Mittwoch, 27. Dezember 2023

Wie eine Feder

Was der Film "Forrest Gump" mit Weihnachten zu tun hat

Predigt zum 2. Weihnachtstag 2023

1. 

Eine Feder treibt im Wind. Wirbelnd zieht sie ihre Bahnen über der Stadt und landet fast auf der Schulter eines Fußgängers, wird beinahe vom Auto überfahren und fällt schließlich auf die abgewetzten dreckigen Schuhe von Forrest Gump. Der sitzt an einer Bushaltestelle und wartet. Forrest hebt die Feder auf. Sanft hält er sie zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtet sie neugierig, fasziniert. Dann öffnet er seinen kleinen Reisekoffer, holt ein Buch heraus, öffnet es an der Stelle, wo viele Wolken zu sehen sind, legt die Feder sanft hinein und schließt den Koffer wieder. Eine Frau setzt sich neben ihn und beginnt ein Buch zu lesen. Er begrüßt sie und stellt sich vor. Ich bin Forrest, Forrest Gump. Die Frau nickt ihm freundlich zu und liest weiter.

2.

Doch Forrest redet weiter. Erzählt von seiner Mutter und ihrer Pralinenschachtelweisheit.
Und von ihrer Wärme und wie sie ihm Mut gemacht hat. Dass er gut so ist, wie er ist. Er, der nicht so richtig in diese Welt zu passen scheint. Mit seiner Naivität und seinem kindlichen Blick auf das Leben. Er freut sich an den kleinen Dingen wie zum Beispiel die Feder, die zu ihm vom Himmel fällt. Er ist absolut ehrlich und spielt nie mit fiesen Tricks. Verweigert jegliche Manipulationen und überrascht genau damit seine Umwelt. Bei alledem versucht er beharrlich - und meistens rennend - das Wertvollste, Heiligste und Verletzlichste eines Menschenleben zu behüten: die Liebe. Die Liebe ist der rote Faden in seinem komplizierten Leben: die Liebe, die er von seinen Mitmenschen empfangen hat und die er weitergibt. Er glaubt felsenfest an das Gute im Menschen und dass alles im Leben einen Sinn ergibt.

(Feather-Theme z.B. https://www.mytravelingpiano.com/video/forrest-gump-soundtrack/)

3.

Als ich den Film vor 29 Jahren im Kino sah, hab ich hinterher geheult wie ein kleines Kind. Mit seiner naiven Verletzlichkeit hat Forrest mich im Innersten berührt. Als Kind wurde ich oft belächelt für meine Träumereien. Tollpatschig und verträumt - irgendwie nicht geeignet für diese raue Welt - so hieß es oft. Und ja, meine Mutter sorgte sich um mich, ob ich mich überhaupt durchsetzen könnte. Sie selber wurde oft für ihre Gutgläubigkeit ausgelacht. Es scheint bei uns in den Genen zu liegen. 

Manchmal kommt es auch jetzt noch vor, dass ich belächelt werde, nicht ernstgenommen, weil ich nicht fassen kann, was Menschen sich gegenseitig antun. Und weil ich mich nicht damit abfinden will. Ja, ich weiß, auf viele wirke ich eher tough. Aber diese naive, gutgläubige, verträumte Seite ist auch ein Teil von mir. Und ich mag diese Seite, auch wenn sie manchmal untergeht.

Forrest Gump hat das alles wieder anklingen lassen. Er sagt mir: es ist gut so, wie du bist. Auch wenn die Welt es dir manchmal schwer macht. Es ist gut, dass es eine zarte, leichte Seele gibt - wie eine Feder. Manchmal umher wirbelnd und vielleicht wird sie sogar überrollt? Oder sie landet auf dem Schuh genau des Menschen, der sie zu würdigen weiß. Der sich an ihr erfreut und sie schützt und bewahrt.

4.

Forrest Gump scheint nicht in diese Welt zu passen. Und doch hat er sie verzaubert. Forrest hat eine Wirkung auf die Menschen um ihn herum gehabt, ohne es zu wollen. Die Art und Weise, die Haltung, mit der er auf die Welt schaut, verändert die Welt. Und das gehört für mich zu Weihnachten. Der Glaube an das Gute im Menschen, seine unerschütterliche Liebe ausgerechnet zu Jenny, die ihn immer wieder in Stich lässt, seine Freundschaft zu Bubba und Lieutenant Dan - alles versehrte, zutiefst verletzte Menschen, für die er einfach da ist, selbst im Tod - das ist wie Weihnachten.

5.

Ja, das ist Weihnachten ohne Christbaumkerzen und Gänsebraten, ohne Glitzerlametta und Jubelchor. Es ist Weihnachten in der Tiefe, Weihnachten, wenn nach 3 Tagen das Aufräumen anfängt und der Alltag beginnt und man sich fragt: Gilt sie denn immer noch, die Botschaft von Weihnachten? Der Engelruf „Fürchtet euch nicht!“ - der Friedensgruß für alle Menschen. Was bleibt von Weihnachten übrig, wenn die Lieder verklungen sind, die Panzer wieder rollen und die Raketen wieder geschossen werden?

Dass Gott mit seiner Liebe in der Welt ist, das bleibt. Forrest Gump ist einer, für den die Liebe auch dann nicht aufhört, als Jenny stirbt. Sein Blick auf die Welt ist auch dann noch voll mit Liebe und Staunen und Wohlwollen. Wer liebt, schaut anders auf die Welt und entdeckt überall die Spuren der Liebe. Die Spuren von Gottes Herrlichkeit. Schwer wie die Trauer und leicht wie die Feder. Und Forrest ist überwältigt, dass ausgerechnet er einen Sohn hat.

Liedstrophe: 
Da wo die tiefsten Schatten sind, lässt Gottes Licht sich sehn. Noch ist es klein - so wie das Kind, vor dem die Hirten stehen. Sie haben nichts als nur verzagte Herzen mitgebracht. Aber Gott hat den Himmel aufgemacht in der Nacht. Gott hat heute seinen Himmel aufgemacht.

6.

Gott hat seinen Himmel aufgemacht und ein Kind in die Krippe gelegt. Dieses Kind wird wie alle Kinder wachsen und es wird staunen über das Leben, über Federn und Tiere, über Sterne und tiefe Geschichten. Es wird das Gute in den Menschen sehen und über das Böse weinen. Es passt nicht in diese Welt und die Welt wird es nicht verstehen. Aber die Welt wird nicht mehr wie vorher sein.

Gott hat seinen Himmel aufgemacht und hat Engel zu Nobodys geschickt, zu Menschen mit Schwielen an den Händen und jeder Menge Sprüchen auf Lager. Zu Menschen, die man nicht ernstnimmt, die keine Lobby haben. Damals auf den Feldern. Heute bei Amazon, in den Flüchtlingslagern oder an den Außengrenzen Europas. Zu ihnen schickt Gott Engel, die ihnen die Angst vor dem Morgen nehmen. Wie goldene Federn wirbeln sie über den Feldern und lassen gerade diese Nobodys spüren: Auf euch kommt es an, egal ob man es euch zutraut oder nicht. Ihr seid genau richtig. Die Welt braucht euch, so wie ihr seid.

7.

Gott hat seinen Himmel aufgemacht für alle, die eigentlich nur das Gute in anderen Menschen sehen wollen. Die nicht mit Bösem rechnen und ehrlich bis in die Haarspitzen sind. Die dafür belächelt werden oder für dumm gehalten. Die ihre offenen Flanken zeigen und sich nicht schützen. Menschen wie Forrest. Kinder. Träumerinnen. Tänzer.

