Samstag, 24. Dezember 2016

Gott drückt dir sein Kind in die Arme

Predigt zu Jesaja 9,1-6 (Heiligabend 2016)
(mit Dank an Martina Reister-Ulrichs für die Grundidee und an Jörg Breu, der mir noch ein paar Verbesserungsvorschläge gemacht hat)

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch,
die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.

Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter;
und er heißt
Wunder-Rat,
Gott-Held,
Ewig-Vater,
Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde
und des Friedens kein Ende
auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.


I.
Gott drückt dir sein Kind in die Arme.
Heute. Einfach so. Und ohne dich zu fragen.
Du hattest gar keine Chance, dich dagegen zu wehren.
Und nun ist es da.

Du schaust es an und weißt gar nicht so richtig, was du damit anfangen sollst.
Es ist dir wehrlos ausgeliefert.
Wehrt sich nicht gegen deine Zärtlichkeit.
Duldet es, dass du es verhätschelst und verkitscht und ganz harmlos machst.
Und sogar, dass du es vergisst.

Du hast eigentlich gar keine Zeit für dieses Kind.
Deine Wohnung ist nicht aufgeräumt.
Die Karte an die Patentante noch nicht geschrieben.
Der Streit mit dem Chef geht dir noch nach.
Und all die furchtbaren Bilder von Berlin und Aleppo.
Was soll da dieses Kind?
Aber Gott hat es dir in deine Arme gelegt.

Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter


II.
Gott drückt dir ihr Kind in die Arme.
In die Arme, die so gerne umarmen.
Die du hängen lässt, wenn du nicht mehr kannst.
Und die du zeigst, wenn du die Ärmel hochkrempelst.
In deine Arme.

Gott drückt ihr Kind in Arme,
die im Pflegeheim eine Greisin aufrechtsetzen, damit sie den Weihnachtsbaum im Gang sehen kann.
In Arme, die voll bepackt sind mit Geschenken für die Nichten und Neffen.
Aber auch in Arme, die nicht wissen wohin mit sich, weil da keiner ist, den sie umarmen können.
Gott drückt ihr Kind in Arme,
die verschränkt sind und nichts mit ihm zu tun haben wollen.
In Arme, die sich nach oben recken und um Hilfe rufen.
In Arme, die in diesen Tagen Blumen und Kerzen an den Breitscheidplatz bringen.
In Arme, die Maschinengewehre über die Schulter legen.

Gott drückt ihr Kind in die Arme der Welt.
Eine Welt, wo Kinder keinen Platz haben.
Wo sie still sein müssen und unauffällig.
Karrierepläne liegen schon in der Wiege und alles ist perfekt geplant.
Für die Erwachsenen, nicht für das Kind.
Oder sie spielen zwischen den Trümmern in Aleppo.
Sie haben sich daran gewöhnt - auch an die traurigen Gesichter der Großeltern.
Oder sie warten mit ihrer kleinen Schwester am Grenzzaun von Griechenland.
Oder sie klammern sich an die wackeligen Ränder vom Boot, das sie über das Mittelmeer bringen soll.

Gott legt sein Kind in die Trümmer von Aleppo,
in das Flüchtlingslager in Griechenland
und in das Boot auf den Wellen des Mittelmeeres.
Gott legt sein Kind in die allzu perfekten Betten von Reihenhäusern
und in die Intensivstation vom Klinikum mit ihren Beatmungsgeräten.
Gott macht keinen Unterschied.
Ihr Kind gehört überall hin. Und auch dorthin, wo es nicht hingehört.

Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter


III.
Ja, es passt nicht in diese Welt. Hat noch nie hineingepasst.
Nicht zu Jesajas Zeiten.
Nicht zu Marias Zeiten und zu Josefs auch nicht.
Es trägt fremde Namen, die so gar nicht zu ihm passen.
Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.

Namen eines Hoffnungsträgers, der die Sehnsucht gar nicht tragen kann.
Namen einer Welt, die keine Chance bei uns hat.
Denn es ist kein Held des Krieges, kein Triumphator,
kein Reiter auf hohem Ross mit Pauken und Trompeten,
sondern ein Friedensbringer.
Einer, der auf dem Esel kommt.
Der mit seiner Familie sogar fliehen muss ins ägyptische Exil.
Und letztlich und nackt und bloß am Kreuz stirbt.
Gott selbst.
Das Gotteskind.

Und gerade weil es nicht in diese Welt passt, kommt es in diese Welt.

Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.


IV.
Gott drückt dir sein Kind in die Arme.
So verletzlich - nur so kommt es in dein Herz.
Und du weißt: Auf dieses Kleine kommt es an.
Auf das Kleine in dir. Auf das Zarte. Das, was dich angreifbar macht.
Du musst nicht tun, als seist du stark.
Du musst keine Waffen tragen.
Du brauchst keine Rolle mehr zu spielen.
Du kannst einfach nur das Gotteskind sein.
Mit der ganzen Liebe, die da ist und die zu dir kommt.

Dieses Gotteskind in deinen Armen, in deinem Herzen, passt nicht in diese Welt.
Und so kannst du diese Welt nicht lassen, wie sie ist.
Da soll es keine Bombentrümmer geben,
und keine ertrinkenden Flüchtlinge.
Keine Mörder, die unschuldige Menschen töten auf Weihnachtsmärkten.
Und auf der Intensivstation soll keiner alleine sein.

V.
Gott drückt dir ihr Kind in deine Arme
und es passt nicht in diese Welt,
aber es verändert sie.
Und darum ist es egal, ob dein Wohnzimmer aufgeräumt ist oder nicht.
Du machst dich auf den Weg zur mürrischen Nachbarin und schenkst ihr eine Blume.
Vielleicht bleibt sie mürrisch. Vielleicht aber wird sie lächeln.
Oder du überlegst dir, wen du noch heute zum Essen einlädst.
Oder wenigstens anrufst. Und dann tust du es.

Und auf Rechthaberei hast du keine Lust mehr.
Weil das Gotteskind in deinen Armen ist, hast du keine Angst.
Schaust mit ihm zusammen neugierig auf alles Neue und Fremde.
Du lässt dir auch keine Angst machen, auch nicht von Terroristen,
sondern freust dich auf die Menschen, denen du begegnest.

Mit dem Gotteskind im Arm nimmst du allen Mut zusammen,
und sagst laut:
Hilfe für Fremde und Notleidende ist kein Luxusgut,
das wir uns nur gönnen,
wenn wir es uns leisten können.
Du sagst es laut, aber mit Liebe.
Das Kind in deinen Armen lässt nicht zu,
dass Menschen, die Hilfe brauchen, gegenseitig ausgespielt werden.

Es lässt dich weinen, wenn du an die zwölf Menschen denkst,
die brutal ermordet wurden am vergangenen Montag
und an die, die sie liebhaben.
Es lässt dich weinen, wenn du die Bilder aus Syrien siehst,
und es sind Tränen der Trauer und der Liebe
über jedes Kind Gottes, das durch Gewalt stirbt.
Juden, Christen, Muslime und alle anderen.
Gotteskinder - wie du.

Du merkst, dass dieses Kind in deinen Armen zwar zart, aber überhaupt nicht harmlos ist.
Es verändert dich.
Wird die Mächtigen vom Thron stoßen
und die Niedrigen erheben
Es wird zerbrechen daran.
Und leben.
Mit dir und für dich.
Und für diese Welt, in die es nicht hineinpasst und doch gehört.
Wie kein anderes Kind der Welt.

Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.


VI.
Gott drückt dir sein Kind in die Arme.
Du schaust es an und es nimmt dich ein.
Voll und ganz und mit Haut und Haaren.
Dich, du Gotteskind. Mit Licht im Herzen.
Es verändert dich. Du öffnest deine Arme.
Und du veränderst die Welt. Mit diesem Kind.

Denn uns ist ein Kind geboren,
ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter;
und er heißt
Wunder-Rat,
Gott-Held,
Ewig-Vater,
Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde
und des Friedens kein Ende .

Amen.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Es muss sein - auch 2017

Predigt zu Lukas 3,1-14
(geändert und aktualisiert zum 3.Advent 2017)

mit Dank an Michael Greßler, Silke Wolfrum, Peter Michael Schmudde und Martina Servatius für einige Formulierungen

Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius,
als Pontius Pilatus Statthalter in Judäa war
und Herodes Landesfürst von Galiläa
und sein Bruder Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis
und Lysanias Landesfürst von Abilene,
als Hannas und Kaiphas Hohepriester waren,
da geschah das Wort Gottes zu Johannes,
dem Sohn des Zacharias (und der Elisabeth),
in der Wüste.
 

Und er kam in die ganze Gegend um den Jordan
und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden,
wie geschrieben steht im Buch der Worte des Propheten Jesaja (Jesaja 40,3-5):
»Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste:
Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Steige eben!
Alle Täler sollen erhöht werden,
und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden;
und was krumm ist, soll gerade werden,
und was uneben ist, soll ebener Weg werden,
und alles Fleisch wird das Heil Gottes sehen.«

Da sprach Johannes zu der Menge,
die hinausging, um sich von ihm taufen zu lassen:
Ihr Otterngezücht,
wer hat euch gewiss gemacht,
dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet?
Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße;
und nehmt euch nicht vor zu sagen:
Wir haben Abraham zum Vater.
Denn ich sage euch: 

Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken.
Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt;
jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.

Und die Menge fragte ihn und sprach:
Was sollen wir nun tun?
Er antwortete aber und sprach zu ihnen:
Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat;
und wer Speise hat, tue ebenso.
Es kamen aber auch Zöllner, um sich taufen zu lassen, 

und sprachen zu ihm:
Meister, was sollen denn wir tun?
Er sprach zu ihnen:
Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist!
Da fragten ihn auch Soldaten und sprachen:
Was sollen denn wir tun?
Und er sprach zu ihnen:
Tut niemandem Gewalt noch Unrecht
und lasst euch genügen an eurem Sold!


I.
Muss das sein?
Da macht man sich auf den Weg in die Wüste.
Heißer Sand unter den Fußsohlen. Ständig Durst.
Alles verschwitzt. Aber es ist die Sehnsucht, die einen hier raus bringt.
Hierher zu Johannes, dem Täufer.
Sich von ihm taufen lassen. Dann wird alles besser. Ganz bestimmt.
Und dann:
Wüste Publikumsbeschimpfung.
Ihr Otterngezücht. Ihr Schlangenbrut. Was denkt ihr, wer ihr seid?

Muss das sein? Muss das heute sein? Mitten im Advent?
Dieser Johannes ist kein Schokoladenweihnachtsmann,
kein lieblicher Engel und kein Kurrende-Sänger.
Johannes ist ein harter, unbequemer, sperriger Kerl.
Wenn Johannes auftritt, ist erstmal alles andere als eitel Sonnenschein.
Johannes stört.
Er ist die Gegendemonstration zu unserem Ruhebedürfnis.
Er ist  eine Zumutung.

II.
Muss das sein?
Ja, nicht immer muss das sein. Aber vielleicht gerade heute.
Vielleicht gerade in diesem Jahr,
in dem Angela Merkel Bundeskanzlerin ist
und Sigmar Gabriel deutscher Außenminister,
Und in Pforzheim ein neuer Oberbürgermeiste gewählt wurde.
In diesem Jahr, in dem israelische Fahnen abgefackelt werden.
Und Synagogen wieder in Brand gesteckt.
Und in dem Flüchtende in Libyen als Sklaven gehalten werden.
In diesem Jahr, da ergeht das Wort des Herrn.
An uns. Eine Zumutung.

III.
Gerade jetzt brauchen wir so eine Zumutung!
Wir brauchen Menschen, Boten Gottes, Propheten,
die ihren Finger in die Wunde der Welt legen,
dorthin, wo wir lieber nicht so genau hinschauen.

Der Weg wird bereitet, jetzt.
Jetzt - im Advent - heißt es:
hingucken und wegschaffen, was da noch quer in der Landschaft liegt:
Tote Steine und Staub, den wir mitschleppen.
Bäume, schön anzusehen, doch ohne eine Frucht, weil sie nur Fassade sind;
Und am liebsten würden wir sie liegen lassen. Oder einfach nicht hinsehen.
Was sollen wir auch sonst tun?

IV.
Aber du kannst der Welt nicht aus dem Weg gehen, sagt Johannes.
Und du kannst Gott nicht ausweichen.
Denn dieser Gott kommt.
Hierher und heute.
Und wenn du denkst, dass du ja sowieso auf der richtigen Seite stehst:
täusch dich nicht.
Wenn du denkst, dass du ja den richtigen Glauben hast
oder das richtige Parteibuch
oder genügend Einfluss auf die Entscheidungsträger:
Täusch dich nicht.
Und wenn du denkst,
du kannst ignorieren,
dass Hass und Menschenverachtung unser Zusammenleben gefährden:
dann täusch dich nicht!
Gott kommt.
Bereite ihm den Weg. Räum weg, was im Weg steht.
Denn nichts ist sicher.
Und am Ende entscheidet Gott.

