Mittwoch, 27. Dezember 2023

Wie eine Feder

Was der Film "Forrest Gump" mit Weihnachten zu tun hat

Predigt zum 2. Weihnachtstag 2023

1. 

Eine Feder treibt im Wind. Wirbelnd zieht sie ihre Bahnen über der Stadt und landet fast auf der Schulter eines Fußgängers, wird beinahe vom Auto überfahren und fällt schließlich auf die abgewetzten dreckigen Schuhe von Forrest Gump. Der sitzt an einer Bushaltestelle und wartet. Forrest hebt die Feder auf. Sanft hält er sie zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtet sie neugierig, fasziniert. Dann öffnet er seinen kleinen Reisekoffer, holt ein Buch heraus, öffnet es an der Stelle, wo viele Wolken zu sehen sind, legt die Feder sanft hinein und schließt den Koffer wieder. Eine Frau setzt sich neben ihn und beginnt ein Buch zu lesen. Er begrüßt sie und stellt sich vor. Ich bin Forrest, Forrest Gump. Die Frau nickt ihm freundlich zu und liest weiter.

2.

Doch Forrest redet weiter. Erzählt von seiner Mutter und ihrer Pralinenschachtelweisheit.
Und von ihrer Wärme und wie sie ihm Mut gemacht hat. Dass er gut so ist, wie er ist. Er, der nicht so richtig in diese Welt zu passen scheint. Mit seiner Naivität und seinem kindlichen Blick auf das Leben. Er freut sich an den kleinen Dingen wie zum Beispiel die Feder, die zu ihm vom Himmel fällt. Er ist absolut ehrlich und spielt nie mit fiesen Tricks. Verweigert jegliche Manipulationen und überrascht genau damit seine Umwelt. Bei alledem versucht er beharrlich - und meistens rennend - das Wertvollste, Heiligste und Verletzlichste eines Menschenleben zu behüten: die Liebe. Die Liebe ist der rote Faden in seinem komplizierten Leben: die Liebe, die er von seinen Mitmenschen empfangen hat und die er weitergibt. Er glaubt felsenfest an das Gute im Menschen und dass alles im Leben einen Sinn ergibt.

(Feather-Theme z.B. https://www.mytravelingpiano.com/video/forrest-gump-soundtrack/)

3.

Als ich den Film vor 29 Jahren im Kino sah, hab ich hinterher geheult wie ein kleines Kind. Mit seiner naiven Verletzlichkeit hat Forrest mich im Innersten berührt. Als Kind wurde ich oft belächelt für meine Träumereien. Tollpatschig und verträumt - irgendwie nicht geeignet für diese raue Welt - so hieß es oft. Und ja, meine Mutter sorgte sich um mich, ob ich mich überhaupt durchsetzen könnte. Sie selber wurde oft für ihre Gutgläubigkeit ausgelacht. Es scheint bei uns in den Genen zu liegen. 

Manchmal kommt es auch jetzt noch vor, dass ich belächelt werde, nicht ernstgenommen, weil ich nicht fassen kann, was Menschen sich gegenseitig antun. Und weil ich mich nicht damit abfinden will. Ja, ich weiß, auf viele wirke ich eher tough. Aber diese naive, gutgläubige, verträumte Seite ist auch ein Teil von mir. Und ich mag diese Seite, auch wenn sie manchmal untergeht.

Forrest Gump hat das alles wieder anklingen lassen. Er sagt mir: es ist gut so, wie du bist. Auch wenn die Welt es dir manchmal schwer macht. Es ist gut, dass es eine zarte, leichte Seele gibt - wie eine Feder. Manchmal umher wirbelnd und vielleicht wird sie sogar überrollt? Oder sie landet auf dem Schuh genau des Menschen, der sie zu würdigen weiß. Der sich an ihr erfreut und sie schützt und bewahrt.

4.