Gott hat seinen Himmel aufgemacht und eine Feder fliegen lassen. Auch für mich. Und für dich. Vielleicht ist sie golden und strahlt, vielleicht ist sie weiß wie bei Forrest Gump, vielleicht ist sie aber auch taubengrau. Und ich möchte wie Forrest diese Feder in die Hand nehmen und betrachten. Und stell dir vor, dass Gott dich wie die Feder in die Hand nimmt. Gott sieht dich an freut sich an dir wie Forrest. Sammelt dich behutsam auf, wenn du dich vom Leben hin und her geworfen fühlst. Ich wünsche dir diesen zarten, liebevollen Blick auf dein Leben, das nicht gerade federleicht ist. Und ich weiß, dass dieser Blick aus der Krippe kommt. Von diesem Kind, das von Gott dort hineingelegt wurde. Verletzlich und klein und viel zu gut für diese Welt.

8.

Am Ende des Films bringt Forrest seinen Sohn zum Schulbus. Jenny ist gestorben. Forrest muss sich um seinen Sohn alleine kümmern. Mit seiner ganzen naiven, ehrlichen und großen Liebe sorgt er für ihn. Als sie auf den Bus warten, öffnet er das Buch, das die Feder beherbergte und die Feder fällt heraus. Ein Wind wirbelt sie auf, als der Schulbus losfährt. 

Die Liebe ist schwer und leicht zugleich und sie wird gelebt.
Einfach gelebt. Golden oder weiß oder taubengrau. Mit Tränen und mit Lachen.
Staunend und zart und voller Geschichten und Narben.

Gottes Spuren. Weihnachtsspuren - wie eine Feder.
Behutsam in die Hand genommen und dann wieder frei gelassen.
Und wir gehen weiter ins Leben.

Amen.

 




Montag, 25. Dezember 2023

Weihnachtssehnsucht

Von Gotteskindern, Erwachsenen und einer großen Gottesfamilie

Predigt zu Galater 4, 4-7 

1.  Zwischen Sehnsucht und Überforderung
 
Weihnachten lässt niemanden kalt.
Manchen ist Weihnachten too much und sie fliehen.
Möglichst weit weg.
Dorthin wo es warm ist und möglichst keine Verwandten.

Manche können nicht genug von Weihnachten kriegen und fahren alles auf, was sie haben.
Die Wohnung blitzblank. Weihnachtsschmuck auf jeder Fensterbank.
Die Gans schon vor Wochen bestellt.

Und dazwischen bin ich.
Nur ein paar Fenstersterne haben es dieses Jahr an die Fenster geschafft
(und das auch erst gestern).
Aber der Käse fürs Raclette liegt seit 4 Tagen im Kühlschrank.
Die Krippe aus der Garage ist da, wenn auch staubig.
Irgendwo liegen noch Weihnachtskarten, die ich schreiben wollte.
Und meine Gedanken kreisen zwischen Geiseln und AfD-Bürgermeister,
zwischen dem kleinen Lord und Ottolenghi-Rezept.
Das bin ich. Und du vielleicht auch.
Irgendwie dazwischen.
Zwischen Sehnsucht und Überforderung -
auf dem Weg zum ganz eigenen Weihnachten.
 
2. Meine kindliche Sehnsucht


Ich bin ja kein Kind mehr.
Aber je älter ich werde, desto größer die Sehnsucht.

So richtig beschreiben kann ich sie gar nicht.
Ja, nach Frieden sehne ich mich natürlich.
Aber wie sieht er aus? Und kann er mal endlich nicht so verletzlich sein?

Und sehnst du dich auch nach Heilsein?
Dass die kleinen Risse in deiner Seele nicht mehr so weh tun.
Dass du zufrieden bist mit dir selbst.
Dass du dein Leben besser auf die Reihe kriegst.
Dass du dir selbst verzeihen kannst.

Und willst du auch wie ich endlich vertrauen können?
Ganz und gar und nicht nur ein bisschen.
Keine Angst mehr haben, dass jemand dein Vertrauen ausnutzt.
Überhaupt keine Angst mehr haben -
weder vor der Nacht noch vor deinen Gedanken,
weder vor bösen Menschen noch vor einer 4 Grad wärmeren Zukunft.

Und vielleicht sehnst du dich auch einfach nur danach, dass alles übersichtlich ist.
Ganz schlicht. Ganz einfach. Wesentlich.
Damit du hinterher kommst mit deiner Seele und deinem kaputten Knie.

Du bist kein Kind mehr,
aber das Kind in dir hat große Augen und ein großes Herz und will einfach geborgen sein.
 
3. Erwachsen sein


Als ich noch ein Kind war, wollte ich endlich erwachsen sein. Gerade auch an Weihnachten.
Endlich selbst bestimmen, wie es gehen kann.
Ich musste damals in die Christvesper und eine Predigt hören, die ich nicht verstanden habe.
Die Lieder mochte ich schon damals.
Aber der laute Gesang meiner Mutter neben mir war mir irgendwie peinlich.
Am 1. Weihnachtstag Verwandte besuchen,
Weihnachtskarpfen essen, den ich als Kind nicht leiden konnte
(und heute auch noch nicht).
Die Erwachsenen redeten und redeten.
Es ging oft laut zu,
nicht selten auch wurde es ungemütlicher, wenn vergangene Streitpunkte wieder hoch kamen,
oder weil wir pubertierenden Kinder keine Lust mehr auf diese Großfamilie hatten.
Manche meiner Freunde haben sich damals losgeeist
und sind zumindest am späten Heiligen Abend auf Kneipentour gegangen
(Ja, das ging!).
Irgendwie habe ich sie beneidet, hätte mich das aber nie getraut.
 
Und heute? Ich bin erwachsen. Kann selbst bestimmen. Und ich mache vieles anders.
In der Familie einigen wir uns meistens auf das Essen (ohne Karpfen).
Der Baum wird so geschmückt, wie ich das will (naja, meine Enkelin bestimmt mit).
Und ich singe immer noch gerne die Weihnachtslieder.

Aber vor allem spüre ich, dass ich manchmal gerne wieder Kind wäre.
Ich würde gerne wieder die Stimme meiner Mutter hören.
Würde‚ mich gerne wieder einfach treiben lassen.
Ohne Druck. Ohne alles richtig machen zu müssen.
 
Kennst du diesen Wunsch auch?
Keine Verantwortung übernehmen.
Die Tage sollen so endlos sein wie damals.
Schwarzweißfilme schauen.
Und diese warme stickige Luft auf der Haut spüren,
die lauten Stimmen der Erwachsenen vorbeiziehen lassen und nicht mitreden müssen.
Oder wie der kleine Lord alle Herzen verzaubern und alle sitzen vereint am Tisch.

Ist das die Ur-Sehnsucht? Wieder Kind zu sein?
Womöglich ein Kind zu sein, dass ich nie war und du auch nicht?
 
4. Gottes Kind



Dabei bist du ja ein Kind.
Ein ganz besonders geliebtes. Ein von Gott geliebtes Kind.
Mit Haut und Haaren, Runzeln und Falten,
geschminkt und ungeschminkt,
festlich gekleidet oder in bequemer Jogginghose,
mit gewaschenen Haaren oder dreckigen Fingernägeln - du bist ein geliebtes Kind.
Wertvoll, königlich, würdevoll, klug, schön, wichtig, unverzichtbar.
Gottes Kind. Du.

Und dafür musst du nichts tun. Nichts!
 
Paulus hat dazu was geschrieben
- noch bevor die Weihnachtgeschichte aufgeschrieben wurde -
die mit den Hirten und mit der Krippe, mit Maria und Josef und dem Kind im Stall,
mit den Engeln und mit Bethlehem...
Paulus kannte die Weihnachtsgeschichte noch nicht.
Und er schreibt ungefähr so*:



Als die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.
Der wurde geboren von einer Frau.
Ein Kind wie alle Kinder.