V.
Muss das sein?
Johannes, du störst unser adventliches Ringen um etwas mehr Ruhe.
Du stellst alles in Frage, was uns Sicherheit gibt.
Der Weg muss eben sein, denn der Heiland wird zu allen Menschen kommen.
Zu allen.
Nicht nur zu uns, die wir uns auf der richtigen Seite wähnen.
Nein, auch zu denen, auf deren Kosten wir leben.
Oder die wir nicht hier haben wollen.
Oder die stören.
Oder zu denen, die nicht wissen, ob sie ihre Familie hierher holen können.

Was krumm ist soll gerade werden.
Ganze Täler sollen erhöht werden.
Berge und Hügel sollen erniedrigt werden.
Deine Worte sind wie der Wüstensand im Weltgetriebe.
Sie knirschen. Sie reiben.
Sie sind laut, wo wir unsere Ruhe haben wollen.
Und wo es sich nur um uns selbst dreht.

Aber sie lassen auch hoffen.
Darauf, dass es geht.
Dass Gott kommt.
Und dass es besser wird mit uns.

VI.
Was sollen wir denn tun?
Eine bange Frage.
Denn das Wort vom Zorn Gottes steckt in den Knochen
Das Bild von der zerstörerischen Axt geht nicht mehr aus dem Kopf.

Was sollen wir denn tun?
Das ist auch eine gute Frage.
Kein „Da kann man halt nichts machen“ mehr.

Und du, Johannes, antwortest.
Überraschend.
Der große Zeigefinger wird zur offenen Hand.
»Wer zwei Hemden hat, der gebe dem,
der keines hat; und wer Speise hat, tue ebenso. …
Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! …
Tut niemandem Gewalt oder Unrecht …«


Nichts Unmögliches.
Nur das, was die Liebe gebietet.
Das, was du schaffen kannst.
Kein radikaler Verzicht auf das Schöne.
Aber teile, wovon du mehr als genug hast.
Von deiner Zeit. Oder deinem Brot. Oder deinem Geld.
Oder gebe ein oder zwei Euro mehr aus,
damit die Näherin in Bangladesh wirklich was davon hat.
Sei fair und bereichere dich nicht auf Kosten der anderen.
Genügsamkeit statt gierigem Verlangen.
Ist das alles?
Warum nicht?

Es sind die Maßstäbe, die gelten.
Das ist das Maß, an dem wir gemessen werden.
Das Maß der Liebe.
Und das ist immer noch eine Zumutung.
Weil wir uns selber das Maß oft genug nicht gönnen.
Gott verzichtet selber auf alle Ansprüche und Ränge.
Er ebnet alles ein, was uns von ihm trennt.
Räumt Steine und Müll und Schutt und Bäume aus dem Weg.
Und macht so alles möglich.
Aber dann kann es auch anders gehen.
Muss anders gehen.

VII.
Johannes, der Gegendemonstrant gegen unser Ruhebedürfnis,
er kommt mit der Politik der kleinen Schritte.
Der Traum von einer Welt, wie Gott sie will, soll Wirklichkeit werden.
Aber das passiert nicht von heute auf morgen, nicht Knall auf Fall,
sondern in mühsamer und manchmal auch müheloser Kleinarbeit.
Und statt vor den Bergen der unerledigten Ungerechtigkeiten zu erstarren,
lohnt es sich einfach anzufangen.

Einen Brief für Deniz schreiben, der seit über 300 Tagen im türkischen Gefängnis sitzt.
Einen Benefizkinonachmittag organisieren für Shawkat,
damit er seine Familie aus Syrien hierher holen kann.
Mit Trajan von Anwalt zu Anwalt gehen
und von Gericht zu Gericht
und nun darf er endlich bleiben.
Er hat ja schon längst eine Arbeit.
Beim nächsten Mal bei H+M fragen, ob sie auch faire Kleidung haben.
Und ... ja, Zeichen gegen Menschenverachtung setzen,
egal ob der Oberbürgermeister das passend findet oder nicht.*

VIII.
Es lohnt sich, anzufangen.
Es braucht nichts Unmögliches.
Nur das, was die Liebe gebietet.
Umso wichtiger, dass wir sie uns sagen lassen.
Diese Worte, die wie Sand im Weltgetriebe sind.
Die uns losschicken, zu lieben.
Verschwitzt und kleinmütig wie wir sind.
Aber voller Sehnsucht.

Gut, dass es Störenfriede wie Johannes gibt, die uns auf den Weg bringen.
Ein Weg der über Berge und durch Täler geht, hoch und tief.
Und durch die  Wüste, deren Sand uns die Fußsohlen verbrennt.

»Bereitet den Weg des Herrn.«
Muss das sein?
Ja, es muss sein.
Und es wird sein.
Und er, der Herr, wird bei uns sein.

Amen.

*) In der vergangenen Woche hat der Pforzheimer Oberbürgermeister öffentlich die seit 5 Jahren übliche und seit 3 Jahren intensivierte Praxis in Frage gestellt, am 23.2. (dem Tag der Zerstörung Pforzheims am Ende des 2.Weltkriegs) auch deutliche Zeichen gegen die rechtsextreme Instrumentalisierung des Gedenkens zu setzen.

Sonntag, 4. Dezember 2016

Zeichen der Zeit

Predigt zu Matthäus 24,1-14
(mit Dank für einige Formulierungsideen an Alexander Ebel und Birgit Mattausch)

I.
Zeichen der Zeit.
Ein Kirschzweig bleibt am Kleid der Barbara hängen
Auf dem Weg in ihr Gefängnis.
Gefoltert und zum Tod verurteilt bleibt ihr nicht mehr viel Zeit.
Aber sie hat ja diesen Zweig.
Den benetzt sie mit dem Wasser aus ihrem Trinknapf.
Als sie Wochen später abgeholt wird, um hingerichtet zu werden, blüht der Zweig.
“Du schienst tot, aber bist aufgeblüht zu schönem Leben.
So wird auch es auch mit meinem Tod sein.
Ich werde zu neuem, ewigen Leben aufblühen”.

II.
Zeichen der Zeit.
Blätter werden gelb, dann braun. Und sie fallen herab. Bedecken den Boden.
Irgendwann nur noch eine schwarze feuchte Masse.
Kahle Bäume. Kurze Tage. Lange Nächte. Winterzeit.
Aber wir hängen Lichter in die Bäume und Sterne an die Zweige.
Wir zünden Kerzen an.
Zeichen, die was anderes ankündigen.
Zeichen der Liebe - mitten im Winter.

III.
Zeichen der Zeit bei Matthäus:
Und Jesus ging aus dem Tempel fort
und seine Jünger traten zu ihm und zeigten ihm die Gebäude des Tempels.
Er aber antwortete und sprach zu ihnen:
Seht ihr nicht das alles?
Wahrlich, ich sage euch:
Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.

Und als er auf dem Ölberg saß, traten seine Jünger zu ihm
und sprachen, als sie allein waren:
Sage uns, wann wird das geschehen?
Und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?
Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen:
Seht zu, dass euch nicht jemand verführe.
Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen:
Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen.
Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei; seht zu und erschreckt nicht.
Denn es muss geschehen. Aber es ist noch nicht das Ende.
Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben
und ein Königreich gegen das andere;
und es werden Hungersnöte sein und Erdbeben hier und dort.
Das alles aber ist der Anfang der Wehen.

Dann werden sie euch der Bedrängnis überantworten und euch töten.
Und ihr werdet gehasst werden um meines Namens willen von allen Völkern.
Dann werden viele zu Fall kommen
und werden sich untereinander verraten
und sich untereinander hassen.
Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen.
Und weil die Missachtung des Gesetzes überhandnehmen wird,
wird die Liebe in vielen erkalten.
Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig.
Und es wird gepredigt werden
dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt
zum Zeugnis für alle Völker,
und dann wird das Ende kommen.


IV.
Die Zeichen der Zeit machen mir Angst.
Die Zeichen unserer Zeit sind es, die mich umtreiben.

Da bleibt in Aleppo kein Stein mehr auf dem Anderen.
Der 15 jährige namenlose Junge muss weinend seine Mutter begraben
und die kleine Schwester kämpft im halbzerschossenen Krankenhaus ums Überleben.
Auf die Fliehenden fallen weitere Bomben.
Hilflos sehe ich Bilder und die Videos
und weiß nicht, was ich tun kann.
Und ich werde schamesrot,
wenn ich die Erfolgszahlen der baden-württembergischen Rüstungsindustrie sehe.
Zeichen unserer Zeit.

V.
In Pforzheim haben über 25 % die AfD gewählt,
in manchen Stadtteilen sind es über 50%.
Sie haben eine Partei gewählt, die mit der Angst hausieren geht.
Sie haben Angst, weniger zu haben als jetzt, weil Flüchtlinge da sind.
Sie haben Angst, nachts auf die Straßen zu gehen, weil Flüchtlinge da sind.
Sie haben vor dem Islam Angst, weil Flüchtlinge da sind.
Aber wenn man sich die Zahlen anschaut, weiß man, dass diese Angst unbegründet ist.
Niemand hat weniger, weil die Flüchtlinge da sind.
Es ist auf den Straßen nicht gefährlicher geworden.
Und „den“ Islam gibt es sowieso nicht, sondern Muslime, die sehr verschieden sind.
Außerdem gibt es auch christliche und jesidische Flüchtlinge.
Aber das alles spielt keine Rolle mehr. Man hat Angst.
Und will gefälligst ernstgenommen werden. Was auch immer das heißt.
Und so gewinnen die Populisten dieser Welt die Oberhand.
Und diese wollen Frauen zurück an den Herd schicken,
geben der Homolobby die Schuld an allem
und lassen Tausende im Meer ertrinken. Sind ja schließlich selber schuld.
Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen.
Zeichen der Zeit.

VI.
Die Liebe wird in vielen erkalten. So lesen wir bei Matthäus.
Erkaltete Liebe - ein Zeichen unserer Zeit
Eine Liebe, die sich in kahlen Ästen der Bäume verfängt.
Ihr Licht ist erloschen in Reihenhäusern und Eigentumswohnungen,
um deren Wertverlust man fürchtet, weil nebenan eine Flüchtlingsunterkunft entsteht.
Aber man verbrämt es mit der Sorge um Schulräume, die fehlen könnten.
Die Liebe ist erkaltet an den Stammtischen oder auch in der gepflegten Bar,
wo man sich über Kopftücher aufregt,
aber nicht darüber, dass es immer noch zu wenig Sprachkurse für die Neuangekommenen gibt.
Die Liebe ist erkaltet, wo man nicht mehr miteinander redet,
sondern übereinander,
und wo Bischöfinnen und Pfarrer verächtlich beschimpft und bedroht werden,
weil sie sich für den Dialog mit Muslimen einsetzen.
Zeichen unserer Zeit.
Zeichen auch für das Ende der Welt?

VII.
Nein, es sind Zeichen einer Welt, die ist, wie sie ist.
Aber wir hoffen darauf, dass diese Welt, wie sie ist, zum Ende kommt.
Wer aber beharrt bis ans Ende, der wird selig.
Und es wird gepredigt werden
dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt
zum Zeugnis für alle Völker,
und dann wird das Ende kommen.


Zeichen einer neuen Zeit.
Zeichen dafür, dass die Welt, wie sie ist, nicht bleibt, wie sie ist.
Da kommt ein Kind zur Welt -
zwischen Heu und Stroh, Staub und Dreck und tierischen Gerüchen.
Da kommt ein Kind zur Welt und Gelehrte machen sich auf, um dieses Kind zu sehen.
Der Vater des Kindes ist ein Träumer
und bleibt trotz vieler Peinlichkeiten an der Seite seiner Familie.
Seine Mutter, ein junges Mädchen wird zu einer Prophetin
und singt mit kraftvoller Stimme.
Das Kind wird zu einem Mann, der Blinde sehend macht, Taube hörend, Lahme gehend.
Und er lebt die Liebe, die Gott allen Menschen schenkt.
Er lebt diese Liebe noch am Kreuz und Gott bekennt sich zu ihm, der die Liebe ist.
Zeichen einer neuen Zeit.
Zeichen für das Ende einer Welt, die nicht so bleiben soll, wie sie ist.

VIII.
Es gibt Christen, die glauben, dass das Ende der Welt bevorsteht,
weil die Evangelische Kirche nun schwule und lesbische Paare traut
und weil der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sein Brustkreuz verborgen hat.
Und vielleicht haben sie sogar Recht.
Aber anders, als sie denken.
Es sind dies Zeichen für das Ende dieser Welt.
Zeichen dafür, dass die Liebe sich Bahn bricht und aufblüht.
Wo Menschen sich lieben dürfen.
Wo Menschen auf das Rechthaben verzichten.
Und wo sie die Not der anderen sehen.

