Sonntag, 10. Dezember 2023

Mit kleiner Kraft ins Leben

Von offenen und verschlossenen Türen,
dem Seher Johannes und ganz viel Mut und Würde

Predigt zu Offenbarung 3, 7-11 am 2. Advent 2023


1 Geöffnete Türen

Schreib an den Engel der Gemeinde in Philadelphia:
„So spricht der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat. –
Was er öffnet, kann niemand wieder schließen.
Und was er schließt, kann niemand wieder öffnen. –
Er lässt euch sagen: Ich kenne deine Taten.
Sieh hin, ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand wieder schließen kann.
Du hast zwar nur eine kleine Kraft.
Aber dennoch hast du an meinem Wort festgehalten und hast meinen Namen nicht verleugnet.“


Die Tür zu Gott ist offen. Die Tür bleibt offen.
Vielleicht nur einen Spalt breit. Aber das genügt.

Für Johannes ist es mehr als ein Spalt.
Weit geöffnet sind seine Sinne. Weit offen die Tür zur Stimme Gottes.
Die hört er auf der Insel Patmos  - verbannt, geflohen, zurückgezogen.
So genau weiß das niemand.
Aber die Tür zu Gott ist offen und sie bleibt offen -
schreibt er nach Philadelphia, ein Ort im wirtschaftlichen Niedergang.
Eine Gemeinde mit kleiner Kraft.

Ich habe mal ein kleines Mädchen getauft.
6 Wochen nach der Geburt wurde es auf einmal ganz blau.
Ein unentdeckter Herzfehler. Eine Not-OP konnte das Mädchen retten.
Seitdem trägt es einen Herzschrittmacher.
Als es 12 Monate später getauft werden sollte, suchten sich seine Eltern dieses Wort aus:
Ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand wieder schließen kann.
Die kleine Kraft des Mädchens war groß genug für das Leben.
Und heute studiert sie Medizin.

Du hast nur eine kleine Kraft, aber dennoch hast du an meinem Wort festgehalten.
Du hast nur eine kleine Kraft, aber dennoch hast du überlebt.
Du hast nur eine kleine Kraft,
aber dennoch machst du jeden Morgen deinem Kind ein Frühstück.
Dennoch schreibst du den Gefangenen in Weißrussland jeden Tag einen Brief.
Dennoch besuchst du jede Woche deine kranke Nachbarin.
Dennoch stehst du jeden Morgen auf.

Es gibt viele, die sagen: das ist zu wenig. Das ist doch nichts.
Aber du weißt: wenn die Kraft klein ist, ist das viel.
Schon das Aufstehen kann viel sein.
Den Tag durchzustehen kann viel sein.
Und du klammerst dich an den, der dir die Tür offen hält, den Himmel aufreißt
Der im Stall zur Welt kommt. Der sein Brot mit dir teilt. Der in den Tod geht. Der aufersteht.

Die Tür bleibt offen. Vielleicht nur einen Spalt breit.
Die Stalltür, die Haustür, die Grabestür, die Tür zum Paradies.
Und der Himmel ist offen. Für dich.
Für dich mit deiner kleinen Kraft. Groß genug für das Leben.

2 Verschlossene Türen

Ich schicke nun einige Leute zu dir, die zur Versammlung des Satans gehören.
Sie bezeichnen sich selbst als Juden. Aber das sind sie nicht, vielmehr lügen sie.
Ich werde sie dazu bringen, dass sie zu dir kommen und sich vor deinen Füßen niederwerfen.
Sie sollen erkennen, dass ich dich geliebt habe.