Forrest Gump scheint nicht in diese Welt zu passen. Und doch hat er sie verzaubert. Forrest hat eine Wirkung auf die Menschen um ihn herum gehabt, ohne es zu wollen. Die Art und Weise, die Haltung, mit der er auf die Welt schaut, verändert die Welt. Und das gehört für mich zu Weihnachten. Der Glaube an das Gute im Menschen, seine unerschütterliche Liebe ausgerechnet zu Jenny, die ihn immer wieder in Stich lässt, seine Freundschaft zu Bubba und Lieutenant Dan - alles versehrte, zutiefst verletzte Menschen, für die er einfach da ist, selbst im Tod - das ist wie Weihnachten.

5.

Ja, das ist Weihnachten ohne Christbaumkerzen und Gänsebraten, ohne Glitzerlametta und Jubelchor. Es ist Weihnachten in der Tiefe, Weihnachten, wenn nach 3 Tagen das Aufräumen anfängt und der Alltag beginnt und man sich fragt: Gilt sie denn immer noch, die Botschaft von Weihnachten? Der Engelruf „Fürchtet euch nicht!“ - der Friedensgruß für alle Menschen. Was bleibt von Weihnachten übrig, wenn die Lieder verklungen sind, die Panzer wieder rollen und die Raketen wieder geschossen werden?

Dass Gott mit seiner Liebe in der Welt ist, das bleibt. Forrest Gump ist einer, für den die Liebe auch dann nicht aufhört, als Jenny stirbt. Sein Blick auf die Welt ist auch dann noch voll mit Liebe und Staunen und Wohlwollen. Wer liebt, schaut anders auf die Welt und entdeckt überall die Spuren der Liebe. Die Spuren von Gottes Herrlichkeit. Schwer wie die Trauer und leicht wie die Feder. Und Forrest ist überwältigt, dass ausgerechnet er einen Sohn hat.

Liedstrophe: 
Da wo die tiefsten Schatten sind, lässt Gottes Licht sich sehn. Noch ist es klein - so wie das Kind, vor dem die Hirten stehen. Sie haben nichts als nur verzagte Herzen mitgebracht. Aber Gott hat den Himmel aufgemacht in der Nacht. Gott hat heute seinen Himmel aufgemacht.

6.

Gott hat seinen Himmel aufgemacht und ein Kind in die Krippe gelegt. Dieses Kind wird wie alle Kinder wachsen und es wird staunen über das Leben, über Federn und Tiere, über Sterne und tiefe Geschichten. Es wird das Gute in den Menschen sehen und über das Böse weinen. Es passt nicht in diese Welt und die Welt wird es nicht verstehen. Aber die Welt wird nicht mehr wie vorher sein.

Gott hat seinen Himmel aufgemacht und hat Engel zu Nobodys geschickt, zu Menschen mit Schwielen an den Händen und jeder Menge Sprüchen auf Lager. Zu Menschen, die man nicht ernstnimmt, die keine Lobby haben. Damals auf den Feldern. Heute bei Amazon, in den Flüchtlingslagern oder an den Außengrenzen Europas. Zu ihnen schickt Gott Engel, die ihnen die Angst vor dem Morgen nehmen. Wie goldene Federn wirbeln sie über den Feldern und lassen gerade diese Nobodys spüren: Auf euch kommt es an, egal ob man es euch zutraut oder nicht. Ihr seid genau richtig. Die Welt braucht euch, so wie ihr seid.

7.

Gott hat seinen Himmel aufgemacht für alle, die eigentlich nur das Gute in anderen Menschen sehen wollen. Die nicht mit Bösem rechnen und ehrlich bis in die Haarspitzen sind. Die dafür belächelt werden oder für dumm gehalten. Die ihre offenen Flanken zeigen und sich nicht schützen. Menschen wie Forrest. Kinder. Träumerinnen. Tänzer.

Gott hat seinen Himmel aufgemacht und eine Feder fliegen lassen. Auch für mich. Und für dich. Vielleicht ist sie golden und strahlt, vielleicht ist sie weiß wie bei Forrest Gump, vielleicht ist sie aber auch taubengrau. Und ich möchte wie Forrest diese Feder in die Hand nehmen und betrachten. Und stell dir vor, dass Gott dich wie die Feder in die Hand nimmt. Gott sieht dich an freut sich an dir wie Forrest. Sammelt dich behutsam auf, wenn du dich vom Leben hin und her geworfen fühlst. Ich wünsche dir diesen zarten, liebevollen Blick auf dein Leben, das nicht gerade federleicht ist. Und ich weiß, dass dieser Blick aus der Krippe kommt. Von diesem Kind, das von Gott dort hineingelegt wurde. Verletzlich und klein und viel zu gut für diese Welt.