Ja, ich hätte gerne noch viel mehr Zeichen für das Ende der Welt.
Dass die Liebe eben nicht erkaltet ist.
Lachende Kinder, unbeschwert. Auch in Aleppo oder Jemen.

Jeder hat genug zu essen.

Nicht, dass es nichts mehr zu weinen gäbe
.
Aber dass es für jede Träne jemanden gibt, der sie auffängt und dich mit.

Friedensverträge werden geschlossen und gehalten.
Die Rüstungsindustrie sattelt um, weil sie für ihre Waffen keine Abnehmer mehr hat.

Niemand muss Angst haben.
Jeder Mensch findet eine Heimat und den Schutz, den er braucht.

Und Minderheiten kommen zu ihrem Recht,
ohne dass die Mehrheit an ihren Vorteilen festklebt.
Und die Engel singen zusammen mit uns im Chor.

Es wäre das Ende der Welt, wie wir sie kennen.

Zeichen einer neuen Zeit.

IX.
Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ist schon da.
Mit Christus.
Mit dem Kind im Stall.
Mit dem Sterbenden auf Golgotha.
Mit dem Auferstandenen, der bis zum Ende der Welt bei uns bleibt.
Und du zündest eine Kerze an - an diesen Tagen, die kürzer werden. Und kälter.
Liebe ist da. Klein und doch stark. Neu entfacht. Mitten im Winter.
Und du singst ein Adventslied.
Mit einer glühenden, eine hellen Liebe.

X.
Zeichen der neuen Zeit.
Ein Kirschzweig bleibt am Kleid der Barbara hängen.
Auf dem Weg in ihr Gefängnis.
Gefoltert und zum Tod verurteilt bleibt ihr nicht mehr viel Zeit.
Aber sie hat ja diesen Zweig.
Den benetzt sie mit dem Wasser aus ihrem Trinknapf.
Als sie Wochen später abgeholt wird, um hingerichtet zu werden, blüht der Zweig.
Und zeigt ihr:
Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ist schon da.
Liebe blüht auf, die längst verloren schien.
Sie macht dich selig.

Und der Friede, welcher höher ist als alle Vernunft, 
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Sonntag, 27. November 2016

Mitten ins Leben

Predigt zum 1.Advent und zum Lied "Nun komm, der Heiden Heiland" 

Das Lied wurde während der Predigt gesungen. 
Unmittelbar vor der Predigt sang der Jugendchor eine Vertonung von Jesaja 11
und davor wurde das Evangelium aus Matthäus 21 (Jesu Einzug in Jerusalem) gelesen.
Ein weiterer wichtiger Hintergrund zur Predigt: 
Es war ein gemeinsamer Gottesdienst von 2 Gemeinden, die in den vergangenen Wochen visitiert wurden (= besucht von der Kirchenbezirksleitung). Die beiden Gemeinden werden in Zukunft noch mehr miteinander kooperieren, was in der Vergangenheit immer wieder zu Komplikationen geführt hat.

I.
Der Heiland kommt.
Jesus kommt. Mitten hinein in die Stadt.
Hierher. In den Posaunenchor. In den Jugendchor.
In die Ältestenkreise von M... - und C....gemeinde.
In die Visitationskommission.
In das Quartier.

Der Heiland kommt.
Der, der als König gefeiert und als Messias erhofft wird.
Der, von dem Jesaja sagt und der Jugendchor singt.
Einer mit dem Geist Gottes.
Einer an der Seite der Armen.
Der Heiland mischt Staub und Speichel, um damit einen Tauben hörend zu machen.
Er spricht die Friedensstifter selig
und reitet selber mit provokanter Schlichtheit als Friedensbringer auf einem Esel.
Für ihn werden die Palmen gewedelt und Mäntel in den Staub gelegt.
Tore werden geöffnet und laut hört man das „Hosianna, du Sohn Davids“.
Zöllner klettern seinetwegen auf Bäume und Frauen stiften ihr kostbarstes Öl.
Denn sie freuen sich, dass er kommt.
Dass er in ihr Leben kommt. Mit ihnen zu tun haben will.
Obwohl sie doch überhaupt nicht wichtig sind.
Gerade zu ihnen, die so oft hören: was willst du hier?
Oder: wer bist du schon?

II.
Ja, zu ihnen kommt der Heiland. Und auch hierher in die Kirche.
Festlich und erhaben. Schlicht und bescheiden.
Alles zugleich. So sind wir hier. Und so singen wir zum Heiland:

1. Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, 
    dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt.
2. Er ging aus der Kammer sein, dem königlichen Saal so rein, 

    Gott von Art und Mensch, ein Held; sein' Weg er zu laufen eilt.
3. Sein Lauf kam vom Vater her und kehrt wieder zum Vater, 

    fuhr hinunter zu der Höll und wieder zu Gottes Stuhl.
4. Dein Krippen glänzt hell und klar, die Nacht gibt ein neu Licht dar. 

    Dunkel muß nicht kommen drein, der Glaub bleib immer im Schein.
5. Lob sei Gott dem Vater g'tan; Lob sei Gott seim ein'gen Sohn, 

    Lob sei Gott dem Heilgen Geist immer und in Ewigkeit.

„Nun komm, der Heiden Heiland“ - über lange Zeit der Adventschoral schlechthin.
Gedichtet von keinem Geringeren als Martin Luther im Jahr 1524.
Als Vorlage hatte er dafür einen alten lateinischen Hymnus aus dem 4.Jahrhundert
von Ambrosius aus Mailand.
Im Vorgängergesangbuch vor unserem heutigen
war „Nun komm, der Heiden Heiland“ noch die Nummer 1.
Das war kein Zufall.
Das war Programm. Sozusagen die Ansage für den Advent.
Wer das erste Lied aufschlägt, soll sofort erfahren, worum es geht.
Der Heiland kommt. Mitten ins Leben.

III.
Nun komm, der Heiden Heiland!
Alte Worte, eigentümliche Versform, geballte Theologie.
Die ganze Geschichte der Menschwerdung Gottes in wenigen Strophen.
Und viel zum Stolpern.

Da sind die Heiden.
Ja, die Völker sind das. Die, die eben nicht Israel sind.
Heiden: Kein Negativ-Begriff für die sogenannten Verlorenen,
wie er sich im Laufe der Geschichte entwickelte.
Sondern - ein Wort für alle, die auf der Suche nach Gott sind,
nach Wahrheit und Erlösung, für alle, die nicht sicher sind, ob sie zu Gott gehören.
Heiden sind Menschen auf der Suche nach Gott.
Also ich und du. Wir hier.

Darum, liebe Heiden von Pforzheim, euer Heiland soll kommen.
Der Heiland ist der, der heil macht, der ganz macht, was kaputt ist.
Jesus heilt den blinden Bartimäus und die blutflüssige Frau.
Er richtet die gekrümmte Frau auf und stellt sich vor die Ehebrecherin.
Der Heiland erquickt die mühselig Beladenen und nimmt die Kinder in den Arm.
Er bringt einfache Hirten und weise Gelehrte in einem Stall zusammen,
und kündigt noch am Kreuz den Verbrechern das Paradies an.
Und durch ein Stückchen Brot bringt der Heiland selbst den Feind an seinen Tisch.

IV.
Dieser Heiland lässt nicht alles beim Alten.
Er kommt, um zu bewegen. Die, die ihn suchen. Die Gott suchen.
Er kommt und bringt Menschen zusammen, die von alleine nicht auf die Idee kommen würden.
Er wendet ihren Blick von sich auf die anderen, auf die, die Hilfe brauchen.
Und dafür genügt ein Glaube, der so klein ist wie ein Senfkorn.

Und darum macht er sich selber ganz klein.
Der Heiland kommt mitten hinein ins Leben.
Dort wo es nur allzu menschlich zu geht.

Wir singen nocheinmal die Strophen 2 und 3:
2. Er ging aus der Kammer sein, dem königlichen Saal so rein, 
    Gott von Art und Mensch, ein Held; sein' Weg er zu laufen eilt.
3. Sein Lauf kam vom Vater her und kehrt wieder zum Vater, 

    fuhr hinunter zu der Höll und wieder zu Gottes Stuhl.

V.
Der Heiland kommt mitten hinein ins Leben.
Gott bleibt nicht im Himmel, sondern wird Mensch.
Gott und Mensch kommen zusammen
Königlicher Saal und jämmerlicher Stall -
Himmel und Hölle,
Dunkel und Hell.
Galadinner und Vesperkirche.
Stroh und Palmenzweige.
Weihnachtsoratorium und Klagegesang.
„Macht hoch die Tür“ und „Auch wer zur Nacht geweinet“
Hosianna und Kreuziget ihn.
Alles das. Alles das ist das Leben. Unser Leben.
Und da hinein, in dieses Leben mit allem, was es so liebenswert und grausam macht, begibt sich der menschgewordene Gott.

Der Heiland ist göttlich anders und doch menschlich wie wir.
Es genügt, dass er das Kind einer einfachen jungen Frau ist,
die Jungfrau - mehr braucht es nicht, um Heiland für die Menschen zu sein,
keine mächtigen Männer, keine großen Herrscher oder Ahnentafeln.
Kein Pass über eine legale Einreise. Kein Adelsprädikat.
Keine Unterhaltserklärung. Kein Beweis.
Sondern das Menschsein pur.
Schwach wie ein Kind, aber gerade in dieser Schwäche stark.
Gefährdet wie ein schutzloser Säugling. Und gerade deshalb glaubwürdig.
Geboren in einer Absteige und schmachvoll sterbend draußen vor den Stadtmauern.
Und gerade dadurch der Hoffnungsträger derer, die an den Rändern unserer Gesellschaft leben.

VI.
Nun komm, der Heiden Heiland!
Der Heiland kam mitten ins Leben von Martin Luther.
Das hat ihm die Augen geöffnet.
Ein Gott, der ganz an meiner Seite ist, der sich in mein Leben begibt, das ist ein gnädiger Gott.
Das ist ein Gott, der mich frei macht von der Angst, etwas nicht richtig zu machen.
Denn auch das, was ich falsch mache, trägt er mit.
Dieser Heiland, der mitten ins Leben kommt, ist kein gleichgültiger Gott.
Er lebt mit. Er weint mit. Freut sich mit.
Lacht. Genießt. Er jubelt. Und klagt.
Der Heiland kommt mitten ins Leben.
Und er bewegt. Weil er verändert. Neu macht.
Weil der Himmel aufgerissen wird.
Weil Himmel und Erde zusammenkommen.
Und das sollte sogar die Kirche verändern.

So wird es auch hier geschehen. In den Gemeinden der XRegion.
Der Heiland kommt - mitten in die Xregion.
Und er bewegt. Er führt euch hier zusammen. Und verändert euch.
Euch, die ihr Gott sucht und die ihr zweifelt und klagt
und die ihr euch freut und mal etwas Neues ausprobiert, egal ob es Erfolg hat.
Er öffnet euch die Augen füreinander.
Er lässt euch sehen, was die anderen brauchen von euch.
Was ihr voneinander braucht und was ihr einander geben könnt.

Der Heiland lässt euch gemeinsam neue Wege gehen.
Dorthin, wo die anderen Gottsucher sind.
Mutig, denn eure Ängste könnt ihr ihm überlassen.
Und das, woran euer Herz hängt, auch.
Wenn euer Glaube so groß ist, wie ein Senfkorn, genügt es.

Der Heiland kommt - und reißt die Himmel auf.
Denn er kommt mitten ins Leben. In deins und meins.
Amen.

Lied: O Heiland, reiß die Himmel auf....

Sonntag, 6. November 2016

Niemand ist eine Insel

Predigt zu Römerbrief 14, 7-9 - gehalten in der Stadtkirche am 6.11.2016
(auch ein Beispiel einer Predigtwerkstatt. Darum Danke an Peter Krogull, Michaela Jecht und Rene Enzenauer. 
Und wichtig: vor der Predigt wurden 2 Mädchen getauft!)
 
Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Denn wenn wir leben, so leben wir dem Herrn.
Und wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
so sind wir des Herrn!
Denn das ist der Grund, warum Christus gestorben ist
und wieder lebendig wurde:

Er sollte der Herr sein über die Toten und die Lebenden.