Dadurch machte Gott alle Menschen zu seinen Kindern.
Frei zu einem Leben, das ihrer Würde entspricht.

Auch du bist ein Kind Gottes.
Und du trägst das Erbe Gottes weiter.

 
5. Gottes Familie


Ob Weihnachten dich kalt lässt oder nicht:
Weihnachten verstrickt dich hinein in die Gottesfamilie.
Sie ist Patchwork pur.
Alleinerziehende, Stief- und Schwiegerkinder, Adoptiveltern und Pflegekinder,
Singles, Paare, Geschiedene, Verwitwete.
Eine unverheiratet Schwangere gehört genauso dazu wie der Träumer Josef,
harte Arbeiter genauso wie Büchernarren wie Flügelwesen.
Und diese Gottesfamilie hat so gar nichts von heiler, bürgerlicher, glücklicher Familienidylle.
Im Gegenteil.
 
In Gottes Familie musst du nicht brav den Erwachsenen zuhören,
sondern darfst deinen Mund auf machen.
Du musst keine Bedingungen erfüllen, um dazu zugehören.
Du darfst lieben, wen du willst.
Du musst nichts geputzt haben, auch keine Fenster.
Du musst keinen Weihnachtsbaum aufgestellt haben, keine Gans im Ofen.
Du kannst dich schwer tun mit Geschenken, schreibst vielleicht keine Weihnachtskarten,
schaltest das Radio vielleicht aus bei „Last Christmas“.
So wie du bist, bist du Kind Gottes.
Kind Gottes zwischen Sehnsucht und Überfordertsein.
 
6. Gottes Sehnsucht


Gott selbst ist ein Kind.
Sehnsüchtig nach Liebe.
Ein Niemand von Niemandseltern.
Geboren inmitten von Tiergestank, aufgewachsen in einem ganz normalen Dorf.
Und erwachsen geworden lebt dieses Kind Gottes Sehnsucht nach Liebe.
Berührt Augen und Ohren und Seelen von lauter Leuten, die nicht dazu gehören.
Aber für ihn sind sie Teil seiner Familie, seiner Gottes Familie.
Auf Du und Du mit Gott.
 
Und da sind sie nun, die Kinder Gottes:
Der Krankenpfleger, erschöpft und ausgelaugt.
Die jüdischen Geschwister hier in Pforzheim
und die, deren Liebsten als Geiseln ausharren müssen.
Die palästinensischen Kinder, geopfert von Terroristen,
weil sie deren Schulen als Versteck benutzen.
Die Frauen im Iran und Afghanistan, zum Schweigen gebracht.
Die jesidischen Geschwister, die aus Deutschland abgeschoben werden.
Die jungen Eltern, alleingelassen und übernächtigt.

Kinder der Gottesfamilie.
Deine Geschwister. Meine Geschwister. 

Wertvoll, königlich, würdevoll, klug, schön, wichtig, unverzichtbar. 

Sehnsüchtig und überfordert.

Wir haben uns diese Gottesfamilie nicht ausgesucht.
Aber Gott hat uns sehnsüchtig zusammengesucht.
Umarmt diese Welt wie der kleine Lord am Weihnachtsabend seinen Großvater.
 
7. Sehnsuchtsgeschichte


Und deine, meine Sehnsucht?
Die an Weihnachten besonders groß ist?
Die nach dem Heilsein und dem Vertrauen und dem Frieden?
Ich habe sie als Erwachsene.
Und ich habe sie als Gottes geliebtes Kind.
Die Sehnsucht bleibt bei mir - sie bleibt, egal wie alt ich bin.
Und manchmal öffnet dieses Sehnsucht Gottes mein Herz.
Wenigstens einen Spalt breit.
Und dann schau ich, was passiert.

Liebes Gotteskind,
mit unserer Sehnsucht sind wir nicht allein.
Sie kommt im Stall zur Welt, im Niemandsland, dort, wo heute Krieg ist.
Die Sehnsucht nach Heilsein, nach Vertrauen und Frieden -
sie ist klein und runzlig und menschlich.
Vielleicht ist sie auch ganz leise. Und kaum zu hören.
Vielleicht versteckt sie sich in den unaufgeräumten Ecken bei mir zuhause?
Vielleicht entdeckst du sie bei dir?
Deine Sehnsucht und Gottes Sehnsucht nach dir.
 
Diese Sehnsucht ist die gemeinsame Geschichte der Gottesfamilie, aller Kinder Gottes.
Sie ist unsere Geschichte. Unsere Weihnachtsgeschichte.
Sie lässt dich nicht kalt und mich auch nicht.
Gott strickt uns zusammen zu einer Familie.
Mit Hirten und Maria und Josef und Engeln.
Mit Tieren und Sternen und Fürchtet euch nicht.
Mit großen Augen und hellen Liedern.
Und einem warmen Herzen - voller Sehnsucht.
Amen.

*) Danke an Birgit Mattausch für die Anregung zur Übersetzung und zur Konzentration auf wenige Aussagen

Sonntag, 10. Dezember 2023

Mit kleiner Kraft ins Leben

Von offenen und verschlossenen Türen,
dem Seher Johannes und ganz viel Mut und Würde

Predigt zu Offenbarung 3, 7-11 am 2. Advent 2023


1 Geöffnete Türen

Schreib an den Engel der Gemeinde in Philadelphia:
„So spricht der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat. –
Was er öffnet, kann niemand wieder schließen.
Und was er schließt, kann niemand wieder öffnen. –
Er lässt euch sagen: Ich kenne deine Taten.
Sieh hin, ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand wieder schließen kann.
Du hast zwar nur eine kleine Kraft.
Aber dennoch hast du an meinem Wort festgehalten und hast meinen Namen nicht verleugnet.“


Die Tür zu Gott ist offen. Die Tür bleibt offen.
Vielleicht nur einen Spalt breit. Aber das genügt.

Für Johannes ist es mehr als ein Spalt.
Weit geöffnet sind seine Sinne. Weit offen die Tür zur Stimme Gottes.
Die hört er auf der Insel Patmos  - verbannt, geflohen, zurückgezogen.
So genau weiß das niemand.
Aber die Tür zu Gott ist offen und sie bleibt offen -
schreibt er nach Philadelphia, ein Ort im wirtschaftlichen Niedergang.
Eine Gemeinde mit kleiner Kraft.

Ich habe mal ein kleines Mädchen getauft.
6 Wochen nach der Geburt wurde es auf einmal ganz blau.
Ein unentdeckter Herzfehler. Eine Not-OP konnte das Mädchen retten.
Seitdem trägt es einen Herzschrittmacher.
Als es 12 Monate später getauft werden sollte, suchten sich seine Eltern dieses Wort aus:
Ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand wieder schließen kann.
Die kleine Kraft des Mädchens war groß genug für das Leben.
Und heute studiert sie Medizin.

Du hast nur eine kleine Kraft, aber dennoch hast du an meinem Wort festgehalten.
Du hast nur eine kleine Kraft, aber dennoch hast du überlebt.
Du hast nur eine kleine Kraft,
aber dennoch machst du jeden Morgen deinem Kind ein Frühstück.
Dennoch schreibst du den Gefangenen in Weißrussland jeden Tag einen Brief.
Dennoch besuchst du jede Woche deine kranke Nachbarin.
Dennoch stehst du jeden Morgen auf.

Es gibt viele, die sagen: das ist zu wenig. Das ist doch nichts.
Aber du weißt: wenn die Kraft klein ist, ist das viel.
Schon das Aufstehen kann viel sein.
Den Tag durchzustehen kann viel sein.
Und du klammerst dich an den, der dir die Tür offen hält, den Himmel aufreißt
Der im Stall zur Welt kommt. Der sein Brot mit dir teilt. Der in den Tod geht. Der aufersteht.

