seiner Jacke und will zu mir.

Wie in dem Film „Tatsächlich Liebe“, wo Jamie wochenlang portugiesisch lernt, dann am heiligen Abend nach Marseille fliegt, statt mit seiner Familie zu feiern, und seiner Aurelia mitten im Restaurant einen Heiratsantrag macht.

Tatsächlich Liebe. Tatsächlich ist Gott diese Liebe - der Winter ist vorbei und es ist Frühling. Ganz egal, ob es draußen wirklich Frühling ist. Auch egal, ob es gerade der Frühling meines Lebens ist oder sein Sommer, Herbst oder Winter. Denn es kommt einer, der will nur zu mir.
Und er redet mir zu: »Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!

V. Unpassende wilde Liebe

Ein Lied vom Frühling und von der Liebe.
Ein Adventslied von einem leidenschaftlichen Gott, der sich nach dir sehnt, der weiß, was er will.

Dass er die Liebe ist, das hast du bestimmt schon oft gehört. Aber nicht so, oder?
Vielleicht eher wie eine Liebe nach vielen gemeinsamen Jahren, an einem Tisch, in einem Bett, auf einem Sofa vor einem Fernseher: Ich kenne dich gut. Bei mir kannst du sein, wie du wirklich bist. Zu mir kannst du immer zurückkommen. Und ja, das hat seinen Wert.

Aber Gott als Geliebter, als Liebhaber? Gott will nur zu dir, kann es nicht erwarten, bei dir zu sein und ruft dich: Schnell, meine Schöne, komm! Dass das einer zu dir sagt und es wirklich so meint. Dass der Frühling wiederkommt, wo schon lange Winter ist. Passt das?

Ja, Gottes Liebe ist auch zahm und fürsorglich, aber heute ist sie die junge und wilde Liebe, wie ein junger Mann mit zu viel Kraft und Wind in den Haaren. Mit Gerechtigkeitsempfinden und Leidenschaft für die Schwachen. Leidenschaft für dich.
Gott steht gleich hinter der Wand, weil er bei dir sein will, nur bei dir. Er riecht nach Thymian und Lavendel, Wein und Heu, Feigen und Schweiß und er lernt portugiesisch - nur für dich.

VI. Es passt

Passt das in die Kirche? Passt das in den Advent? Ein Lied von Frühling und Liebe?
Wir haben übrigens Anfang Dezember, sagst du. Und Angst, dass es wieder ewig dauert mit dem Frühling. Oder irgendwann sowieso vorbei ist damit, weil wir die Welt verkommen lassen und zerstören.

Man kann sich einmauern lassen von solchen Gedanken, wie Barbara in ihren Turm. Aber man sollte es nicht auch noch selber tun, dieses Einmauern.

Barbara hat in ihren Turm ein drittes Fenster brechen lassen. Das erzählt eine andere Geschichte von ihr. Ihr Vater hat getobt. Denn dies war ein Zeichen für den dreieinigen Gott, für Gottes unterschiedlichen Gestalten, bekannt und vertraut und wild und jung und voller Sehnsucht. Sieh, da steht er hinter unserer Mauer, schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter.

Gott weiß, was er will.
Gott will dich.
Und darum singt er ein Lied voller Liebe. Menschlich und göttlich zugleich.
Und die Geschichte von dem Zweig, der mitten im Winter blüht, sie erzählt von diesem Gott:
er steht vor deiner Tür. Mach ihm auf.

Amen

*Kathrins wunderbare Predigt ist nachzulesen unter: Nachzulesen unter https://www.facebook.com/kathrin.oxen/posts/pfbid0bmjZLaW6pRvb9mkjktaJoUNs7et32Y3AomPDQvnGXpGNe1MDzngZt9vEFUa1mYsSl