I.
Will Freeman (1) ist ein freier Mann. 36 Jahre alt. Single. Wohlhabend. Er lebt in einem tollen Haus in London. Muss noch nicht mal arbeiten. Denn Geld verdient Will Freeman ganz automatisch. Sein Vater hat nämlich mal ein Lied geschrieben, das ein großer Weihnachtshit in England wurde. Einen Teil seines Tages verbringt er nun damit, dieses Geld wieder auszugeben, zum Beispiel für teure Turnschuhe. Einen zweiten Teil seines Tages verbringt Will vor dem Fernseher mit seinen Lieblingssendungen. Streit um die Fernbedienung gibt es dabei nicht. Will lebt ja alleine. Wenn er mal Lust auf Zweisamkeit hat, macht sich der gutaussehende Will gezielt auf die Suche nach Frauen, die leicht zu haben und - noch wichtiger - leicht loszuwerden sind.
„Ich bin eine Insel - ich brauche niemanden“, sagt er trotzig. „Und das ist gut so.“
Will Freeman - frei und unabhängig, einer der sich selbst lebt - Hauptfigur im Roman „About a Boy“ von Nick Hornby.

Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Denn wenn wir leben, so leben wir dem Herrn.
Und wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
so sind wir des Herrn!


II.
Einmal leben können wie Will Freeman.
Ohne Verpflichtungen. Ohne Abhängigkeiten.
Ohne Terminkalender. Ohne Schule oder Chef oder Eltern oder Kinder.

Einmal alles loslassen. (2)
Und die Pflicht rufen lassen.
Die Fäden lösen,
die mich festbinden an mein tägliches „Sollen“ und „Müssen“
Einmal frei sein von allen .
Einmal ohne das „Du“ und das „Wir“.
Einmal tun und lassen können.
Einmal ich selbst sein können.
Sich selbst leben können.

Reizvoll?
Für die Familien J. und M. vielleicht schon. (3)
Wer nachts geweckt wird, um das schreiende Baby zu beruhigen, sehnt sich danach, wieder allein sein zu können.
Wer für einen Ausflug ins Grüne umständlich alle Babysachen im Kinderwagen verstauen muss - wer dafür den richtige Zeitpunkt für den Mittagsschlaf abpassen will, denkt mit Wehmut zurück als nur die eigenen Handschuhe und Schuhe nötig waren.

Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.


III.
Will Freeman lernt Marcus kennen, einen zwölfjährigen Jungen - so ziemlich das Gegenteil von ihm: Marcus hat keinen reichen Vater, sondern nur eine arme Mutter, noch dazu depressiv. Keine freie, unbeschwerte Kindheit. Zu früh erwachsen.
Beide, Will und Marcus, ziehen einen Nutzen aus Ihrer Verbindung:
Will gibt Marcus ab und zu als seinen Sohn aus, um als angeblich alleinerziehender Vater besser bei alleinerziehenden Müttern zu landen. Marcus darf dafür bei Will nachmittags Fernsehen gucken. Die ersten Fäden werden gesponnen.

Will lernt diesen merkwürdigen Jungen kennen und er wächst ihm ans Herz.
Marcus ist ein Außenseiter in seiner Schule. Das tut Will irgendwie leid.
Und so wird der jugendlich wirkende Erwachsene ein Lehrer für den aus der Zeit gefallenen Jugendlichen -  erteilt ein paar Lektionen in Jugendkultur und Coolness.
Marcus wiederum zeigt Will, dass das Leben aus mehr als Turnschuhen und Coolness besteht.
Die Fäden werden immer dicker, immer fester.
Am Ende ist alles anders und neu. Und viele Fäden sind da.
Der ernsthafte Junge Marcus entdeckt durch Will das unbeschwerte Kind in sich.
Der berufsjugendliche Will lernt durch Marcus, was Verantwortung bedeutet.
Und kann sich auf einmal richtig verlieben.

Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Denn wenn wir leben, leben wir für den Herrn.
Und wenn wir sterben, sterben wir für den Herrn.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
immer gehören wir dem Herrn!


IV.
Niemand ist eine Insel.
Und wer die eigene Insellage aufgibt, verliert nicht, sondern gewinnt:
ein Leben voller Geheimnisse, die man noch nicht kennt.
Fremde Gedanken, die weiterführen.
Liebe, für die ich mich nicht verstellen muss.

Keiner lebt nur für sich selbst.
Du hängst an 1000 Fäden. Immer. (4)
Von Anfang deines Lebens an.
Und manchmal ist das gut.
Denn 1000 Fäden geben Halt und Wärme,
Sie geben Nähe und Geborgenheit.
Die Fäden, die dich halten,
sie lehren dich die Welt verstehen.
Sie zeigen dir, wie Lachen geht.
Sie nehmen dich an die Hand,
damit du auf eignen Füßen laufen lernen kannst.
Die 1000 Fäden, die dich umweben,
sie können deine Tränen trocken, wenn du weinst.
Sie können trösten und dir sagen: Es wird am Ende alles gut.
Sie zeigen dir, was Liebe ist.
Und sie nehmen dir die Einsamkeit.
Und wenn du irgendwann einmal im Sterbezimmer liegst,
Wenn der Tag gekommen ist, an dem du dann zum letzten Mal
die Sonne aufgehen siehst,
selbst dann noch ist mindestens ein dicker, großer Faden da.
Der von Gott.
Mit ihm bist du verbunden. Von Anfang an.
Der Faden, mit dem du mit Gott verbunden bist, der bleibt.
Er reißt nicht. Nie. Egal was du tust.
Und egal was andere sagen.
Denn das ist der Grund, warum Christus gestorben ist
und wieder lebendig wurde:
Er sollte der Herr sein über die Toten und die Lebenden.


V.
Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.


Du bist mit Gott verbunden.
Von Anfang an. Und bis zum Ende.
Und du bist keine Insel, sondern mit der Welt verbunden.

Mit den Menschen.

Ein jeder lebt für den anderen.
 Lebt vom anderen.
 (5)
Vom „Guten Morgen“ beim Bäcker.
Von dem Lächeln der Kassiererin.
Von der Umarmung der Geliebten.
Du lebst von den Näherinnen in Bangladesh
und von den Kindern, die in Indien deinen Müll sortieren.
Du lebst von dem Krankenpfleger, der letzte Nacht gearbeitet hat,
und von der Politikerin, die über gerechtere Löhne nachdenkt.

Keiner von lebt nur für sich selbst.

Und du hängst an tausend Fäden.
Wie Paulus.

Der sitzt und schreibt an Menschen, die sich nicht verbunden fühlen.
Die unterscheiden zwischen „die da“ und "wir",

zwischen "ich" und "die glauben nicht richtig".
Er schreibt an Christen, die vergessen haben, dass sie verbunden sind.
So wie heute das viele vergessen und wieder unterscheiden
zwischen „die da“ und „wir“,
und die sagen, dass „die da“ nicht dazu gehören.
Die da - die hierher geflohen sind
Die da - mit der anderen Hautfarbe. Mit dem anderen Glauben.
Die da, anders lieben oder gleich lieben.
Aber diese Unterscheidung zählt bei Christus nicht.
Denn durch Gott sind wir verbunden.
Ob wir wollen oder nicht.

VI.
Und genau dafür ist einer gestorben.
Christus. Der Herr über die Toten und die Lebenden.
Er hat nicht für sich selbst gelebt. Sondern ganz nah an den anderen.
Mit seiner Liebe. Ohne ein „die da“.
Er ist darum auch nicht sich selbst gestorben.
Sondern dafür, dass es kein „die da“ und „wir“ mehr gibt.
Dafür, dass niemand für sich selbst bleiben muss,
sondern verbunden ist mit Gott - egal, was andere sagen oder tun.

Ob wir also leben oder ob wir sterben –
so sind wir des Herrn!


Verbunden mit Gott bist du frei, deine Fäden zu spannen.
Ob es der 12jährige Marcus ist, der neue Fäden zu Will Freeman spannt.
Oder V. und G. (6)
Ob du der Papst bist und nach Lund gehst, um neue Gemeinsamkeiten mit den Protestanten zu entdecken. (7)
Oder ob du ein bayrischer Dekan bist, der den Vorsitzenden vom Zentralrat der Muslime in seine Kirche einlädt. (8)
Ob du als Frau eine Frau liebst, oder als Mann einen Mann, oder als Frau einen Mann.
Du bist verbunden mit Gott.
Und darum freier als Will Freeman.

Du bist frei und verbunden. Mit Gott. Mit den anderen.
Verbunden mit Gott lebst du die Liebe zu den anderen.
Verbunden mit Gott gibt es für dich kein „die da“.
Denn auch „die da“ sind verbunden mit Gott.
Gehören zu ihm, ob sie leben oder sterben. Wie du.

Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Denn wenn wir leben, so leben wir dem Herrn.
Und wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
so sind wir des Herrn!


Und das macht dich wirklich frei.
Amen.

(1) danke an Peter Krogull für die Idee und die Anregungen zur Geschichte über Will Freeman aus "About a boy" (Pastoralblätter Nov.2016) - ich bin froh, dass ich den Roman vor einigen Jahren selber gelesen habe, darum hatte ich sofort ein Bild vor Augen. Der Roman wurde 2002 verfilmt mit Hugh Grant und Toni Colette.
(2) die folgenden Zeilen habe ich von Michaela Jecht 
(3) Das sind die Tauffamilien
(4) Der folgende Abschnitt ist wesentlich bestimmt von Formulierungen von Rene Enzenauer, der widerum Ideen von Michaela Jecht weiterverarbeitet hat. Vor allem die Idee mit den Fäden stammt von ihr.
(5) Im Folgenden wieder viele Ideen von Michaela Jecht, die ich weitergesponnen habe
(6) die Täuflinge
(7) http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-10/reformation-lund-papst-franziskus-bundespraesident-joachim-gauck
(8) http://n-land.de/news/altdorf/kluge-und-differenzierte-worte-als-einstieg-zum-dialog

Sonntag, 30. Oktober 2016

Bürgerrecht im Himmel - für alle

Predigt zu Philipper 3,20-21 - gehalten am 30.10.2016 in Mühlhausen
(vor der Predigt Lesung von Lukas 19,1-10 (Zachäus))

I.
„Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“ - der Gänsehautmoment von Zachäus.
Denn auch er ist ein Sohn Abrahams“.
Ja, ich gehöre dazu! Muss Zachäus gedacht haben - innerlich jubelnd.
Endlich gehöre ich wieder dazu!
Ich - der Kleine, der Betrüger, der mit den Großen kungelt.
Ich - der Einsame, der sich selber ausgeschlossen hat.
Ich gehöre wieder dazu.
Jesus sagt das. Jesus isst mit mir. Jesus ist mein Gast. In meinem Haus.
Und ich fange neu an.
Ich kann so sein wie die, die zu ihm gehören. Wie die, die zu Gott gehören.

II.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Von dort her erwarten wir auch den Retter, den Herrn Jesus Christus!
Er wird unseren armseligen Leib verwandeln,
sodass er seinem eigenen Leib gleicht –
dem Leib, der die Herrlichkeit Gottes sichtbar werden lässt.
Dazu hat er die Macht –
wie er auch die Macht hat, sich alles zu unterwerfen.

(Philipper 3,20-21 - nach der Übersetzung der Basisbibel)

Ich gehöre dazu. Ich gehöre zum Himmel.
Jetzt schon. Nicht erst morgen oder erst wenn ich tot bin.
Im Himmel bin ich zuhause. Für dort habe ich einen Pass.
Meine Staatsbürgerschaft. Und die sagt mir: Du gehörst dazu.
Du - mit deinen Macken, mit deinen Fehlern, mit deiner Sehnsucht, mit deiner Einsamkeit.
Du - die du dich immer wieder ausschließt.
Du hast schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Da bist du zuhause.

III.
Zuhause.
Mehr als die 4 Wände, in denen du lebst.
Zuhause - dort wo du du bist.
Mit Jogginghose und dicken Socken.
Mit der Zeitung neben dem Bett und den Staubflusen unter dem Schrank.
Mit den Fotos, die dich an früher erinnern,
und dem Stuhl, der mal wieder überquillt vor lauter Klamotten.
Zuhause.
Wo der Streit mit der Tochter noch in der Luft hängt.
Aber auch die Umarmung danach.
Wo das das Licht im Flur auch nachts anbleibt.
Wo der kleine Zettel am Kühlschrank dir ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
„Du schaffst das“ sagt er dir jeden Morgen.
Zuhause.
Da bist du.
Ungeschminkt. Unrasiert. Mit verquollenen Augen. Mit fettigen Haaren.
Zuhause.
Frisch geduscht und ausgeschlafen.
Da ist der Kaffeeduft und der Kuchen warm aus dem Ofen.
Klaviertöne aus dem Erdgeschoss. Tatort am Sonntagabend.
Zuhause.
Da wohnst du. Da bist du. Da darfst du sein.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.

IV.
Wer kein Zuhause hat, ist arm dran.
Nach dem 2. Weltkrieg hatten viele kein Zuhause mehr.
Ihr Zuhause war zerstört, zerbombt.
Sie mussten es zurücklassen. Verlassen. Verloren.
Ein neues Zuhause suchen.
Und die meisten fanden ein neues Zuhause. Aber es war nicht leicht.
Neue Wurzeln schlagen. Sich neu einrichten. Wieder ich sein dürfen.
Den Boden unter die Füße bekommen. Auch dort, wo es fremd ist.
Das braucht Zeit, und nicht alle haben es geschafft.
Sie blieben unbehaust - zumindest innerlich.