Die Tür bleibt offen. Vielleicht nur einen Spalt breit.
Die Stalltür, die Haustür, die Grabestür, die Tür zum Paradies.
Und der Himmel ist offen. Für dich.
Für dich mit deiner kleinen Kraft. Groß genug für das Leben.

2 Verschlossene Türen

Ich schicke nun einige Leute zu dir, die zur Versammlung des Satans gehören.
Sie bezeichnen sich selbst als Juden. Aber das sind sie nicht, vielmehr lügen sie.
Ich werde sie dazu bringen, dass sie zu dir kommen und sich vor deinen Füßen niederwerfen.
Sie sollen erkennen, dass ich dich geliebt habe.


Türen wurden zugeschlagen.
In Philadelphia rund um die erste Jahrhundertwende war es gefährlich für Jesus-Anhänger*innen.
Für die römischen Behörden waren sie Unruhestifter, die ständig für Aufruhr sorgten.
Sie galten sogar als Staatsfeinde, die die religiöse Verehrung der römischen Macht verweigerten.
Und damit waren nicht nur die Jesus-Anhänger*innen in Gefahr,
sondern auch ihre jüdischen Geschwister.
Sie waren ja Teil der jüdischen Gemeinde,
die weitgehend in Ruhe gelassen wurde, solange sie einigermaßen still hielten -
so wie es von den Juden und Jüdinnen Jahrtausendelang erwartet wurde.
Sogar noch mehr: es wurde erwartet, dass sie mit den römischen Behörden zusammenarbeiteten -
das beinhaltete sogar, Jesus-Anhänger anzuzeigen.
Was für ein Druck.
Dem konnten viele nicht standhalten.
Für den Seher Johannes geht das aber nicht:
Ihr dürft nicht still halten, ruft er.
Das Römische Reich ist ein Imperium des Satans.
Mit dem dürft ihr nicht paktieren! Wenn ihr das tut, seid ihr keine Juden!

Wie wurden diese Sätze in den letzten 2000 Jahren missbraucht!
Die Juden wurden zur Synagoge des Satans, zu welchen, die im Pakt mit dem Teufel standen.
Dafür wurden sie gedemütigt, verfolgt, gequält, ermordet.
Welche Schuld haben wir Christen und Christinnen auf uns geladen, indem wir das zugelassen haben.
Und in den letzten Wochen wieder ließen wir zu,
dass den Juden und Jüdinnen ihr Existenzrecht mit einem eigenen Staat abgesprochen wurde.
Auch Christen beteiligten sich daran,
dass die Ermordung von jüdischen Menschen verharmlost wurde.
Denn eigentlich seien ja sie die "Bösen". "Synagoge des Satans" hat Luther übersetzt.
Der alte Vorwurf. Mehr als 2000 Jahre alt.

Dabei versteht sich Johannes, der Seher, doch selber als Jude.
Die Jesus-Anhängerinnen damals waren auch Jüdinnen.
Nur hatten sie ein anderes Verständnis davon, was das Jüdisch-Sein bedeutet,
als die meisten anderen in der jüdischen Gemeinde.
Darum war die jüdische Gemeinde in Philadelphia am Zerreißen.
Sie war bedroht - von innen und besonders von außen, vom römischen Staat.
Und da ging es ums nackte Überleben.
Wie lange können wir uns gegenseitig unterstützen und schützen?
Wen ziehen wir mit hinein, fragten sich die Jesus-Anhänger?
Wie weit müssen oder können wir gehen mit der Abgrenzung vom römischen Machtsystem?
Oder sind wir schon Teil des satanischen Imperiums?

3 Standhaft bleiben

Johannes, der Seher, lobt die kleine, aufrechte Schar der Jesus-Anhänger*innen.
Ihr habt euch nicht einschüchtern lassen. Ihr geht keine falschen Kompromisse ein.
Gerade ihr mit eurer kleinen Kraft und eurer großen Treue: gerade euch liebt Gott.
Mögen die Türen durch die anderen zugeschlagen sein, zu Gott bleiben sie offen.
Er hält zu euch.

Du hast dich an mein Wort gehalten, standhaft zu bleiben.
Deshalb halte ich auch in der Stunde zu dir, wenn alles auf die Probe gestellt wird.
Sie wird über die ganze Welt hereinbrechen, um die Bewohner der Erde zu prüfen.


Standhaft bleiben - wenn das so einfach wäre.
Es geht ja hier nicht um Verzicht auf zu frühen Verzehr von Plätzchen.
Sondern um die tiefe Überzeugung, dass Gott alle Menschen lieb hat.
Und dass alle Menschen eine Würde haben:
groß und klein, arm und reich, dick und dünn, schwarz, braun oder rosa, männlich, weiblich, queer.

Halte ich an dieser Überzeugung auch fest, wenn es unbequem wird?
Wie sehr bewundere ich den Mut, den unsere christlichen Geschwister in der DDR hatten!
Hätte ich diesen Mut auch gehabt?

Aber auch jetzt, da ich als Christin alle Freiheiten habe:
Halte ich an der Liebe Gottes für alle fest, wenn mich diese Liebe was kostet:
meine Ehre, meinen Ruf, mein Geld?
Halte ich an der Menschenwürde fest, wenn die Wohnungen knapp werden oder der Strom?
Wenn die politische Mehrheit auf einmal umkippt
und selbst die Ampel-Regierung die Migrantinnen zu Menschen zweiter Klasse macht?
Wenn Politik auf Kosten der Ärmsten gemacht wird? Und gnadenlos ist?

Halte ich auch dann daran fest, wenn mich andere als Träumerin beschimpfen
oder als eine, die man aus dem Verkehr ziehen müsste?
Würde ich für meine Überzeugung von der Menschenwürde sogar ins Gefängnis gehen
wie Narges Mohammadi, die Friedensnobelpreisträgerin aus dem Iran?
Würde ich es tun? Hätte ich den Mut?

4 Aufrecht gehen

Ich komme bald.
Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.


Du mit deiner kleinen Kraft, lass sie dir nicht klein reden.
Du mit deinem weiten Herzen, verschließe es nicht.
Du mit deiner Sehnsucht, halte sie wach.
Denn die Welt ist nicht zu Ende. Und Gott ist nicht am Ende.
Sondern kommt. Kommt ins Leben. In die Tränen. In das Lachen. In diese Welt.

Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.
Meine Mutter war nie verheiratet.
Und als ich auf die Welt kam - in den 60ern - war das noch eine Schande.
Ein uneheliches Kind. Da lag von Anfang an ein Makel auf mir.
Der Pfarrer, der mich taufte, suchte genau diesen Satz für mich aus:
Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand deine Krone nehme.

Ich habe diesen Satz lange lange nicht verstanden.
Aber irgendwann wurde mir klar, warum der Pfarrer diese Worte für mich gewählt hatte:
Gott hat mir die Krone der Menschenwürde aufgesetzt.
Für ihn gilt nicht, was die Menschen der 60er Jahre über mich und meine Mutter sagten.
Für Gott gilt:
ich bin wertvoll. Ich bin geliebt.
Und meine Würde darf mir niemand absprechen oder rauben.

Seitdem ich das begriffen habe, gebe ich diesen Satz weiter:
Diese Botschaft von der Würde, die niemand rauben darf.
Von der Krone, die uns alle zu Königskindern macht - auch die mit kleiner Kraft.
Die Tür zum Palast Gottes bleibt immer offen.
Und das gilt - auch wenn die politischen Verhältnisse was anderes sagen.