8.

Am Ende des Films bringt Forrest seinen Sohn zum Schulbus. Jenny ist gestorben. Forrest muss sich um seinen Sohn alleine kümmern. Mit seiner ganzen naiven, ehrlichen und großen Liebe sorgt er für ihn. Als sie auf den Bus warten, öffnet er das Buch, das die Feder beherbergte und die Feder fällt heraus. Ein Wind wirbelt sie auf, als der Schulbus losfährt. 

Die Liebe ist schwer und leicht zugleich und sie wird gelebt.
Einfach gelebt. Golden oder weiß oder taubengrau. Mit Tränen und mit Lachen.
Staunend und zart und voller Geschichten und Narben.

Gottes Spuren. Weihnachtsspuren - wie eine Feder.
Behutsam in die Hand genommen und dann wieder frei gelassen.
Und wir gehen weiter ins Leben.

Amen.

 




Montag, 25. Dezember 2023

Weihnachtssehnsucht

Von Gotteskindern, Erwachsenen und einer großen Gottesfamilie

Predigt zu Galater 4, 4-7 

1.  Zwischen Sehnsucht und Überforderung
 
Weihnachten lässt niemanden kalt.
Manchen ist Weihnachten too much und sie fliehen.
Möglichst weit weg.
Dorthin wo es warm ist und möglichst keine Verwandten.

Manche können nicht genug von Weihnachten kriegen und fahren alles auf, was sie haben.
Die Wohnung blitzblank. Weihnachtsschmuck auf jeder Fensterbank.
Die Gans schon vor Wochen bestellt.

Und dazwischen bin ich.
Nur ein paar Fenstersterne haben es dieses Jahr an die Fenster geschafft
(und das auch erst gestern).
Aber der Käse fürs Raclette liegt seit 4 Tagen im Kühlschrank.
Die Krippe aus der Garage ist da, wenn auch staubig.
Irgendwo liegen noch Weihnachtskarten, die ich schreiben wollte.
Und meine Gedanken kreisen zwischen Geiseln und AfD-Bürgermeister,
zwischen dem kleinen Lord und Ottolenghi-Rezept.
Das bin ich. Und du vielleicht auch.
Irgendwie dazwischen.
Zwischen Sehnsucht und Überforderung -
auf dem Weg zum ganz eigenen Weihnachten.
 
2. Meine kindliche Sehnsucht


Ich bin ja kein Kind mehr.
Aber je älter ich werde, desto größer die Sehnsucht.

So richtig beschreiben kann ich sie gar nicht.
Ja, nach Frieden sehne ich mich natürlich.
Aber wie sieht er aus? Und kann er mal endlich nicht so verletzlich sein?

Und sehnst du dich auch nach Heilsein?
Dass die kleinen Risse in deiner Seele nicht mehr so weh tun.
Dass du zufrieden bist mit dir selbst.
Dass du dein Leben besser auf die Reihe kriegst.
Dass du dir selbst verzeihen kannst.

Und willst du auch wie ich endlich vertrauen können?
Ganz und gar und nicht nur ein bisschen.
Keine Angst mehr haben, dass jemand dein Vertrauen ausnutzt.
Überhaupt keine Angst mehr haben -
weder vor der Nacht noch vor deinen Gedanken,
weder vor bösen Menschen noch vor einer 4 Grad wärmeren Zukunft.

Und vielleicht sehnst du dich auch einfach nur danach, dass alles übersichtlich ist.
Ganz schlicht. Ganz einfach. Wesentlich.
Damit du hinterher kommst mit deiner Seele und deinem kaputten Knie.

Du bist kein Kind mehr,
aber das Kind in dir hat große Augen und ein großes Herz und will einfach geborgen sein.
 