Wer kein Zuhause hat, ist arm dran.
Die ins Wichernhaus kommen
und wenigstens für ein paar Nächte ein Dach über dem Kopf haben.
Die im Benkiserpark schlafen müssen. Der Alkohol lenkt sie ab.
Die im Fußgängertunnel vom Hauptbahnhof am Rand sitzen und auf ein paar Münzen hoffen. Oder die gar zu einer Kolonne gehören und am Abend alles Erbettelte wieder abgeben müssen.

Wer kein Zuhause hat, ist arm dran.
Und dann sind da auch noch die, die aus ihrem Land hierher fliehen. Die ein neues Zuhause suchen. Ein sicheres Zuhause. Wo keine Bombe drauf fällt. Wo keine Granate hineinrollt.
Wo keine Maschinengewehre dröhnen.
Wo keine Taliban an die Tür hämmern und dich mitnehmen wollen.

Du gehörst nicht hierher. Das hören sie nicht nur einmal.
Die Obdachlosen und die Flüchtlinge.
Geh weg. Hau ab. Mach, dass du davon kommst.
Du gehörst nicht hierher.

Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.

V.
Zuhause sein. Dazu gehören. So wie du bist.
Und wenn der Himmel dein Zuhause ist, dann gilt das erst recht.
Alles, was wir als Zulassungsbedingungen festlegen, gilt dort nicht.
Auch wenn wir es uns nicht vorstellen können.
Dass ein Zachäus dazu gehören sollte, war unvorstellbar.
Und so wird hinterher auch heftig gemurrt.
Dass die Kinder dazu gehören sollten, war unvorstellbar.
Sogar für die Jünger und Jüngerinnen Jesu.
Dass Frauen dazu gehören sollten oder gar Gemeindevorsteherinnen werden könnten, war unvorstellbar. Aber von Anfang an predigten sie und leiteten sie die Gemeinden. Nur wollte man das später nicht mehr wahrhaben.
Dass Schwule und Lesben dazu gehören, war und ist für viele heute noch unvorstellbar. Aber Gott hat sie gewollt, so wie sie sind.
Ihre Sexualität spielt für die Einreiserlaubnis in den Himmel keine Rolle.

Die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke hat das vergangenen Sonntag in der Paulskirche auf ihre Weise gesagt:
„So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen, ganz gleich, was uns sonst noch auszeichnet oder unterscheidet, ganz gleich, welche Fähigkeiten oder Unfähigkeiten, welche Bedürfnisse oder Eigenschaften uns vielleicht viel mehr bedeuten. So verbindet sich etwas, das uns glücklich macht, etwas, das uns schön oder auch angemessen erscheint, mit etwas, das uns verletzt und wund zurücklässt. Weil wir immer noch, jeden Tag, Gründe liefern sollen dafür, dass wir nicht nur halb, sondern ganz dazugehören. Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit.“ (...)
„Manchmal frage ich mich, wessen Würde da beschädigt wird: unsere, die wir als nicht zugehörig erklärt werden, oder die Würde jener, die uns die Rechte, die uns gehören, absprechen wollen?“

VI.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Dort sind wir zuhause.
Keiner von uns kann anderen absprechen dazu zugehören.
Kein Priester. Keine Dekanin. Kein Präsident. Keine Partei.

Aber ist das dann noch ein Zuhause?
Wo auch die zuhause sind, die so ganz anders sind als ich.
Auch die, die ich nicht mag. Oder vor denen ich Angst habe. Oder die mich ärgern.
Auch die haben schon jetzt ein Bürgerrecht im Himmel?

Paulus sagt: ja!
Die einzige Bindung, die noch zählt, ist die an Jesus Christus.
Doch dabei geht es nicht um Rechtgläubigkeit, die uns den Einlass gewährt.
Das wäre eine Schranke, die wir Menschen aufstellen.
So wie damals die Philipper oder die Galater das wollten.
Wenn du rechtgläubig bist und die Gebote XY befolgst, erst dann gehörst du dazu.
Vorher nicht.
Genau das lehnt Paulus ab.
Gott öffnet sein Zuhause für alle.
Denn die Liebe Gottes, wie Jesus sie gelebt und erlitten hat, die gilt jedem Menschen.
Diese Liebe kannst du nicht einschränken.
Denn:
Dazu hat er die Macht –
wie er auch die Macht hat, sich alles zu unterwerfen.
Er wird unseren armseligen Leib verwandeln,
sodass er seinem eigenen Leib gleicht –
dem Leib, der die Herrlichkeit Gottes sichtbar werden lässt.


VII.
Die Unterscheidungen, die wir uns so gerne machen - die gelten in Christus nicht mehr.
Auch nicht mehr das, was uns vermeintliche Sicherheit gibt.
Nationalität oder Herkunft spielen keine Rolle mehr.
Es gilt nicht mehr die Unterscheidung in Juden und Heiden
oder in Freie und Unfreie, in Arme und Reiche.
Und das gilt nicht nur für den Himmel, sondern auch für die Erde.
Für jetzt und hier. 
Eine doppelte Staatsbürgerschaft für dich und mich. Ein Zuhause im Himmel.
Für einen Leib, der die Herrlichkeit Gottes sichtbar werden lässt.

Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Du bist gut genug für den Himmel. Da bist du zuhause.
Mit den Staubflusen und ungeschminkt und unrasiert. So wie du bist.
Und deine Nachbarin auch.
Ihr werdet den Himmel nicht auf die Erde holen können.
Aber ihr könnt ihn sichtbar werden lassen. Die Erde zur Wohnung Gottes machen.
Diese Erde mit ihren Grenzen und Schablonen und Einteilungen und Unterscheidungen.
In dieser Erde mit Gott Zuhause sein.
Mit himmlischer Gastfreundschaft, die sogar einen Zachäus überzeugt.

VIII.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Neu hinschauen. Anders sein. Grenzen überwinden.
Türen öffnen und Nein sagen, wo Andere ausgeschlossen werden.
Wie in Steinegg, wo eine ganze Klasse dem Flüchtlingsmädchen Seara eine neue Heimat gab.
Sich neu begegnen.
Ob es ein Zachäus ist. Oder eine Fremde. Oder der, der anders glaubt.

Caroline Emcke sagt es so:
„Wir können neu anfangen und die alten Geschichten weiterspinnen wie einen Faden Fesselrest, der heraushängt, wir können anknüpfen oder aufknüpfen, wir können verschiedene Geschichten zusammen weben und eine andere Erzählung erzählen, eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder wichtig ist.“

Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“ - der Gänsehautmoment von Zachäus.
Endlich gehöre ich wieder dazu!
Und nicht nur er.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Amen.

Montag, 24. Oktober 2016

Da ist Freiheit! Und auf die müssen wir aufpassen.

Ansprache zum Badischen Pfarrer/innen-Tag in Pforzheim (24.10.2016) zum Baden-Württembergischen Motto des Reformationjubiläums

I.
Da ist Freiheit! - ein schon fast trotziger Ausruf.
Da und da und da. Siehst du sie nicht?
Da, wo Menschen öffentlich sagen dürfen, was sie denken, da ist Freiheit.
Da, wo Menschen glauben dürfen, was sie wollen, da ist Freiheit.
Da, wo Menschen anziehen dürfen, was sie möchten, da ist Freiheit.
Da, wo sie lernen dürfen und lesen, egal ob Mädchen oder Junge.
Da, wo sie einen Beruf wählen können, der ihren Begabungen entspricht.
Da, wo sie lieben dürfen, wen sie wollen, ob Mann oder Frau.
Da ist Freiheit.

II.
Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (2.Kor 3,17b) - der Monatsspruch für Oktober.
Dass diese Freiheit nichts mit Ungebundenheit zu tun hat, mit Laissez-faire sozusagen,
das ist für Paulus klar, der diese Worte an die Gemeinde in Korinth richtet.
Freiheit heißt für Paulus:
Wir erkennen Gott mit seiner ganzen Liebe in Jesus Christus. Indem wir uns zu Christus zugehörig wissen, lassen wir uns von seinem Geist leiten und von sonst nichts. Und nichts anderes muss uns dann noch binden, knechten, knebeln.

Freiheit und Zugehörigkeit gehören zusammen.
Freiheit und Bindung.

Spannend dazu die gestrige Rede der Friedenspreisträgerin Carolin Emcke.
Sie denkt über den Begriff Zugehörigkeit nach und wie Zugehörigkeit funktioniert.
So spricht sie von ihrer Sexualität
und von der Erfahrung, darum gerade nicht immer dazu zugehören,
also ausgegrenzt zu werden.
Dabei gehört es doch gerade zum Wesen einer freiheitlichen Gesellschaft, dass Menschen wegen ihrer Verschiedenheit gerade nicht ausgegrenzt werden.
Sondern dazugehören. Weil Freiheit nur so funktioniert.

Und so beschreibt sie Freiheit als
die „Freiheit, etwas anders zu glauben, etwas anders auszusehen, etwas anders zu lieben, die Trauer, aus einer bedrohten oder versehrten Gegend oder Gemeinschaft zu stammen, den Schmerz der bitteren Gewalterfahrung eines bestimmten Wirs –  und die Sehnsucht, schreibend eben all diese Zugehörigkeiten zu überschreiten, die Codes und Kreise in Frage zu stellen und zu öffnen, die Perspektiven zu vervielfältigen und immer wieder ein universales Wir zu verteidigen.“

III.
Da ist Freiheit!
Indem ich Menschen eine Zugehörigkeit verweigere, spreche ich ihnen auch ihre Freiheit ab, so sein zu dürfen, wie sie sind.
Und ich spreche ihnen ab, mit ihrem Sosein die Welt gestalten zu können.
Wo Menschen wegen ihrer Sexualität ausgegrenzt werden, da ist Unfreiheit.
Wo Andersgläubige unter dem Generalverdacht stehen, extremistisch zu sein, da ist Unfreiheit.
Wo Frauen der Zugang zu Ämtern verwehrt wird, wie seit diesem Sommer wieder in Lettland, da ist Unfreiheit.
Und wo Unfreiheit ist, da ist nicht der Geist Gottes!

Gerade dagegen hat sich die Reformation gewandt:
dass Menschen der Zugang verweigert wird.
Dass es vermeintliche Autoritäten gibt, die bestimmen, wer zu Gott gehört und wer nicht.
Und diese Autoritäten oder auch Herrschaften waren und sind immer sehr findig,
wenn es darum geht, andere in zugehörig und nicht zugehörig einzuteilen.
Ob es der Ablass ist oder die Steuer,
ob die Religionszugehörigkeit oder die Hautfarbe,
ob das Geschlecht oder die Angepasstheit oder die Kleidung.
Und leider sind auch die reformatorischen Kirchen immer wieder in dieses allzu menschliche Einteilungsverhalten hineingerutscht.

Da ist Freiheit!
Ja, sie ist verletzlich, diese Freiheit. Verletzlich und gefährdet. Mehr denn je, wo der Ungeist der Ausgrenzung wieder um sich greift.

IV.
Dieser Ungeist widerspricht fundamental dem protestantische Bekenntnis zur Gnade Gottes:
Kein Mensch kann mich aus der Gemeinschaft mit Gott ausschließen.
Gott selbst richtet seinen Bund auf.
Gott selbst geht die Verbindung mit mir ein.
Gott selbst nimmt mich als sein Kind an.
Und diese Gotteskindschaft kann mir keiner absprechen:
kein Papst, kein Fürst, kein Staat, kein Wutbürger,
keine Behörde, keine Schule, keine Armee, keine Partei.
Ich gehöre zu Gott - und darum bin ich frei, die zu sein, die ich als Gotteskind bin.

Da ist Freiheit!
„Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut“, sagt Carolin Emcke in ihrer Friedenspreisrede.
Freiheit ist „etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.“

Da ist Freiheit! Da, wo der Geist Gottes ist.
Der Geist der Gotteskindschaft.
Der Geist der Vergebung.
Der Geist der Gottesfamilie,
zu der wir alle gehören und von der wir niemanden ausschließen.
Da, wo dieser Geist Gottes Raum greift, wo er nicht behindert wird, da ist Freiheit.
Da und hier, dort und auch dahinten.
Da ist Freiheit! Passen wir auf sie auf.
Amen.