5 Durch offene Türen gehen


»Schreib an den Engel der Gemeinde in Philadelphia:›

Das sagt Christus zu Johannes, dem Seher.
Und zu dir sagt Christus es auch.
Schreib an deinen Engel.
Setz dich und schau dich um -
so wie Johannes, der Seher, als er Gottes Stimme hört.

Lege dein Herz in den Brief. Das schwere Herz und das leichte auch.
Du darfst das. Johannes hat das auch gemacht.
Schreib von deinen Sorgen um die Armen dieser Stadt -
ob sie alles bezahlen können, das Essen, die Heizung, den Strom.
Deine Gedanken um die jüdischen Freunde und Freundinnen, die jetzt auch Kerzen anzünden.
Gottes Königskinder.
Schreib an deinen Engel von deinem Enkel und den Zauberhut, den du ihm schenken willst.
Seine ganz eigene Krone.
Schreib deinem Engel, dass vor 4 Tagen hier in der Stadtkirche Fatih Aygün erzählt hat,
wie heilig ihm, dem Muslim, der heilige Nikolaus ist.

Schreib deinem Engel von deinen Tränen und von deinem Lachen.
Schreib ihm von deiner Suche und deinen Fragen, deinen Zweifeln und deiner kleinen Kraft.
Und von den vielen offenen Türen.
Es gibt sie auch. Gott sei Dank.

Ja, schreib deinem Engel von deiner Hoffnung.
Denn Christus kommt. Und Christus wird dich aufrichten.
Und alle anderen Königskinder auch.
Er reißt die Türen weit auf.
Und du mit deiner kleinen Kraft wirst aufstehen, deine Krone zurechtrücken,
und durch die offene Tür gehen.
Ins Leben.



Dienstag, 24. Oktober 2023

Let it be - Loslassen, woran dein Herz hängt

Predigt im Rahmen der Predigtreihe "Was bleibt"
zu Mt 6, 19 - 34

I. Let it be

1968 ist für Paul McCartney ein unruhiges Jahr:
Die Konflikte innerhalb der Beatles nehmen immer mehr zu.
Wird es bald vorbei sein mit der Band?
Das Herzensprojekt seines Lebens. Die vielen großartigen Songs.
Die unglaublichen Konzerte. Der Riesenerfolg. Das alles soll bald nicht mehr sein?
Der Druck ist jedenfalls riesig.

Doch dann erscheint McCartney seine verstorbene Mutter Mary im Traum.
Paul hatte sie verloren, als er 14 Jahre alt war.
Später erzählt er: Mit sanfter und beruhigender Stimme sagte sie zu mir:
„Let it be!“. Lass es geschehen! Lass es los.
„Als ich aufgewacht bin, habe mich an das Klavier gesetzt und einen Song daraus gemacht“.

Es dauerte noch fast zwei Jahre, bis Let it be von den Beatles veröffentlicht wurde.
Es wurde zum Titellied ihres letzten Albums, sozusagen ihr Abschiedsgruß an die Welt.
Diese zwei Jahren waren kein gutes Ende einer phantastischen Band.
Aber der Song bleibt. Bis heute.
Mit seiner Botschaft: Es gibt schwierige Zeiten. Mit viel Streit und gebrochenen Herzen.
Aber damit bis du nicht allein. Es gibt ein Licht, das auch morgen noch scheint.
Was auch immer passiert. Words of wisdom. Let it be.

Let it be - Refrain instrumental

II. Widerspruch

Let it be - sind es wirklich „weise Worte“?
Words of wisdom in jeder Lebenslage?
Sind es Worte, die wir gerade jetzt brauchen?
Auf israelische Städte fallen Bomben, Zivilisten wurden ermordet.
Die Hamas missbraucht die palästinensische Bevölkerung.
Jüdische Freunde und Freundinnen leben in Angst - auch in Pforzheim.
Und im Netz tobt der Hass.
 Let it be?
Flüchtlinge gelten in Europa nur noch als Bedrohung. Die Rechten gewinnen Oberhand.
Der Golfstrom versiegt und die Gletscher schmelzen unaufhaltsam.
Let it be?

Manche machen das so. Let it be.
Lass mich in Ruhe damit. Hauptsache, mir geht es gut.
Ja, so lebt es sich "gut", bis es einen selber trifft.  

Und ja, diese Art von Let it be kennen wir auch aus unserer christlichen Tradition.
Du kannst ja sowieso nichts ändern. Gib dich zufrieden und sei still.

Und ja, einige, die das so sagen und sagten, berufen sich  sogar auf Jesus, wenn er sagt:

Macht euch keine Sorgen! Fragt euch nicht:
Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen?
Um all diese Dinge dreht sich das Leben der Heiden.
Euer Vater im Himmel weiß doch, dass ihr das alles braucht.


Keine Panik. Immer mit der Ruhe. Nichts überstürzen.
So wurden und werden diese Worte zum Vertrösten benutzt.
Oder dafür, dass man ja, nichts ändern muss.
Let it be - heißt dann: Lass uns in Ruhe. Lass uns bloß nichts ändern.
Lass uns so weitermachen wie bisher.

Mich treibt das um. Dich auch?

Let it be - Refrain melancholisch anstimmen

III. Loslassen ist sinnvoll

Jesus will nicht vertrösten.
Jesus macht auch die Sorgenvollen nicht lächerlich.
Es geht gar nicht um die Sorgen, die ich mir um andere mache.
Es geht um die Sorgen, die ich mir um mich mache.
Um mein Hab und Gut. Um meine Gesundheit. Meine Privilegien.
Diese Sorgen kann man groß machen und politisch instrumentalisieren.
Grenzen zu. Mauern hoch. Mit dem Neid spielen.

Lasst es. Sagt Jesus.
Denn dieses Sorgen ist aus Irrtümern geboren.
Es gibt in diesem Leben keine letzte absolute Sicherheit. Punkt.

Es gibt aber auch das andere Sorgen.
Das, das keine Veränderung will. Das Angst davor hat.
Sorge um das, was mir Sicherheit verschafft.
Diese Sorge lässt mich festhalten, was ich kenne und was ich mir erarbeitet habe.
Sie lässt mich an Ideen und Werten und Gedanken klammern.
An Bildern und Normen und Meinungen.
Aber die Welt dreht sich. Die Welt verändert sich.
Und das macht auch mir manchmal Angst.
Wenn ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist
und die Nachrichten sich überschlagen,
wenn ich meine eigenen Kinder nicht mehr verstehe,
weil sie vieles anders leben und anders ausdrücken.
Was bleibt von dem, was mir wirklich wichtig ist?
Ja, diese Frage kenne ich nur zu gut.

Als die Zeit der Beatles zu Ende ging, fiel es Paul McCarthy sehr schwer, das zu akzeptieren. 
Sein Lebenswerk löste sich auf. Das tat weh.

Loslassen ist kein Wellness-Programm a la simplify your life -
jedenfalls nicht, wenn ich loslassen MUSS.
Wenn ich aufgeben muss, was mir lieb und wichtig ist, dann ist das nun mal verdammt schwer. 
In der Kirche erleben wir es gerade.
So vieles, was wir loslassen müssen: womit wir großgeworden sind, was uns vertraut ist.
Und ja, wir haben Sorge, ob die Kirche auch in Zukunft noch für uns da ist. 


Loslassen ist schwer. Gerade viele ältere Menschen wissen davon ein Lied zu singen.
Zu viele Menschen, die man verloren hat.
Und wenn der vertraute Partner stirbt, tut das besonders weh.
Diese riesengroße Lücke.
Die Gedanken: hätte ich ihm doch noch dies gesagt.
Oder warum hab ich damals so viel mit ihm geschimpft?
Loslassen - ja, irgendwann, aber doch noch nicht jetzt. Noch zu vieles, was ungeklärt ist.