3. Erwachsen sein


Als ich noch ein Kind war, wollte ich endlich erwachsen sein. Gerade auch an Weihnachten.
Endlich selbst bestimmen, wie es gehen kann.
Ich musste damals in die Christvesper und eine Predigt hören, die ich nicht verstanden habe.
Die Lieder mochte ich schon damals.
Aber der laute Gesang meiner Mutter neben mir war mir irgendwie peinlich.
Am 1. Weihnachtstag Verwandte besuchen,
Weihnachtskarpfen essen, den ich als Kind nicht leiden konnte
(und heute auch noch nicht).
Die Erwachsenen redeten und redeten.
Es ging oft laut zu,
nicht selten auch wurde es ungemütlicher, wenn vergangene Streitpunkte wieder hoch kamen,
oder weil wir pubertierenden Kinder keine Lust mehr auf diese Großfamilie hatten.
Manche meiner Freunde haben sich damals losgeeist
und sind zumindest am späten Heiligen Abend auf Kneipentour gegangen
(Ja, das ging!).
Irgendwie habe ich sie beneidet, hätte mich das aber nie getraut.
 
Und heute? Ich bin erwachsen. Kann selbst bestimmen. Und ich mache vieles anders.
In der Familie einigen wir uns meistens auf das Essen (ohne Karpfen).
Der Baum wird so geschmückt, wie ich das will (naja, meine Enkelin bestimmt mit).
Und ich singe immer noch gerne die Weihnachtslieder.

Aber vor allem spüre ich, dass ich manchmal gerne wieder Kind wäre.
Ich würde gerne wieder die Stimme meiner Mutter hören.
Würde‚ mich gerne wieder einfach treiben lassen.
Ohne Druck. Ohne alles richtig machen zu müssen.
 
Kennst du diesen Wunsch auch?
Keine Verantwortung übernehmen.
Die Tage sollen so endlos sein wie damals.
Schwarzweißfilme schauen.
Und diese warme stickige Luft auf der Haut spüren,
die lauten Stimmen der Erwachsenen vorbeiziehen lassen und nicht mitreden müssen.
Oder wie der kleine Lord alle Herzen verzaubern und alle sitzen vereint am Tisch.

Ist das die Ur-Sehnsucht? Wieder Kind zu sein?
Womöglich ein Kind zu sein, dass ich nie war und du auch nicht?
 
4. Gottes Kind



Dabei bist du ja ein Kind.
Ein ganz besonders geliebtes. Ein von Gott geliebtes Kind.
Mit Haut und Haaren, Runzeln und Falten,
geschminkt und ungeschminkt,
festlich gekleidet oder in bequemer Jogginghose,
mit gewaschenen Haaren oder dreckigen Fingernägeln - du bist ein geliebtes Kind.
Wertvoll, königlich, würdevoll, klug, schön, wichtig, unverzichtbar.
Gottes Kind. Du.

Und dafür musst du nichts tun. Nichts!
 
Paulus hat dazu was geschrieben
- noch bevor die Weihnachtgeschichte aufgeschrieben wurde -
die mit den Hirten und mit der Krippe, mit Maria und Josef und dem Kind im Stall,
mit den Engeln und mit Bethlehem...
Paulus kannte die Weihnachtsgeschichte noch nicht.
Und er schreibt ungefähr so*:



Als die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.
Der wurde geboren von einer Frau.
Ein Kind wie alle Kinder.

Dadurch machte Gott alle Menschen zu seinen Kindern.
Frei zu einem Leben, das ihrer Würde entspricht.

Auch du bist ein Kind Gottes.
Und du trägst das Erbe Gottes weiter.

 
5. Gottes Familie


Ob Weihnachten dich kalt lässt oder nicht:
Weihnachten verstrickt dich hinein in die Gottesfamilie.
Sie ist Patchwork pur.
Alleinerziehende, Stief- und Schwiegerkinder, Adoptiveltern und Pflegekinder,
Singles, Paare, Geschiedene, Verwitwete.
Eine unverheiratet Schwangere gehört genauso dazu wie der Träumer Josef,
harte Arbeiter genauso wie Büchernarren wie Flügelwesen.
Und diese Gottesfamilie hat so gar nichts von heiler, bürgerlicher, glücklicher Familienidylle.
Im Gegenteil.
 