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Das Lied vom anderen Leben
(Text von Traugott Schächtele, nach der Melodie „Die güldne Sonne“ zu singen)

Ich will dem Leben, das mir gegeben,
mit Herz und Sinnen nachspür’n; beginnen
dem, was in mir liegt, ganz fest zu vertrau’n.
Ich will neu sehen, die Schritte jetzt gehen
auf deinen Wegen und unter dem Segen,
der mich begleitet. Auf dich will ich bau’n

Wo ich geschunden, will ich gesunden
an Leib und Seele, dass mir nichts fehle,
was meinem Leben fest Halt gibt und Grund.
Ich will jetzt fragen, will mutiger wagen,
neu zu gestalten, wo Kräfte noch walten,
die nur vertrauen vergangener Stund’.

Frei kann ich glauben, dem Bösen rauben
sein lähmend’ Wesen. In neuen Thesen
sprech’ ich von dem, der die Kirche bewegt.
Will frei bezeugen, mich nie wieder beugen
ängstlichem Sorgen, genieße den Morgen
den Gott mir heut’ in mein Leben gelegt.

Vom Paradiese träum ich und fließe
in neues Werden. Mitten auf Erden,
schafft deine Schöpfung im Wandel sich Raum.
Grenzen zu schieben, den Nächsten zu lieben,
bin ich berufen, und steig’ meine Stufen,
zu neuen Höhen und leb’ meinen Traum!



Samstag, 22. Oktober 2016

Stadt der Frauen - Tischrede beim Frauenmahl in Pforzheim

I.
Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg.
Machet Bahn! Machet Bahn! Räumt die Steine hinweg!
Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
Siehe, Gott lässt es hören bis an die Enden der Erde:
Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! (...)
Dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“ (Jes 62,10-12)


Die Stadt ist eine Frau!
Sie wird nicht nur bewohnt von Frauen, sie ist eine Frau.
Zumindest wenn es nach dem Propheten Jesaja geht.
Jerusalem - Stadt des Friedens, des Schaloms.
Tochter Zion. Braut Gottes. Königin und geachtete Mutter.
Eine schöne Frau ist sie.
Gezeichnet vom Leben, Leid erprobt, aber letztlich geliebt und vor allem standhaft.
Die Stadt der Zukunft. Die Stadt, die attraktiv ist.
Denn zu ihr strömen die Völker und niemand hat Angst vor diesem Strömen.
Von dieser Stadt geht der Frieden aus.

II.
Gehet ein durch die Tore! Machet Bahn! Räumt die Steine hinweg!
Richtet ein Zeichen auf für die Völker!


Mich fasziniert dieses Bild.
Und eine Stadt, in der ich als Frau lebe, soll genauso sein.
Eine Stadt mit offenen Toren und Türen,
wo Menschen willkommen sind
und die Steine weggeräumt sind, die uns hindern, dass wir aufeinander zugehen.

Ich denke weiter
und habe Frauen und Männer vor Augen, die einander zuhören und ausreden lassen.
Die sich über Fremde freuen und sie mitgestalten lassen.
Die aufeinander achten und gemeinsam dafür sorgen, dass es allen gut geht
und nicht nur denen, die immer schon das Sagen haben.

Ich habe vor Augen, dass die Unterschiedlichkeit der Bewohner und Bewohnerinnen als Reichtum gesehen wird. Und dass alle sich gleichermaßen verantwortlich fühlen, die Stadt zu gestalten.

Ich habe vor Augen, dass in dieser Stadt des Friedens kein Mensch abgewertet wird,
dass der Minirock genauso dazu gehört wie das Kopftuch,
dass das Kinderlachen laut ist,
dass Bäume gepflanzt werden und Blumen wild ausgesät.
Und auch die Rentnerinnen können gut leben in ihr.

Ich habe vor Augen, dass in dieser Stadt fröhliche Gottesdienste gefeiert
und nachdenkliche Gebete gesprochen werden,
dass lebhaft gestritten wird - aber immer mit Respekt -,
und dass alle um die Schatten der Vergangenheit wissen
und diese als Auftrag begreifen, dass die Vergangenheit Vergangenheit bleibt.
Das Weinen hat in dieser Stadt genauso seinen Platz wie das Lachen.
Und niemand wird klein oder mundtot gemacht.
Frauen dürfen in dieser Stadt den Mund aufmachen
und gleichberechtigt mit den Männern leiten und führen.

III.
Für Jesaja ist es eine Vision, ein Bild der Zukunft. Und das ist es für mich auch.
Denn die Gegenwart sieht anders aus.
Aber ich möchte dieses Bild der Zukunft bereits jetzt leben.
Und ich sehe, dass diese Stadt der Zukunft auch immer wieder aufblitzt. Jetzt.
Das macht mir Mut.

Es macht mir Mut, dass wir mittlerweile fast(!) selbstverständlich Bürgermeisterinnen, Unternehmerinnen, Professorinnen, Rektorinnen, Leiterinnen von Kulturhäusern und Kinos und Theologinnen in unserer Stadt haben.

Es ärgert mich, wenn in der Öffentlichkeit immer noch die Schuhe von Frauen wichtiger sind, als das, was sie sagen. Aber es macht mir Mut, dass wir dafür sensibler geworden sind und es nicht mehr einfach hinnehmen.

Es trifft mich persönlich, wenn in der Medienwelt ein einseitiges Bild von mir gezeichnet wird und sogar gewünscht wird, ich solle diese Stadt verlassen. Aber es macht mir Mut, dass der Widerspruch dazu laut und deutlich vernehmbar war, von Frauen und Männern dieser Stadt.

Es macht mich wütend, wenn das Thema „Gleichberechtigung“ instrumentalisiert wird für die Angst vor Flüchtlingen und vor dem Islam. Aber es macht mir Mut, dass sich so viele Menschen, Männer und Frauen, in unserer Stadt davon nicht beirren lassen. Stattdessen treffen sie sich im Weltcafé oder im Flüchtlingschor oder begleiten die Neuangekommenden auf die Ämter, organisieren Sprachkurse und Kinderbetreuung oder eine Hausaufgabenhilfe.

Es macht mir Sorge, dass die Schatten der Vergangenheit uns wieder einholen wollen und das rechte Gedankengut immer mehr in der bürgerlichen Mitte ankommt. Aber es macht mir Mut, dass viele von uns - und darunter viele Frauen! - dagegen halten, indem sie entlarven, diskutieren, öffentlich reden und auch demonstrieren. Es dürften ruhig noch mehr sein. Und wir Frauen sollten besonders wachsam sein, denn wir wissen, was es bedeutet, wenn Menschen in wertvoll und wertlos eingeteilt werden. 

IV.
Gehet ein durch die Tore! Machet Bahn! Räumt die Steine hinweg!
Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt!


Jerusalem - Von dieser Stadt geht der Frieden aus.
Ein Bild der zukünftigen Stadt.
Und als Theologin weiß ich auch, dass diese Stadt für uns Menschen nicht einfach machbar ist.
Auch für uns Frauen nicht. Denn selbst wir sind nicht unfehlbar.

Aber wir können diese Stadt aufblitzen lassen.
Uns von ihr inspirieren lassen.
Indem wir selber gestalten und Verantwortung übernehmen.
Indem wir die Belange dieser Stadt in die Hand nehmen und uns nicht bremsen lassen.
Indem wir uns öffentlich äußern und uns für eine Kultur des gegenseitigen Respekts einsetzen.

Gott hat uns geschaffen als sein Ebenbild, Frauen wie Männer.
Und im christlichen Verständnis gehören wir alle zur Familie Gottes als seine Töchter und Söhne.
Von Jesus Christus her gibt es kein oben und unten, keine ist unwichtiger als die andere.

Und das können wir ruhig jetzt schon leben.
Da müssen wir nicht auf das himmlische Jerusalem warten.
Räumen wir die Steine weg, die uns den Weg zueinander behindern.
Frau Stadt braucht uns bereits jetzt.
Machen wir sie sichtbar, diese Stadt der Zukunft - dort, wo wir sind.

(21. Oktober 2016)

Sonntag, 2. Oktober 2016

Der (Alb)Traum vom perfekten Menschen

Predigt zu Römer 3,21-30 
mit Bachkantate "Es ist das Heil uns kommen her" und Abendmahl
und anlässlich 70 Jahre Motettenchor
gehalten am 2.10.2016 in der Stadtkirche Pforzheim



Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, 
die vor Gott gilt, offenbart,
bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.
Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott,
die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, 

die glauben.
Denn es ist hier kein Unterschied:
sie sind allesamt Sünder
und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten,
und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung,
die durch Christus Jesus geschehen ist.

Den hat Gott für den Glauben hingestellt
als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit,
indem er die Sünden vergibt,
die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld,
um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen,
dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den,
der da ist aus dem Glauben an Jesus.

Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen.
Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke?
Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.
So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird
ohne des Gesetzes Werke,
allein durch den Glauben.
Oder ist Gott allein der Gott der Juden?
Ist er nicht auch der Gott der Heiden?
Ja gewiss, auch der Heiden.
Denn es ist der eine Gott, 

der gerecht macht die Juden aus dem Glauben
und die Heiden durch den Glauben.


I.
Der Traum vom perfekten Menschen.
Ein uralter Traum. So alt wie die Menschheit.
Brangelina - das perfekte Paar, das sogar einen Namen für seine Perfektion trug.
Die perfekte Musikerin, wo nie ein Ton falsch ist.
Der perfekte Politiker, der jede Entscheidung richtig trifft
und natürlich keine Drogen nimmt.
Die perfekte Athletin, die jedes Jahr neue Rekorde schafft - ohne Doping.
Der perfekte Pfarrer, der immer Zeit hat.
Der perfekte Urlaub, wo immer die Sonne scheint.
Das perfekte Kind, das lauter Einsen nach Hause bringt.
Der perfekte Chef, der immer geduldig ist.
Die perfekte Christin, deren Glaube endlos ist.
Der perfekte Flüchtling, der dankbar lächelnd alles erträgt.

Natürlich wissen wir, dass es keinen perfekten Menschen gibt.
Wir wissen sogar, dass der Traum vom perfekten Menschen gefährlich ist.
Denn wir wollen Menschen aus Fleisch und Blut sein.
Aber wir können von diesem Albtraum des perfekten Menschen nicht lassen.
Selbst Paulus nicht, wenn er vom Mangel spricht.

Der alte Traum von Perfektion.
Und das Wissen, das Leiden, nie gut genug zu sein, nie perfekt sein zu können.
Dahinter und davor alte Fragen, die immer noch neu sind: (1)
Wie kriege ich mein Leben so hin, dass es gelingt?
Was kann ich machen, dass sie mich wieder liebt?
Was kann ich tun, damit die Angst vergeht?
Ich habe viel gelernt.
Aber wie schaffe ich das Examen, das Abitur, den Realschulabschluss?
Was muss ich machen, damit ich eine Lehrstelle bekomme?
Was stellen wir an, damit wir – und nicht die anderen – die Wohnung bekommen?
Und hoffentlich halte ich durch.
Ja, ich muss durchhalten, damit der Chef merkt, dass ich unverzichtbar bin.
Besser sein als die anderen.
Schneller. Stabiler. Schlanker. Klüger. Lauter. Bedeutender...

II.
Die Qual bleibt.
Auf Knien nach Lourdes oder gar Compostela wallfahren heilt nicht.
30 Rosen nehmen nicht das schlechte Gewissen. Die Qual bleibt.

Martin Luther hat sich selbst bestraft.
Meinte, sich die Liebe Gottes verdienen zu müssen.
Er hat sogar nachts auf der Holzpritsche seine einzige Wolldecke weggelegt,
weil er dachte, das gefällt Gott.
Unter uns gibt es viele, die sich selbst bestrafen.
Die immer mehr leisten wollen. Immer schöner sein. Immer fitter.
Und sie sind unglücklich, wenn sie versagen.
Und wie sie sich beurteilen, so urteilen sie auch über andere.
Hat der das auch verdient?
Das Geschäft mit der Angst ist hochmodern.

Wir sind süchtig danach, Menschen einzuteilen,
ob sie es verdient haben dazu zugehören.
Zum Staat. Zum Land. Zu den Gläubigen.
Zu den Gewinnern. Zu den Reichen.
Zu den Begabten. Zu den Schönen. Zu den Schlanken.
Wir sind süchtig danach, wahrgenommen zu werden.
Gesehen zu werden. Damit wir dazugehören.
Damit wir es verdienen, dazu zugehören.

III.
Aber das brauchen wir nicht.
Wir brauchen es nicht zu verdienen,
weil wir schon längst dazu gehören.
Zu Gott. Zu dem, was das Leben ausmacht.

Paulus sagt das so:
Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung,
die durch Christus Jesus geschehen ist.


Ohne Verdienst.
Du musst nicht perfekt sein.
So wie du bist, bist du toll. Liebenswert. Unendlich wertvoll.
So wie du bist, gehörst du zu Gott.
So und nicht anders gehörst du zur Welt.
Du musst dich nicht quälen und verbiegen.
Und andere musst du auch nicht quälen und verbiegen.