Türen wurden zugeschlagen.
In Philadelphia rund um die erste Jahrhundertwende war es gefährlich für Jesus-Anhänger*innen.
Für die römischen Behörden waren sie Unruhestifter, die ständig für Aufruhr sorgten.
Sie galten sogar als Staatsfeinde, die die religiöse Verehrung der römischen Macht verweigerten.
Und damit waren nicht nur die Jesus-Anhänger*innen in Gefahr,
sondern auch ihre jüdischen Geschwister.
Sie waren ja Teil der jüdischen Gemeinde,
die weitgehend in Ruhe gelassen wurde, solange sie einigermaßen still hielten -
so wie es von den Juden und Jüdinnen Jahrtausendelang erwartet wurde.
Sogar noch mehr: es wurde erwartet, dass sie mit den römischen Behörden zusammenarbeiteten -
das beinhaltete sogar, Jesus-Anhänger anzuzeigen.
Was für ein Druck.
Dem konnten viele nicht standhalten.
Für den Seher Johannes geht das aber nicht:
Ihr dürft nicht still halten, ruft er.
Das Römische Reich ist ein Imperium des Satans.
Mit dem dürft ihr nicht paktieren! Wenn ihr das tut, seid ihr keine Juden!

Wie wurden diese Sätze in den letzten 2000 Jahren missbraucht!
Die Juden wurden zur Synagoge des Satans, zu welchen, die im Pakt mit dem Teufel standen.
Dafür wurden sie gedemütigt, verfolgt, gequält, ermordet.
Welche Schuld haben wir Christen und Christinnen auf uns geladen, indem wir das zugelassen haben.
Und in den letzten Wochen wieder ließen wir zu,
dass den Juden und Jüdinnen ihr Existenzrecht mit einem eigenen Staat abgesprochen wurde.
Auch Christen beteiligten sich daran,
dass die Ermordung von jüdischen Menschen verharmlost wurde.
Denn eigentlich seien ja sie die "Bösen". "Synagoge des Satans" hat Luther übersetzt.
Der alte Vorwurf. Mehr als 2000 Jahre alt.

Dabei versteht sich Johannes, der Seher, doch selber als Jude.
Die Jesus-Anhängerinnen damals waren auch Jüdinnen.
Nur hatten sie ein anderes Verständnis davon, was das Jüdisch-Sein bedeutet,
als die meisten anderen in der jüdischen Gemeinde.
Darum war die jüdische Gemeinde in Philadelphia am Zerreißen.
Sie war bedroht - von innen und besonders von außen, vom römischen Staat.
Und da ging es ums nackte Überleben.
Wie lange können wir uns gegenseitig unterstützen und schützen?
Wen ziehen wir mit hinein, fragten sich die Jesus-Anhänger?
Wie weit müssen oder können wir gehen mit der Abgrenzung vom römischen Machtsystem?
Oder sind wir schon Teil des satanischen Imperiums?

3 Standhaft bleiben

Johannes, der Seher, lobt die kleine, aufrechte Schar der Jesus-Anhänger*innen.
Ihr habt euch nicht einschüchtern lassen. Ihr geht keine falschen Kompromisse ein.
Gerade ihr mit eurer kleinen Kraft und eurer großen Treue: gerade euch liebt Gott.
Mögen die Türen durch die anderen zugeschlagen sein, zu Gott bleiben sie offen.
Er hält zu euch.

Du hast dich an mein Wort gehalten, standhaft zu bleiben.
Deshalb halte ich auch in der Stunde zu dir, wenn alles auf die Probe gestellt wird.
Sie wird über die ganze Welt hereinbrechen, um die Bewohner der Erde zu prüfen.


Standhaft bleiben - wenn das so einfach wäre.
Es geht ja hier nicht um Verzicht auf zu frühen Verzehr von Plätzchen.
Sondern um die tiefe Überzeugung, dass Gott alle Menschen lieb hat.
Und dass alle Menschen eine Würde haben:
groß und klein, arm und reich, dick und dünn, schwarz, braun oder rosa, männlich, weiblich, queer.

Halte ich an dieser Überzeugung auch fest, wenn es unbequem wird?
Wie sehr bewundere ich den Mut, den unsere christlichen Geschwister in der DDR hatten!
Hätte ich diesen Mut auch gehabt?