In Gottes Familie musst du nicht brav den Erwachsenen zuhören,
sondern darfst deinen Mund auf machen.
Du musst keine Bedingungen erfüllen, um dazu zugehören.
Du darfst lieben, wen du willst.
Du musst nichts geputzt haben, auch keine Fenster.
Du musst keinen Weihnachtsbaum aufgestellt haben, keine Gans im Ofen.
Du kannst dich schwer tun mit Geschenken, schreibst vielleicht keine Weihnachtskarten,
schaltest das Radio vielleicht aus bei „Last Christmas“.
So wie du bist, bist du Kind Gottes.
Kind Gottes zwischen Sehnsucht und Überfordertsein.
 
6. Gottes Sehnsucht


Gott selbst ist ein Kind.
Sehnsüchtig nach Liebe.
Ein Niemand von Niemandseltern.
Geboren inmitten von Tiergestank, aufgewachsen in einem ganz normalen Dorf.
Und erwachsen geworden lebt dieses Kind Gottes Sehnsucht nach Liebe.
Berührt Augen und Ohren und Seelen von lauter Leuten, die nicht dazu gehören.
Aber für ihn sind sie Teil seiner Familie, seiner Gottes Familie.
Auf Du und Du mit Gott.
 
Und da sind sie nun, die Kinder Gottes:
Der Krankenpfleger, erschöpft und ausgelaugt.
Die jüdischen Geschwister hier in Pforzheim
und die, deren Liebsten als Geiseln ausharren müssen.
Die palästinensischen Kinder, geopfert von Terroristen,
weil sie deren Schulen als Versteck benutzen.
Die Frauen im Iran und Afghanistan, zum Schweigen gebracht.
Die jesidischen Geschwister, die aus Deutschland abgeschoben werden.
Die jungen Eltern, alleingelassen und übernächtigt.

Kinder der Gottesfamilie.
Deine Geschwister. Meine Geschwister. 

Wertvoll, königlich, würdevoll, klug, schön, wichtig, unverzichtbar. 

Sehnsüchtig und überfordert.

Wir haben uns diese Gottesfamilie nicht ausgesucht.
Aber Gott hat uns sehnsüchtig zusammengesucht.
Umarmt diese Welt wie der kleine Lord am Weihnachtsabend seinen Großvater.
 
7. Sehnsuchtsgeschichte


Und deine, meine Sehnsucht?
Die an Weihnachten besonders groß ist?
Die nach dem Heilsein und dem Vertrauen und dem Frieden?
Ich habe sie als Erwachsene.
Und ich habe sie als Gottes geliebtes Kind.
Die Sehnsucht bleibt bei mir - sie bleibt, egal wie alt ich bin.
Und manchmal öffnet dieses Sehnsucht Gottes mein Herz.
Wenigstens einen Spalt breit.
Und dann schau ich, was passiert.

Liebes Gotteskind,
mit unserer Sehnsucht sind wir nicht allein.
Sie kommt im Stall zur Welt, im Niemandsland, dort, wo heute Krieg ist.
Die Sehnsucht nach Heilsein, nach Vertrauen und Frieden -
sie ist klein und runzlig und menschlich.
Vielleicht ist sie auch ganz leise. Und kaum zu hören.
Vielleicht versteckt sie sich in den unaufgeräumten Ecken bei mir zuhause?
Vielleicht entdeckst du sie bei dir?
Deine Sehnsucht und Gottes Sehnsucht nach dir.
 
Diese Sehnsucht ist die gemeinsame Geschichte der Gottesfamilie, aller Kinder Gottes.
Sie ist unsere Geschichte. Unsere Weihnachtsgeschichte.
Sie lässt dich nicht kalt und mich auch nicht.
Gott strickt uns zusammen zu einer Familie.
Mit Hirten und Maria und Josef und Engeln.
Mit Tieren und Sternen und Fürchtet euch nicht.
Mit großen Augen und hellen Liedern.
Und einem warmen Herzen - voller Sehnsucht.
Amen.