Es ist das Heil uns kommen her
Von Gnad und lauter Güte.
Die Werk, die helfen nimmermehr,
Sie mögen nicht behüten.
Der Glaub sieht Jesum Christum an,
Der hat g‘nug für uns all getan,
Er ist der Mittler worden.
(2)

IV.
Jesus ist ans Kreuz gegangen.
Dort, wo die Opfer sind. Die Looser.
Dort, wo die Untauglichen und die Ausgestoßenen hingehören.
Dort, wo Verkrümmungen sichtbar werden, auch die inneren.
Dort, wo du nichts bist. Wo keiner hinsieht. Wo niemand wichtig ist.
Wo die Flucht nicht mehr weitergeht.
Wo die Grenzen des Lebens sind.
Dorthin ist Jesus gegangen.
Und mit ihm Gott. In ihm Gott.

Und dort findet er dich.
Er sieht dich an und sieht auch das, was du selber nicht ansehen magst.
Er sieht dich mit Liebe an.
Kein Kontrollblick, ob du tauglich bist.
Kein kritischer Blick, ob du fromm genug bist,
oder klug genug, oder schön genug.
Nein, der Blick des Liebenden.
Der Blick eines Gottes, der dich an seinen Tisch einlädt.
Der sich dazu setzt und sich freut, dass du da bist.
Der dich nicht ausfragt, der dir aber zuhört.

Ob sichs anließ, als wollt er nicht,
Lass dich es nicht erschrecken;
Denn wo er ist am besten mit,
Da will ers nicht entdecken.
Sein Wort lass dir gewisser sein,
Und ob dein Herz spräch lauter Nein,
So lass doch dir nicht grauen.
(3)

V.
An diesem Tisch mit Gott kannst du aufrecht sitzen.
Nichts, was dich krumm macht.
Oder klein. Ganz und gar du.
Und dann öffnest du deine Augen
und entdeckst noch andere, die auch mit am Tisch sitzen.
Genauso geliebte Gottes Kinder.
Sie sind so ganz anders. Aber sie gehören dazu, wie du.
Eure Töne kommen zusammen, wie in einem Chor.
Und weil du unter Gottes Blick ein anderer werden kannst,
siehst du auch die anderen anders an.
Du liebst nicht, um Gott zu gefallen.
Aber weil du Gott gefällst, kannst du lieben.
Und die Liebe, die dich umfängt, willst du weitergeben.

Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung,
die durch Christus Jesus geschehen ist.


Du musst nicht perfekt sein. Du musst Gott nicht gefallen.
Und du musst nicht um den besten Platz am Tisch kämpfen.
Denn da sitzt du schon.
Und darum kannst du dich auch über die anderen am Tisch freuen.
Und du singst mit ihnen, weil die Musik grenzenlos ist.
Du baust mit ihnen den Tisch größer,
damit da noch mehr dran sitzen können.
Auch die, die eine andere Sprache sprechen.
Oder die gerade erst angekommen sind.
Auch die mit den zerlumpten Kleidern
und die mit den bösen Träumen.
Auch die, die nichts vorzuweisen haben,
noch nicht mal einen Pass.

VI.
Und weil du weißt, dass sie Kinder Gottes sind wie du, setzt du dich für sie ein.
Du lässt nicht zu, dass sie beschimpft werden,
oder dass man sie schlägt, oder ihre Heime in Brand steckt.
Und du lässt nicht zu, dass in unserem Land Menschen aussortiert werden.
(Weil sie vielleicht nicht "deutsch" genug sind)
Denn Gott kennt keine Nation und keine Hautfarbe und keine Religion.
Bei Gott ist niemand wichtiger oder besser oder wahrer als der andere.
Wer das Gegenteil denkt, hat Gott nicht verstanden.
Denn: 
Es ist der eine Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben
und die Heiden durch den Glauben.


Du musst nicht perfekt sein. Und die anderen auch nicht.
Aber zusammen könnt ihr lieben.
Zusammen könnt ihr singen und himmlische Musik machen.
70 Jahre oder noch länger.
Zusammen könnt ihr essen und reden und euch ansehen.
Zusammen könnt ihr streiten und versöhnen
und ringen um das, was die Welt und unser Land braucht.
Zusammen könnt ihr euch einsetzen
für die, die noch keinen Platz am Tisch haben.
Oder im Land. Oder in den Herzen.
Alles das geht, weil du nicht perfekt bist.
Gott ist es, der dich versöhnt - auch mit dir selber.
Es ist das Heil uns kommen her
Von Gnad und lauter Güte.

Und das ist, was zählt.
Amen.

(1) Folgender Abschnitt enthält Anregungen von Gerhard Engelsberger
(2) aus der Bachkantate, Teil 1
(3) aus der Bachkantate, Teil 7

Sonntag, 25. September 2016

An den Tischen vom Café Himmelreich

(Predigt zum Römerbrief 14,17-19 - gehalten am 25.9.2016, Ort: Altstadtkiche Pforzheim)
 
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.
Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig
und bei den Menschen geachtet.
Darum lasst uns dem nachstreben,
was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.


I.
Im Café Himmelreich ist was los. (1)
Der Kuchen sieht richtig lecker aus.
Kaffeegeruch strömt durch die Kirche.
Leider kann man dann nicht draußen sitzen.
Es wird langsam zu kalt.
Aber im Anbau neben der Kirche ist ja auch Platz.
Die Mitarbeiterinnen haben die Tische liebevoll gedeckt.
Und diesmal kommen noch ein paar mehr als letzte Woche.
Ob auch die alte Dame von der Straße dahinten kommen wird?
Bisher hat sie sich noch nicht so richtig getraut, jedenfalls nicht alleine.
Vielleicht müsste man sie mal abholen?
Und hoffentlich kommt mal die eine Familie mit den 3 Kindern.
Kinderlachen tut den alten Menschen gut.
Und schön, wenn auch zwei oder drei vom Kappelhof (2) da sind.
Und kommen vielleicht sogar zum Essen nächsten Sonntag.
Wenn es warm ist, stoppen auch mal Radfahrer, und trinken einen Kaffee.
Sie schauen dann in die Kirche hinein.
Locker geht es dann zu - fast wie im Urlaub.
Dabei haben nicht gerade wenige ihr „Päckle“ zu tragen.
Ob es die Familie ist, wo der Vater immer noch arbeitslos ist,
oder die alte Dame, die sich nicht mehr aus dem Haus traut.
Oder der alte Mann, der sich Sorgen um seine Tochter macht.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.


II.
Wenn die Vesperkiche im Januar los geht, ist die Stadtkirche rappelvoll. (3)
Kohl und Kartoffeln, Nudeln und Hackfleisch, Reis und Geschnetzeltes -
Kaffee und Apfelkuchen,
Tische mit Schach und Mensch-ärgere-dich-nicht und Malstiften,
in der Sakristei wartet ein Arzt auf den Besuch
und ab und zu kommt auch eine Friseurin.
Jeden Mittag kommen sie:
die alten Frauen, die einsamen Männer, die jungen Familien -
Menschen, deren Heizung zuhause abgedreht wurde,
weil sie sie nicht mehr bezahlen können.
Menschen, die nicht alleine essen mögen.
Menschen, die wissen, dass sie hier akzeptiert werden,
auch wenn ihr Mantel etwas schäbig aussieht,
oder sie immer noch fremd sind.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.


III.
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken.
Also machen wir das Café Himmelreich wieder zu?
Und die Vesperkirche und das Essen nächsten Sonntag brauchen wir auch nicht?
Paulus,
vielleicht kennst du noch nicht die Erzählung von Jesus,
wie er Zachäus vom Baum herunter holt und mit ihm isst und trinkt.
Und am Ende sagt er: „Diesem Haus ist Heil widerfahren.“ 
Oder wie er vom zurückkehrenden Sohn erzählt,
und der bekommt erstmal ein richtiges Festmahl serviert.
„Lasst uns essen und fröhlich sein!“ ruft der Vater und nimmt seinen Sohn in den Arm.
5000 Menschen hören Jesus nicht nur zu, sondern werden auch satt bei ihm.
„Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden,
die zu Tisch sitzen werden im Reiche Gottes“. (Lukas 13,29)

Und selbst wenn du die Worte von Jesus noch nicht kennst, so kennst du doch Jesaja.
Und der verspricht ein Freudenmahl, das Gott mit allen Völkern halten wird.
Ein fettes Mahl wird es geben!
Und du, Paulus, sagst:
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken!

Schau genau hin, sagt Paulus.
Essen und Trinken sind gut. Ja, sogar heilsam.
Aber in der Gemeinde von Rom gibt es Streit.
Da gibt es Gemeindeglieder, die auf Nummer Sicher gehen
und sich an die jüdischen Speisevorschriften halten wollen.
Fleisch, das aus dubiosen Quellen kommt, wollen sie lieber nicht anrühren.

Und es gibt andere Gemeindeglieder,
die diese Nummer Sicher nicht mehr brauchen.
Wir können alles essen, sagen sie.

Und natürlich ist der Ärger vorprogrammiert, wenn es ans gemeinsame Essen geht.
Die einen wollen sich von den anderen nicht bevormunden lassen.
Sie finden das lächerlich, dass die anderen es so genau nehmen.
Die anderen ärgern sich über die Laschen.
„Ungläubig“ sagen sie zu denen.

IV.
Mich erinnert das an die immer wiederkehrende Kopftuchdebatte.
Den einen ist wichtig, dass sie ihren Glauben ernstnehmen.
Sie sind überzeugt, dass das Kopftuchtragen dazu gehört.
(das gibt es übrigens auch unter Christinnen!)
Die anderen finden das lächerlich.
Und sie wundern sich über solche strengen Vorschriften,
und dass Frauen sie auch noch freiwillig befolgen.

Oder der Streit beim Abendmahl: Wein oder Traubensaft?
Für die einen geht das gar nicht, dass ein Abendmahl ohne Wein stattfindet.
Die anderen verstehen das nicht.
Weil es in ihren Augen doch viel wichtiger ist,
dass möglichst alle teilnehmen können, auch Kinder und Alkoholkranke.

Kopftuch oder kein Kopftuch?
Wein oder Saft?
Korrektes Fleisch oder egal?
Allzu leicht bleiben wir bei solchen Fragen hängen.
Allzu leicht verlieren wir das Eigentliche aus dem Blick.
Nämlich, dass wir gemeinsam unterwegs sind.
Dass wir gemeinsam die Welt gestalten.
Dass wir zusammen leben, zusammen feiern, zusammen essen wollen.
Und keiner sollte das Gefühl haben, nicht mehr dazuzugehören,
nur weil er anders tickt.
Oder weil sie anders aussieht, anders spricht, anders glaubt.
Christus hat Mauern eingerissen.
Auch die Mauern der vermeintlichen Wahrheit.
Wir dürfen keine neuen bauen.
Auch nicht zwischen uns.

V.
Paulus sagt:
Mag sein, dass du Recht hast: Es ist nicht egal, was du isst.
Aber der, dem es egal ist, ist trotzdem dein Bruder.
Was sagt denn die Liebe dazu?
Die ist wichtiger,
wichtiger als dein Rechthaben,
also verurteile ihn nicht, sondern überlasse das Urteil Gott.

Paulus sagt:
Mag sein, dass du Recht hast: Es ist egal, was du isst.
Weil Christus dich frei gemacht hat.
Aber die, der es nicht egal ist, ist deine Schwester.
Was sagt denn die Liebe dazu?
Die ist wichtiger, also mach dich nicht lächerlich über deine Schwester.

Paulus sagt:
Mag sein, dass du Recht hast, und ganz korrekt glaubst.
Aber die Liebe ist wichtiger, als deine Rechthaberei.
Es ist wichtiger, dass du im anderen, in der anderen
die Schwester, den Bruder siehst.
Es geht nicht um dich, sondern um euch beide.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.
Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig
und bei den Menschen geachtet.
Darum lasst uns dem nachstreben,
was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.


Achtung! Das ist nicht Friede, Freude, ohne Eierkuchen.
Sondern harte Arbeit.
Denn keiner soll seine eigene Sichtweise verleugnen.

Und dann muss auch mal gestritten werden:
Auf wen muss am meisten Rücksicht genommen werden?
Wer kann sich am wenigsten wehren?
Und wer spielt die Rolle des Benachteiligten besonders perfekt?
(das gibt es ja auch immer wieder...)
Genau hinschauen - auch heftiges Ringen um den richtigen Weg -
das bleibt dir alles nicht erspart.
Doch verzichte darauf, unbedingt gewinnen zu müssen.
Schau vielmehr darauf, was gut ist für alle.
Dann hast du das Reich Gottes im Blick.