Aber auch jetzt, da ich als Christin alle Freiheiten habe:
Halte ich an der Liebe Gottes für alle fest, wenn mich diese Liebe was kostet:
meine Ehre, meinen Ruf, mein Geld?
Halte ich an der Menschenwürde fest, wenn die Wohnungen knapp werden oder der Strom?
Wenn die politische Mehrheit auf einmal umkippt
und selbst die Ampel-Regierung die Migrantinnen zu Menschen zweiter Klasse macht?
Wenn Politik auf Kosten der Ärmsten gemacht wird? Und gnadenlos ist?

Halte ich auch dann daran fest, wenn mich andere als Träumerin beschimpfen
oder als eine, die man aus dem Verkehr ziehen müsste?
Würde ich für meine Überzeugung von der Menschenwürde sogar ins Gefängnis gehen
wie Narges Mohammadi, die Friedensnobelpreisträgerin aus dem Iran?
Würde ich es tun? Hätte ich den Mut?

4 Aufrecht gehen

Ich komme bald.
Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.


Du mit deiner kleinen Kraft, lass sie dir nicht klein reden.
Du mit deinem weiten Herzen, verschließe es nicht.
Du mit deiner Sehnsucht, halte sie wach.
Denn die Welt ist nicht zu Ende. Und Gott ist nicht am Ende.
Sondern kommt. Kommt ins Leben. In die Tränen. In das Lachen. In diese Welt.

Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.
Meine Mutter war nie verheiratet.
Und als ich auf die Welt kam - in den 60ern - war das noch eine Schande.
Ein uneheliches Kind. Da lag von Anfang an ein Makel auf mir.
Der Pfarrer, der mich taufte, suchte genau diesen Satz für mich aus:
Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.

Ich habe diesen Satz lange lange nicht verstanden.
Aber irgendwann wurde mir klar, warum der Pfarrer diese Worte für mich gewählt hatte:
Gott hat mir die Krone der Menschenwürde aufgesetzt.
Für ihn gilt nicht, was die Menschen der 60er Jahre über mich und meine Mutter sagten.
Für Gott gilt:
ich bin wertvoll. Ich bin geliebt.
Und meine Würde darf mir niemand absprechen oder rauben.

Seitdem ich das begriffen habe, gebe ich diesen Satz weiter:
Diese Botschaft von der Würde, die niemand rauben darf.
Von der Krone, die uns alle zu Königskindern macht - auch die mit kleiner Kraft.
Die Tür zum Palast Gottes bleibt immer offen.
Und das gilt - auch wenn die politischen Verhältnisse was anderes sagen.

5 Durch offene Türen gehen


»Schreib an den Engel der Gemeinde in Philadelphia:›

Das sagt Christus zu Johannes, dem Seher.
Und zu dir sagt Christus es auch.
Schreib an deinen Engel.
Setz dich und schau dich um -
so wie Johannes, der Seher, als er Gottes Stimme hört.

Lege dein Herz in den Brief. Das schwere Herz und das leichte auch.
Du darfst das. Johannes hat das auch gemacht.
Schreib von deinen Sorgen um die Armen dieser Stadt -
ob sie alles bezahlen können, das Essen, die Heizung, den Strom.
Deine Gedanken um die jüdischen Freunde und Freundinnen, die jetzt auch Kerzen anzünden.
Gottes Königskinder.
Schreib an deinen Engel von deinem Enkel und den Zauberhut, den du ihm schenken willst.
Seine ganz eigene Krone.
Schreib deinem Engel, dass vor 4 Tagen hier in der Stadtkirche Fatih Aygün erzählt hat,
wie heilig ihm, dem Muslim, der heilige Nikolaus ist.

Schreib deinem Engel von deinen Tränen und von deinem Lachen.
Schreib ihm von deiner Suche und deinen Fragen, deinen Zweifeln und deiner kleinen Kraft.
Und von den vielen offenen Türen.
Es gibt sie auch. Gott sei Dank.

Ja, schreib deinem Engel von deiner Hoffnung.
Denn Christus kommt. Und Christus wird dich aufrichten.
Und alle anderen Königskinder auch.
Er reißt die Türen weit auf.
Und du mit deiner kleinen Kraft wirst aufstehen, deine Krone zurechtrücken,
und durch die offene Tür gehen.
Ins Leben.



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