*) Danke an Birgit Mattausch für die Anregung zur Übersetzung und zur Konzentration auf wenige Aussagen

Sonntag, 10. Dezember 2023

Mit kleiner Kraft ins Leben

Von offenen und verschlossenen Türen,
dem Seher Johannes und ganz viel Mut und Würde

Predigt zu Offenbarung 3, 7-11 am 2. Advent 2023


1 Geöffnete Türen

Schreib an den Engel der Gemeinde in Philadelphia:
„So spricht der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat. –
Was er öffnet, kann niemand wieder schließen.
Und was er schließt, kann niemand wieder öffnen. –
Er lässt euch sagen: Ich kenne deine Taten.
Sieh hin, ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand wieder schließen kann.
Du hast zwar nur eine kleine Kraft.
Aber dennoch hast du an meinem Wort festgehalten und hast meinen Namen nicht verleugnet.“


Die Tür zu Gott ist offen. Die Tür bleibt offen.
Vielleicht nur einen Spalt breit. Aber das genügt.

Für Johannes ist es mehr als ein Spalt.
Weit geöffnet sind seine Sinne. Weit offen die Tür zur Stimme Gottes.
Die hört er auf der Insel Patmos  - verbannt, geflohen, zurückgezogen.
So genau weiß das niemand.
Aber die Tür zu Gott ist offen und sie bleibt offen -
schreibt er nach Philadelphia, ein Ort im wirtschaftlichen Niedergang.
Eine Gemeinde mit kleiner Kraft.

Ich habe mal ein kleines Mädchen getauft.
6 Wochen nach der Geburt wurde es auf einmal ganz blau.
Ein unentdeckter Herzfehler. Eine Not-OP konnte das Mädchen retten.
Seitdem trägt es einen Herzschrittmacher.
Als es 12 Monate später getauft werden sollte, suchten sich seine Eltern dieses Wort aus:
Ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand wieder schließen kann.
Die kleine Kraft des Mädchens war groß genug für das Leben.
Und heute studiert sie Medizin.

Du hast nur eine kleine Kraft, aber dennoch hast du an meinem Wort festgehalten.
Du hast nur eine kleine Kraft, aber dennoch hast du überlebt.
Du hast nur eine kleine Kraft,
aber dennoch machst du jeden Morgen deinem Kind ein Frühstück.
Dennoch schreibst du den Gefangenen in Weißrussland jeden Tag einen Brief.
Dennoch besuchst du jede Woche deine kranke Nachbarin.
Dennoch stehst du jeden Morgen auf.

Es gibt viele, die sagen: das ist zu wenig. Das ist doch nichts.
Aber du weißt: wenn die Kraft klein ist, ist das viel.
Schon das Aufstehen kann viel sein.
Den Tag durchzustehen kann viel sein.
Und du klammerst dich an den, der dir die Tür offen hält, den Himmel aufreißt
Der im Stall zur Welt kommt. Der sein Brot mit dir teilt. Der in den Tod geht. Der aufersteht.

Die Tür bleibt offen. Vielleicht nur einen Spalt breit.
Die Stalltür, die Haustür, die Grabestür, die Tür zum Paradies.
Und der Himmel ist offen. Für dich.
Für dich mit deiner kleinen Kraft. Groß genug für das Leben.

2 Verschlossene Türen

Ich schicke nun einige Leute zu dir, die zur Versammlung des Satans gehören.
Sie bezeichnen sich selbst als Juden. Aber das sind sie nicht, vielmehr lügen sie.
Ich werde sie dazu bringen, dass sie zu dir kommen und sich vor deinen Füßen niederwerfen.
Sie sollen erkennen, dass ich dich geliebt habe.