VI.
Und am Ende steht dann wirklich eine Festtafel
und an der können alle sitzen.
Der Heilige Geist hat sie schließlich doch zusammengebracht.
Die Safttrinker und die Weintrinker,
die Fleischesser und die Vegetarier,
die Kopftuchträgerinnen und die mit den offenen Haaren.
Auch die, die Angst vor Flüchtlingen haben oder vor Veränderung.
Und alle merken sie, dass es nicht darauf ankommt, wer Recht hat
und was auf dem Tisch steht und was den Kopf bedeckt.
Jeder ist willkommen.

Denn es kommt auf den an, der sie an den Tisch gebracht hat.
Es kommt auf Gott an.

Der Gott, der mit seinem Volk durch die Wüste zieht
und ins Exil geht, in die Fremde.
Der Gott, der die Rechthaber stolpern lässt
und selbst sogar den Dreck eines Stalles nicht scheut.
Der Gott, der die Bettler und Zukurzgekommenen von den Straßen und Zäunen in sein Haus lädt.
Dieser Gott lädt ein, der über Gute und Böse die Sonne aufgehen lässt.
Auch über Fromme und Nicht-so-fromme und über Christen und Muslime.

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
sondern Gerechtigkeit und Friede
und Freude in dem Heiligen Geist.


Das Café Himmelreich darf seine Tore öffnen.
Und nächsten Sonntag wird es hier nach dem Gottesdienst ein Essen geben.
Und das ist auch gut so.
Kaffee und leckere Kuchen, schön gedeckte Tische.
Aber so wichtig es ist, dass alles schön und lecker ist.
Das Reich Gottes ist mehr.
Das Reich Gottes ist dort, wo jeder spürt:
ich bin ein Kind Gottes.
Hier darf ich sein.


Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
es ist mehr als Essen und Trinken.
Es fängt da an,
wo die Mitarbeiterinnen sich mit an den Tisch setzen.
Es fängt da an, wo der alte Mann mit den Sorgen um seine Tochter nicht mehr allein ist.
Wo man darüber nachdenkt, wie der Vater eine neue Arbeit bekommt.
Und die Kopftuchträgerin vom Flüchtlingsheim darf das Kopftuch aufbehalten,
wenn ihr danach ist.
Keiner wird draußen gelassen. Die Türen stehen offen!

Ja, da fängt das Reich Gottes an.
Da sitzt man zusammen,
hört sich dann zu,
man streitet und tröstet und stärkt.
Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken,
aber am gemeinsamen Tisch fangen wir an,
das Reich Gottes zu bauen -
miteinander und so wie es gerade geht.
Und der Heilige Geist weht kräftig über die Tische.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, 
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

(1) Das "Café Himmelreich" ist ein Projekt der Altstadtgemeinde in Pforzheim, das seit knapp 1,5 Jahren besteht und ein Bestandteil für die Entwicklung zu einer Diakoniekirche ist.
(2) Der "Kappelhof" ist eine Behinderteneinrichtung der Caritas in unmittelbarer Nähe zur Altstadtkirche.
(3) Die Vesperkirche wird ökumenisch getragen, ehrenamtlich geleitet und findet jährlich von Mitte Januar bis Mitte Februar in der benachbarten großen Stadtkirche in Pforzheim statt.

Sonntag, 11. September 2016

Meinen Hass bekommt ihr nicht - Predigt gegen den Geist der Furcht

Predigt zu 2.Timotheus 1,7-10 - gehalten in der Stadtkirche in Pforzheim


I.
Jeden Mittwoch treffen sich geflüchtete und einheimische Menschen im Weltcafé.
Hier in Pforzheim am Schlossberg.
Ehrenamtliche und Ratsuchende.
Deutschsprechende und Deutschlernende.
Auch an der Kegelbahn unter der Matthäuskirche kommen junge Erwachsene zusammen:
welche, die hier geboren sind, und welche aus Syrien oder aus dem Irak.
Jeden Freitag. Einfach so. Reden. Spielen. Sich begegnen.
Auch nach Ansbach und Würzburg. Auch nach Nizza und Paris.
Nicht nur auch - gerade deshalb.
Und obwohl sich der Geist der Furcht ausbreitet und alles beherrschen will.
Aber: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht...

II.
Es liegt am Wesen des Angst-Geistes, dass er die Oberhand haben will.
Man kann mit dem Geist der Furcht Wahlen gewinnen,
Menschen jagen, Zivilisten bombardieren
und dafür sorgen, dass aus einem „Wir schaffen das“ ein „Merkel muss weg“ wird.
Der Geist der Furcht war schon seit jeher geeignet,
Menschen so sehr einzuschüchtern, dass sie auf billige Parolen hereinfallen.
Im Mittelalter war es die Angst vor der Hölle und vor dem Teufel.
Im dritten Reich war es die Angst vor den Juden und den Bolschewiken,
im kalten Krieg die Angst vor dem Kommunismus
oder auf der anderen Seite vor dem Kapitalismus.
Man jagte Hexen und Waldenser und Täufer,
Juden und Homosexuelle,
Kommunisten und Mauerflüchtlinge.
Seit 9/11 vor 15 Jahren wird Angst gegen den Islam geschürt,
und seit 2 Jahren wieder Angst gegen Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Hunger fliehen.
Dieser Geist wirft sämtliche Menschlichkeit oder Nächstenliebe über Bord.
Fliehende Menschen sollen wieder selektiert werden
zwischen kultureigener und kulturfremder Herkunft. (1)
Der Geist der Furcht hat gerade richtig viel Auftrieb und sorgt für Kälte.
Aber: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht....

III.
Furcht zu haben ist auch nicht nur falsch.
Denn das, was mich kaputt machen kann, ist ja gefährlich.
Der Tod ist beängstigend.
Gewalt macht Angst.
Krieg und Terror, blinder Hass - das ist alles zum Fürchten.
Aber ich will mich nicht von dieser Furcht beherrschen lassen.
Irgendwann fängt die Furcht an, mein Denken zu benebeln.
Der Moment, wo Liebe und Besonnenheit keinen Platz mehr haben,
Und der Punkt, wo die Furcht mich kraftlos macht - mutlos - ideenlos...

IV. (2)
Anfang 2. Jahrhundert.
Timotheus und seine Gemeindeglieder sind besorgt.
Wem sollen sie noch glauben?
Paulus ist schon lange tot.
Immer wieder kommen neue Lehrer in die Gemeinde.
Und sorgen für große Unruhe.
Droht vielleicht sogar eine Spaltung der Gemeinde? 
Außerdem bekommt die Gemeinde immer mehr Schwierigkeiten.
Sie fallen auf.
Je mehr Menschen sich zu ihnen bekennen,
und je mehr ihr Glaube öffentlich wird,
desto mehr müssen sie um ihre Sicherheit fürchten.
Droht uns das gleiche Schicksal wie Paulus?
Und sie halten sich fest an den Worten aus einem Brief,
den sie von einem Schüler von Paulus bekommen haben:

V.
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn
noch meiner, der ich sein Gefangener bin,
sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.
Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf,
nicht nach unsern Werken,
sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade,
die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt,
jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus:
Er hat dem Tode die Macht genommen
und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht
durch das Evangelium.
(2.Timotheus 1,7-10)


VI. (3)
Keine Furcht, sondern: Kraft, Liebe, Besonnenheit!
Beschenkt mit Gottes Geist - seit es mich gibt.
Und dieser Geist ist nicht irgendeiner
und schon gar keiner, der mich und andere das Fürchten lehrt.

Aber er ist eine Kraft, die mich bewegt.
Mich durchpustet und die Furcht aus unseren Herzen bläst.
Dieser Geist krempelt mich um.
Öffnet mir neue Perspektiven. Lässt mich hinstehen.
Lässt mich nicht nur Risiken, sondern auch die Möglichkeiten sehen,
doch ohne einfach blind drauflos zu fliegen.
Gott schenkt mir und dir mit seinem Geist
einen Denkraum ohne Angst.

Dieser Geist ist Liebe.
Ohne Liebe wird die Kraft blind
und verliert das Menschliche aus den Augen.
Liebe beginnt mit dem Hinsehen,
hin zu dem einzelnen Gesicht, das dich fragend anschaut.
Von dort aus sehen auch die großen Zahlen und Tabellen, die uns Angst machen, anders aus.
Liebe setzt sich dann fort
mit den kleinen, liebevollen Geschichten, die wir erzählen sollten,
Und damit, dass wir aufeinander zu gehen.

Und dieser Geist ist Besonnenheit.
Liebe kann blind machen.
Da braucht sie Besonnenheit, die sieht, die aufpasst, die hinschaut.
Nüchtern schauen, was jetzt der Fall ist.
Zahlen und Tabellen besonnen lesen und deuten.
Unaufgeregt zur Kenntnis nehmen, was jetzt zu tun ist.
Auch erkennen, dass das wir noch einen steinigen Weg vor uns haben.
Und deshalb den langen Atem einer liebevollen Besonnenheit brauchen.

VII.
Ein besonnener Mensch unserer Tage ist für mich Antoine Leiris.
Er hat seine Frau beim Anschlag im November 2015 in Paris verloren.
Er ist kein religiöser Mensch. Aber er schreibt:
„Es hätte auch ein Verkehrsrowdy sein können, der zu spät gebremst hätte,
ein Tumor, der ein bisschen bösartiger gewesen wäre als die anderen
oder eine Atombombe – entscheidend ist, dass sie nicht mehr da ist.
Die Waffen, die Kugeln die Gewalt,
all das ist nur Kulisse für die Szene, die sich eigentlich abspielt: ihr Fehlen.
(…) Wenn man einen Schuldigen zur Hand hat,
jemanden, auf den man seinen Zorn richten kann,
dann ist das wie eine halb offene Tür,
eine Möglichkeit, seinem Leid auszuweichen.
Und je abscheulicher das Verbrechen,
desto idealer der Schuldige,
desto legitimer der Hass. (4) 

Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.
Auch wenn ihr euch sehr darum bemüht habt;
auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten,
derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid.
Ihr wollt, dass ich Angst habe,
dass ich meine Mitbürger mit misstrauischem Blick betrachte,
dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere.
Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel. (...)
Selbstverständlich frisst mich der Kummer auf,
diesen kleinen Sieg gestehe ich euch zu,
aber er wird von kurzer Dauer sein. (...)

Wir sind zwei, mein Sohn und ich,
aber wir sind stärker als alle Armeen dieser Erde.
Ich will euch jetzt keine Zeit mehr opfern,
ich muss mich um Melvil kümmern, der gerade von seinem Mittagsschlaf aufwacht.
Er ist gerade mal 17 Monate alt;
er wird seinen Brei essen wie jeden Tag,
dann werden wir gemeinsam spielen wie jeden Tag
und sein ganzes Leben wird dieser kleine Junge euch beleidigen,
indem er glücklich und frei ist.
Denn nein, meinen Hass bekommt ihr nicht und den meines Sohnes auch nicht. (5)

VIII.
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen
und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht
durch das Evangelium.


Der Geist Gottes ist bereits da.
Du musst ihn nicht erarbeiten.
Die Macht des Todes ist gebrochen.
Der Tod meldet sich mit seinem Geist der Furcht zwar immer wieder zurück.
Aber gib ihm nicht den Raum, den er beansprucht.
Sondern gib Raum dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.
Ich muss sterben, dichtet Dorothe Sölle,
aber das ist auch alles, was ich für den Tod tun werde.

Darum taufen wir Kinder und Erwachsene. (6)
Darum feiern wir Gottesdienst und singen wir Loblieder.
Darum nehmen wir Fremde auf
und lassen uns nicht verrückt machen vom Geist der Furcht.
Darum schaffen wir das auch, mit Liebe dem Hass zu begegnen.
Der Geist hilft uns dabei.

IX.
Als Mitte der 60er Jahre das Politbüro der DDR versucht hat,
aufmüpfige Stimmen zum Schweigen zu bringen,
schrieb Wolf Biermann ein Gedicht mit dem Titel „Ermutigung“.
Du lass dich nicht verhärten - singt er.
Du lass dich nicht verbittern - ruft er.
Du lass dich nicht erschrecken.
Und in der letzten Strophe:
Wir woll‘n es nicht verschweigen
in dieser Schweigezeit
Das Grün bricht aus den Zweigen
wir woll‘n das allen zeigen
dann wissen sie Bescheid.

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht,
sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen
und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht
durch das Evangelium.


Amen.

(1) So zur Zeit die Forderung der CSU (siehe z.B. http://www.sueddeutsche.de/politik/bayern-csu-will-vorrang-fuer-zuwanderer-aus-christlich-abendlaendischem-kulturkreis-1.3153027)
 (2) Für die Anregungen zu folgendem Abschnitt Danke an Sina Kaiser
(3) Danke an Silke Wolfrum und Juliane Rumpel für einige Formulierungen im folgenden Abschnitt
(4) aus Antoine Leiris, Meinen Hass bekommt ihr nicht, S.34-36
(5) ebd., S.59-61
(6) Vor der Predigt wurde ein kleines Mädchen getauft.