Oder wenn der Abschied vom eigenen Haus ansteht.
Wenn klar ist, es geht nicht mehr alleine.
Meine Mutter hat damals Jahre gebraucht,
um sich mit dem Schritt anzufreunden, ins Pflegeheim zu gehen.
Sehr lange konnte sie es nicht akzeptieren, dass sie sich nicht mehr selber versorgen kann.
Irgendwann war dann der Punkt da.
Als sie merkte, wir, ihre Kinder, lassen sie dann nicht allein.
Als sie es spürte, dass wir ihre Angst ernst nahmen.
Wir sind da, Mutti. Wir sind auch dann da.
Aber wir haben dann dort weniger Angst um dich. Verstehst du das?
Ja, das verstehe ich.
Und dann, ja, dann mussten auch wir sie gehen lassen. Ganz gehen lassen.
Sie ließ uns los und wir ließen sie los. Let it be. Lass es geschehen.

Was fällt dir schwer loszulassen, obwohl du merkst: es ist dran?

    Let it be, let it be, let it be, let it be
    There will be an answer, let it be
    Let it be, let it be, let it be, let it be
    Whisper words of wisdom, let it be


IV. Loslassen macht frei

Ach, wenn es doch leichter wäre: das Loslassen.
Wenn mir doch auch meine Mutter im Traum erscheinen würde. Let it be.
Aber Jesus zeigt auf die Vögel unter dem Himmel. Schau hin. Sieh ihre schwerelose Leichtigkeit.
Und sieh die Wiesenblumen auf dem Felde. Ihre verschwenderische Farbenpracht.
Schau dir das an, sagt Jesus. Und lerne: Du bist eingebettet in ein viel Größeres.
Eingebettet in Gott.
Diese Vögel dort - diese Raben. Die werden so oft übersehen. Aber sie sind Gott wichtig.
Diese Blumen da - wie oft lauft ihr achtlos vorbei. Aber sie sind Gott wichtig.
Lerne von ihnen und von Gott:
ihnen traut keiner was zu, aber ihnen wachsen Flügel und bunte Blüten.

Und ich lerne, dass ich fliegen und blühen kann.

Ich lerne, dass es mich freier macht,  wenn ich meine Sorgen um mich loslasse.
Und ich weiß, dass Jesus sie für mich trägt
Es macht mich freier, wenn ich nicht mehr festhalten muss, was mir Sicherheit gibt.
Wenn ich festhalte, sind meine Hände nicht frei.
Wenn ich loslasse, können meine Hände aber Neues empfangen.
Und ich frage mich, was wirklich wichtig ist für mich.

Woran hängt dein Herz, fragt mich Jesus?
An der Sicherheit, am Vertrauten?
An der Fernsehserie, am Kirchengebäude,
an deinem Haus, an deinem Geld?
Oder an denen, die dir ans Herz gewachsen sind?
An Worten, die dir gut tun?
An Worten voller Weisheit? An Musik? Am Frieden?

Luisa Neubauer von Fridays for future hat mal Words of Wisdom gefunden:
„Die großen Schätze der Welt gilt es nicht zu sammeln.
Es gilt sie zu beschützen.
Es ist der Planet, die Schöpfung, die alles bereitstellt, was wir brauchen.
Wir müssen uns, wie die Vögel nicht sorgen - eigentlich - denn es ist alles da,
vorausgesetzt, wir gehen achtsam damit um. Es ist alles da.“ (1)


Es ist alles da. Sagt auch Jesus.
Gott ist da.
Euer Vater im Himmel weiß doch, dass ihr das alles braucht.

Let it be - ganz leichtfüßig….

VI. Woran mein Herz hängt

Ja, das will ich dir glauben, Jesus:
Alles ist da. Und die Ewige ist da.
Ihr überlasse ich meine Sorgen.
Von ihr lerne ich, dass mir die Welt dennoch am Herzen liegen kann.
Dass meine Sorge um sie Ausdruck meiner Liebe ist.
Und auch diese Liebe teile ich mit Gott.
Ich will glauben, dass Gott bei mir ist und mit mir ist,
und egal, was ich loslassen muss: ich bin nicht allein.
Ich sehe die Vögel und die Blumen und höre und sehe mich um in der Welt
und ich entdecke immer mehr Zeichen, dass Gott da ist:

Ein Abschiedssong, der auch nach über 50 Jahren noch tröstet.
Meine Mutter, die in Frieden sterben durfte - und wir waren da.
Ich höre die Geschichten von Geflüchteten, die hier in Sicherheit leben:
Warvan aus dem Irak und Fatima aus Syrien und Olga aus der Ukraine.
Und ich erlebe, dass wir mit unserem Rat der Religionen
an der Seite unserer jüdischen Freunde und Freundinnen stehen.
Gestern waren wir in der Synagoge, haben zusammen geredet und zusammen gebetet.
Ihre Sorgen sind unsere Sorgen.
Das ist nicht viel. Aber es gibt meiner Sehnsucht Flügel.
Weil wir nicht alleine sind.
Und weil unsere jüdischen Freund*innen erfahren, dass sie nicht alleine sind.
Und ich sehe, dass wir beieinander stehen gegen den Hass, der unsere Welt kaputt machen will.

Und ja, bei alledem, was ich auf einmal wieder sehe, spüre ich mein Herz schlagen.
Bei den Menschen, die für mich da sind, und für die ich da bin.
Hörst du mein Herz schlagen, Jesus?

Strebt vor allem anderen nach seinem Reich und nach seiner Gerechtigkeit –
dann wird Gott euch auch das alles schenken.


Ja, ich will dir glauben, Jesus. Trotz alledem, das mir Sorgen macht.
Will Licht für diese Welt sein. Will fliegen und blühen. Zusammen mit den anderen.
Ich lege dir meine Sorgen hin. Und meine Sehnsucht nach Frieden.
Nach Heilung für die Menschen in Israel und in der Ukraine.
Ich lege dir mein Herz hin.
Du hörst es schlagen.  Ich lege es in deine Hände.
Let it be!
Amen.

(1) https://www.berlinerdom.de/fileadmin/user_upload/01_Startseite-Home/Mediathek/Predigten/Predigten_zum_Nachlesen/2021/2021-02-28_Fastenpredigtreihe_Neubauer.pdf?v=1614595629


Danke an Sina Kaiser für die Idee, die Predigt mit dem Song "Let it be" zu gestalen!




Sonntag, 27. August 2023

Siehst du diese Frau?

Von großzügiger Gastfreundschaft und tränenreichen Begegnungen

Predigt zu Lukas 7, 36 - 50
(mit Dank an Anneke Ihlenfeld und Jonathan Overlach für Inspirationen!)