Türen wurden zugeschlagen.
In Philadelphia rund um die erste Jahrhundertwende war es gefährlich für Jesus-Anhänger*innen.
Für die römischen Behörden waren sie Unruhestifter, die ständig für Aufruhr sorgten.
Sie galten sogar als Staatsfeinde, die die religiöse Verehrung der römischen Macht verweigerten.
Und damit waren nicht nur die Jesus-Anhänger*innen in Gefahr,
sondern auch ihre jüdischen Geschwister.
Sie waren ja Teil der jüdischen Gemeinde,
die weitgehend in Ruhe gelassen wurde, solange sie einigermaßen still hielten -
so wie es von den Juden und Jüdinnen Jahrtausendelang erwartet wurde.
Sogar noch mehr: es wurde erwartet, dass sie mit den römischen Behörden zusammenarbeiteten -
das beinhaltete sogar, Jesus-Anhänger anzuzeigen.
Was für ein Druck.
Dem konnten viele nicht standhalten.
Für den Seher Johannes geht das aber nicht:
Ihr dürft nicht still halten, ruft er.
Das Römische Reich ist ein Imperium des Satans.
Mit dem dürft ihr nicht paktieren! Wenn ihr das tut, seid ihr keine Juden!

Wie wurden diese Sätze in den letzten 2000 Jahren missbraucht!
Die Juden wurden zur Synagoge des Satans, zu welchen, die im Pakt mit dem Teufel standen.
Dafür wurden sie gedemütigt, verfolgt, gequält, ermordet.
Welche Schuld haben wir Christen und Christinnen auf uns geladen, indem wir das zugelassen haben.
Und in den letzten Wochen wieder ließen wir zu,
dass den Juden und Jüdinnen ihr Existenzrecht mit einem eigenen Staat abgesprochen wurde.
Auch Christen beteiligten sich daran,
dass die Ermordung von jüdischen Menschen verharmlost wurde.
Denn eigentlich seien ja sie die "Bösen". "Synagoge des Satans" hat Luther übersetzt.
Der alte Vorwurf. Mehr als 2000 Jahre alt.

Dabei versteht sich Johannes, der Seher, doch selber als Jude.
Die Jesus-Anhängerinnen damals waren auch Jüdinnen.
Nur hatten sie ein anderes Verständnis davon, was das Jüdisch-Sein bedeutet,
als die meisten anderen in der jüdischen Gemeinde.
Darum war die jüdische Gemeinde in Philadelphia am Zerreißen.
Sie war bedroht - von innen und besonders von außen, vom römischen Staat.
Und da ging es ums nackte Überleben.
Wie lange können wir uns gegenseitig unterstützen und schützen?
Wen ziehen wir mit hinein, fragten sich die Jesus-Anhänger?
Wie weit müssen oder können wir gehen mit der Abgrenzung vom römischen Machtsystem?
Oder sind wir schon Teil des satanischen Imperiums?

3 Standhaft bleiben

Johannes, der Seher, lobt die kleine, aufrechte Schar der Jesus-Anhänger*innen.
Ihr habt euch nicht einschüchtern lassen. Ihr geht keine falschen Kompromisse ein.
Gerade ihr mit eurer kleinen Kraft und eurer großen Treue: gerade euch liebt Gott.
Mögen die Türen durch die anderen zugeschlagen sein, zu Gott bleiben sie offen.
Er hält zu euch.

Du hast dich an mein Wort gehalten, standhaft zu bleiben.
Deshalb halte ich auch in der Stunde zu dir, wenn alles auf die Probe gestellt wird.
Sie wird über die ganze Welt hereinbrechen, um die Bewohner der Erde zu prüfen.


Standhaft bleiben - wenn das so einfach wäre.
Es geht ja hier nicht um Verzicht auf zu frühen Verzehr von Plätzchen.
Sondern um die tiefe Überzeugung, dass Gott alle Menschen lieb hat.
Und dass alle Menschen eine Würde haben:
groß und klein, arm und reich, dick und dünn, schwarz, braun oder rosa, männlich, weiblich, queer.

Halte ich an dieser Überzeugung auch fest, wenn es unbequem wird?
Wie sehr bewundere ich den Mut, den unsere christlichen Geschwister in der DDR hatten!
Hätte ich diesen Mut auch gehabt?