 
Einer der Pharisäer lud Jesus zum Essen ein.
Jesus ging in das Haus des Pharisäers und legte sich zu Tisch.
In der Stadt lebte eine Frau, die als Sünderin bekannt war.
Sie erfuhr, dass Jesus im Haus des Pharisäers zu Gast war.
Mit einem Fläschchen voll kostbarem Salböl ging sie dorthin.
Die Frau trat von hinten an das Fußende des Polsters heran, auf dem Jesus lag.
Sie weinte so sehr, dass seine Füße von ihren Tränen nass wurden.
Mit ihrem Haar trocknete sie ihm die Füße, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.
Der Pharisäer, der Jesus eingeladen hatte, beobachtete das alles und sagte sich:
»Wenn Jesus ein Prophet wäre, müsste er doch wissen,
was für eine Frau ihn da berührt – dass sie eine Sünderin ist.«
Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: »Simon, ich habe dir etwas zu sagen.«
Er antwortete: »Lehrer, sprich!«
Jesus sagte: »Zwei Männer hatten Schulden bei einem Geldverleiher:
Der eine schuldete ihm fünfhundert Silberstücke, der andere fünfzig.
Da sie es nicht zurückzahlen konnten, schenkte er beiden das Geld.
Welcher von den beiden wird den Geldverleiher dafür wohl mehr lieben?«
Simon antwortete: »Ich nehme an der, dem der Geldverleiher mehr geschenkt hat.“
Da sagte Jesus zu ihm: »Du hast recht.«
Dann drehte er sich zu der Frau um und sagte zu Simon: »Siehst du diese Frau?
Ich kam in dein Haus, und du hast mir kein Wasser für die Füße gebracht.
Aber sie hat meine Füße mit ihren Tränen nass gemacht und mit ihren Haaren getrocknet.
Du hast mir keinen Kuss zur Begrüßung gegeben.
Aber sie hat nicht aufgehört, mir die Füße zu küssen, seit ich hier bin.
Du hast meinen Kopf nicht mit Öl gesalbt. Aber sie hat meine Füße mit kostbarem Öl gesalbt.
Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben. Darum hat sie so viel Liebe gezeigt.
Wem aber wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe.«
Dann sagte Jesus zu der Frau: »Deine Sünden sind dir vergeben.«
Die anderen Gäste fragten sich: »Wer ist dieser Mann, der sogar Sünden vergibt?«
Aber Jesus sagte zu der Frau: »Dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden.«


1.
Siehst du diese Frau? (3)

Du meinst du kennst sie.
Als "Sünderin" ist sie bekannt im Ort.
Die Leute zerreißen sich das Maul über sie.
"Hast du schon gehört, sie soll…."
"Ach ja, und letztens hat man über sie erzählt, dass…"
"Und der Cousin meines Freundes sagt, dass sie…."
Aber was weißt du wirklich?

Ja, auch wir meinen zu wissen, wer sie ist.
Die Ausleger der letzten 2000 Jahre haben aus ihr eine Prostituierte gemacht.
Bei Sünde und Frau denkt man sofort an Sex. An unerlaubten Sex.
Aber vielleicht hat sie ja auch Geld unterschlagen?
Oder ein Kind geschlagen? Oder ein böses Gerücht verbreitet?
Lukas schreibt nichts darüber. Nur "Sünderin".

„Sünderin“ -
Vielleicht ist sie nur eine Frau, die kein Mann absichert;
und die dadurch am Rande der Gesellschaft steht.
„Sünderin“, sagt man über sie und zeigt mit dem Finger auf sie,
so dass sie ihr Gesicht verliert und ihren Namen.
„Sünderin“, so redet man über sie, nicht mit ihr.
Mit jedem Mal gewinnt dieses Wort mehr Gewicht,
es wird immer "richtiger,"
bis niemand mehr hinterfragt, was eigentlich dahintersteckt.
So funktioniert Ausgrenzung, Abgrenzung.
Das Prinzip dahinter ist immer das Gleiche.
Eine „Sünderin“ war es zu Jesu Zeiten, später „die Saujuden“,
die „dreckigen Flüchtlinge“, die „Roten“, die „Schwulen“.
Die Bezeichnungen haben gewechselt,
das Prinzip ist über die Jahrtausende das gleiche geblieben. (1)

2.
Siehst du diese Frau? Du meinst du kennst sie.
Aber das stimmt vielleicht nicht.
Darum sieh hin. Sieh, was sie tut.

Sie kommt in dein Haus. Die Gäste sind schon da und fühlen sich wohl.
Jesus ist auch da. Und auch ihm geht es gut.
Darauf achtest du als guter Gastgeber.
Deinen Gästen soll es an nichts fehlen.
Aber plötzlich ist sie da. Mit einem Fläschchen mit kostbaren Salböl.
Sie geht zu den Füßen von Jesus, fängt an zu weinen,
küsst die Füße von Jesus und dann öffnet dann die Flasche und salbt diese Füße.

Das hast du beobachtet. Mehr nicht. Aber es regt dich auf.
Denn sie gehört ja nicht hierher. Sie nicht. Auf keinen Fall eine wie sie.
Und sie stört die Abläufe. Die Stimmung ist plötzlich umgeschlagen.
Was soll das, denkst du?

3.
Aber du fragst sie nicht. Du sprichst nicht mit ihr. Was hätte sie dir geantwortet?

Ich konnte nicht anders, hätte sie vielleicht gesagt.
Als ich hörte, dass Jesus hier ist, musste ich kommen. 
All meine Ersparnisse hab ich für das Salböl aufgebraucht. 
Die Tür war offen. Mein Herz hat geklopft vor Aufregung.
Jesus zu finden war einfach: Er war der Einzige hier, den ich nicht kannte. 
Aber ehrlich, ich konnte ihn nicht ansprechen.
Wer bin ich schon? Ich konnte mich nur zu seinen Füßen setzen, bloß nicht den Kopf heben.
Und plötzlich kamen die Tränen. Sie schossen mir in die Augen und liefen mein Gesicht hinab.
Sie tropften auf seine Füße. 
„Was tue ich hier eigentlich?“ Fragte ich mich.  (2)
Aber es hat sich was in mir gelöst. Ich fühlte mich besser.
Denn er schickte mich nicht weg. Er sah mich einfach nur an.

Und als ich dann die Flasche öffnete, war da dieser betörende Duft nach Lavendel und Rosmarin.
„Das tut ihm bestimmt gut!“ Dachte ich.
Ich musste die Füße damit einreiben, die mit denen er hierher gekommen ist -
ganz schön dreckig waren sie noch.
Aber das machte nichts. Und als Jesus lächelte, wusste ich, dass es richtig war.
Ich habe ihm einfach alles gegeben, was ich hatte. Mehr hatte ich nicht.

Ich habe nicht so ein großes vornehmes Haus wie du.
Ich habe keinen guten Ruf wie du. Man spricht über mich, das weißt du.
Aber Jesus ist anders. Der schaut mich anders an als ihr.

4.
Siehst du diese Frau?
Rede nicht über sie, sondern mit ihr.
Frag sie nach ihrem Namen. Und wie du ihr vielleicht helfen kannst. 
Was sie von dir braucht. Oder den anderen. Oder von der Gesellschaft.
Ja, sie stört deine Männergesellschaft.
Und sie verstört dich. Aber sieh genau hin.
Sieh auf ihre grenzenlose, verschwenderische Liebe.
Sieh ihre Einsamkeit, ihre Trauer. Ihre Tränen. Ihre Dankbarkeit.
Und erkenne, dass sie zur wahren Gastgeberin wird: Sie, diese Sünderin.
Denn sie tut mehr als die damalige Sitte von einem Gastgeber verlangt:
nicht nur Wasser für die Füße,
sondern Salböl, das eigentlich für die Kopf bestimmt ist.

5.
Und dann schau auf Jesus. Was tut er?
Er kommt in dein Haus. Ist dein Gast.
Aber dann schaut er auf diese namenlose Frau, die ihr alle verurteilt.
Anstandsregeln spielen für ihn keine Rolle.
Was ganz und gar ungehörig daherkommt, bleibt bei Jesus nicht unerhört. (3)
Und auf einmal wird auch er zum Gastgeber. In deinem Haus.
Jesus sieht nur die Liebe dieser Frau, ihr übervolles Herz, und das genügt.
Jesus sieht ihre Einsamkeit, ihre Trauer, ihre Tränen.
Und wie sie sogar seine schmutzigen Füße salbt und küsst.