Aber auch jetzt, da ich als Christin alle Freiheiten habe:
Halte ich an der Liebe Gottes für alle fest, wenn mich diese Liebe was kostet:
meine Ehre, meinen Ruf, mein Geld?
Halte ich an der Menschenwürde fest, wenn die Wohnungen knapp werden oder der Strom?
Wenn die politische Mehrheit auf einmal umkippt
und selbst die Ampel-Regierung die Migrantinnen zu Menschen zweiter Klasse macht?
Wenn Politik auf Kosten der Ärmsten gemacht wird? Und gnadenlos ist?

Halte ich auch dann daran fest, wenn mich andere als Träumerin beschimpfen
oder als eine, die man aus dem Verkehr ziehen müsste?
Würde ich für meine Überzeugung von der Menschenwürde sogar ins Gefängnis gehen
wie Narges Mohammadi, die Friedensnobelpreisträgerin aus dem Iran?
Würde ich es tun? Hätte ich den Mut?

4 Aufrecht gehen

Ich komme bald.
Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.


Du mit deiner kleinen Kraft, lass sie dir nicht klein reden.
Du mit deinem weiten Herzen, verschließe es nicht.
Du mit deiner Sehnsucht, halte sie wach.
Denn die Welt ist nicht zu Ende. Und Gott ist nicht am Ende.
Sondern kommt. Kommt ins Leben. In die Tränen. In das Lachen. In diese Welt.

Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.
Meine Mutter war nie verheiratet.
Und als ich auf die Welt kam - in den 60ern - war das noch eine Schande.
Ein uneheliches Kind. Da lag von Anfang an ein Makel auf mir.
Der Pfarrer, der mich taufte, suchte genau diesen Satz für mich aus:
Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.

Ich habe diesen Satz lange lange nicht verstanden.
Aber irgendwann wurde mir klar, warum der Pfarrer diese Worte für mich gewählt hatte:
Gott hat mir die Krone der Menschenwürde aufgesetzt.
Für ihn gilt nicht, was die Menschen der 60er Jahre über mich und meine Mutter sagten.
Für Gott gilt:
ich bin wertvoll. Ich bin geliebt.
Und meine Würde darf mir niemand absprechen oder rauben.

Seitdem ich das begriffen habe, gebe ich diesen Satz weiter:
Diese Botschaft von der Würde, die niemand rauben darf.
Von der Krone, die uns alle zu Königskindern macht - auch die mit kleiner Kraft.
Die Tür zum Palast Gottes bleibt immer offen.
Und das gilt - auch wenn die politischen Verhältnisse was anderes sagen.

5 Durch offene Türen gehen


»Schreib an den Engel der Gemeinde in Philadelphia:›

Das sagt Christus zu Johannes, dem Seher.
Und zu dir sagt Christus es auch.
Schreib an deinen Engel.
Setz dich und schau dich um -
so wie Johannes, der Seher, als er Gottes Stimme hört.

Lege dein Herz in den Brief. Das schwere Herz und das leichte auch.
Du darfst das. Johannes hat das auch gemacht.
Schreib von deinen Sorgen um die Armen dieser Stadt -
ob sie alles bezahlen können, das Essen, die Heizung, den Strom.
Deine Gedanken um die jüdischen Freunde und Freundinnen, die jetzt auch Kerzen anzünden.
Gottes Königskinder.
Schreib an deinen Engel von deinem Enkel und den Zauberhut, den du ihm schenken willst.
Seine ganz eigene Krone.
Schreib deinem Engel, dass vor 4 Tagen hier in der Stadtkirche Fatih Aygün erzählt hat,
wie heilig ihm, dem Muslim, der heilige Nikolaus ist.

Schreib deinem Engel von deinen Tränen und von deinem Lachen.
Schreib ihm von deiner Suche und deinen Fragen, deinen Zweifeln und deiner kleinen Kraft.
Und von den vielen offenen Türen.
Es gibt sie auch. Gott sei Dank.

Ja, schreib deinem Engel von deiner Hoffnung.
Denn Christus kommt. Und Christus wird dich aufrichten.
Und alle anderen Königskinder auch.
Er reißt die Türen weit auf.
Und du mit deiner kleinen Kraft wirst aufstehen, deine Krone zurechtrücken,
und durch die offene Tür gehen.
Ins Leben.