Und dann gibt ihr seine Liebesgabe:
Er erklärt all die Urteile, auch ihre eigenen über sich selber, für Null und Nichtig.
Befreit sie und macht sie groß.
Mit einem Wort schenkt er ihr den so lang ersehnten Frieden. (1)

6.
Und dann nimmt Jesus auch dich in den Blick.
Spricht dich an. Jetzt bist du dran.
Jesus spricht in deiner Sprache zu dir.
Sodass du erkennst: Liebe ist verschwenderisch.
Gott ist viel großzügiger als du denkst.
Gnädiger als du es gewohnt bist.
Die namenlose Frau hat es erkannt. Und deshalb ist sie selber großzügig.
Sprengt alle Grenzen. Weil Gott sich auch nicht an die Grenzen hält.

7.
So sieh diese Frau, du geliebtes Kind Gottes.
Lerne von ihr. Und von Jesus.
Sei großzügig mit deiner Liebe.
Sei ein noch besserer Gastgeber.
Sei noch gastfreundlicher als du es sowieso schon bist.
Du schaffst das, weil Gott dich liebt.
So wie du bist. Du musst nicht perfekt sein.
Aber genau zu dir ist Jesus gekommen und hat sich an deinen Tisch gesetzt.

Darum öffne dein Haus. Öffne dich.
Lass dich überraschen von diesem Jesus.
Öffne dein Herz für ihn und für die, die wir ausgrenzen und abstempeln.
Und es wird dich aus aller Enge frei machen.
Hole auch die an deinen Tisch, die da nicht hinpassen. Und salbe den Staub auf ihren Füßen.
Es wird dich weiter machen. Und groß.
Sage nicht: Lass mich in Frieden. Sondern: Friede sei mit dir. (1)

Und dann, ja, dann er wird zurück kommen.
Der Friede, welcher höher ist als all unsere Vernunft.
Er bewahre dein Herz und deine Sinne in Christus Jesus. Amen.


Anmerkungen:
(1) diese Passagen habe ich im Wesentlichen von Anneke Ihlenfeld
(2) Das habe ich von Jonathan Overlach
(3) Die Grundidee haben ich von Magdalene Frettlöh (Göttinger Predigtmeditation)



Freitag, 23. Juni 2023

Safe spaces für queere Menschen!


Meine Rede zum 1. Pforzheimer Christopher Street Day (Motto: Pforzheim ist queer)

gehalten am 17.6.2023 auf dem Marktplatz in Pforzheim

Hallo Pforzheim!

Es ist mir eine große Ehre, hier auf der Bühne zu stehen und zum ersten CSD Pforzheims zu sprechen! Als Schirmfrau. Dieses Amt, das ich mir mit Stephanie Aeffner teile.

Es ist mir eine große Ehre, gerade auch als Kirchenfrau hier zu stehen.
Als Dekanin, als Pfarrerin, als Christin. Eine Ehre und eine Verpflichtung.

Eine Ehre ist es, weil ich davon überzeugt bin, dass Jesus auch hier ist. Und weil es von großem Vertrauen des Organisationsteams zeugt.
Eine Verpflichtung ist es, weil wir als Kirche ein safe space werden müssen. Ein safe space für alle, die diskriminiert werden - wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer queeren Identität.

Ich will, dass unsere Kirchen safe spaces sind. Ich will, dass Pforzheim ein safe space ist.
Aber so weit sind wir noch nicht und darum brauchen wir einen CSD auch in Pforzheim!

Du bist wunderbar gemacht -
Diesen Satz haben wir dort auf den Beachflags stehen.
Er kommt aus der Bibel.
Dort dankt im 139. Psalm ein Mensch und sagt:
Ich danke dir, Gott, dass du mich so wunderbar gemacht hast.

Ich weiß, dass viele von euch das nicht glauben.
Entweder weil es für euch Gott nicht gibt.
Oder auch weil es immer noch zu viele Menschen gibt, die euch verurteilen, die euch sagen, dass ihr nicht wunderbar seid. Auch viele Christ*innen können oder wollen nicht glauben, das jeder Mensch  wunderbar gemacht ist. Dass jeder Mensch ein geliebtes Kind Gottes ist, ob Mann oder Frau oder Non-binär, ob trans oder intersexuell oder asexuell oder a-gender, ob lesbisch oder schwul oder hetero oder bi.

Aber genau das glaube ich: jeder Mensch ist wunderbar gemacht.
Und darum sprechen wir euch diesen Satz heute zu.
Euch allen, die ihr hier seid. In der ganzen Vielfalt des Lebens.
Du bist wunderbar gemacht!

Ich möchte euch aber als Dekanin auch um Verzeihung bitten.
Um Verzeihung für all das Unrecht, dass meine Kirche und die vielen Christ*innen den queeren Menschen angetan haben.
Lesben, Schwule, Trans- und Intersexuelle wurden und werden in unseren Gemeinden und Einrichtungen diskriminiert. Es gibt Menschen, die dadurch ihre geistliche Heimat verloren haben. Ihnen wurden schwere Verletzungen zugefü
gt, sie durften und dürfen nicht mitarbeiten. Viele andere haben sich versteckt. Viel zu lange sah auch meine Kirche in der Vielfalt der Geschlechter, unterschiedlicher sexueller Orientierungen, Lebensweisen und Familienmodelle nicht den großen Reichtum von Gottes Schöpfung, die sie ja ist.
Dafür bitte ich Gott und euch allen um Vergebung!

Du bist wunderbar gemacht - das gilt für jeden Menschen unabhängig vom Geschlecht oder der sexuellen Identität. Die Vielfalt der Menschen ist ein großes Geschenk Gottes an die Welt. Darum feiern wir diese Vielfalt. Auch heute!

Du bist wunderbar gemacht - das darf euch auch niemand absprechen. Darum stellen wir uns an die Seite aller, die wegen ihrer sexuellen Identität diskriminiert, unterdrückt oder gar verfolgt werden. Und darum sind wir hier.

Letzten Sonntag hat in Nürnberg auf dem Kirchentag der Schwarze Pastor Quinton Ceasar eine wichtige und notwendige Zeitansage gemacht: Bisher waren die Kirchen keine sicheren Orte für queere Menschen und People of Colour. Aber jetzt ist die Zeit zu sagen: Gott ist queer!

Darf man das sagen: Gott ist queer?
Ja! Aus 2 Gründen:
1. Gott ist immer größer als wir denken. Gott ist weder Mann noch Frau, sondern immer anders und entzieht sich jeder Norm. Genau das bedeutet queer, schräg zu unseren Normen.

2. Jesus stellt sich an die Seite aller, die verfolgt und unterdrückt werden. Gott identifiziert sich mit ihnen sogar! „Was ihr einem meiner geringsten Geschwister angetan habt, das habt ihr mir angetan,“ sagt Jesus im Matthäusevangelium.
Darum stimmt der Satz: Jetzt ist die Zeit zu sagen: Gott ist queer!

Seitdem Quinton diesen Satz gesagt hat, geht eine Welle der Empörung durch das Land. Quinton wird mit Hass und Morddrohungen überschüttet. Menschen treten deswegen aus der Kirche aus.
Aber es gibt auch die anderen: die, die vor Glück geweint haben, weil sie sich endlich gesehen fühlen. Deren Not endlich beim Namen genannt wurden.
Und die, die froh sind, dass ihnen der Spiegel vorgehalten wird, so wie ich.

 Es werden sich auch hier in Pforzheim Menschen empören, weil ich hier stehe. Weil ich euch zurufe, dass ihr wunderbar gemacht seid, dass wir alle wunderbar gemacht sind. Sie werden sich empören, weil ich glaube, dass Jesus mitfeiert. Weil auch ich sage: Gott ist queer.

Empörung halte ich aus. Wenn Menschen deshalb meine Kirche verlassen, tut mir das weh. Aber meine christliche Überzeugung lässt für mich nichts anderes zu, als hier zu stehen und alles dafür zu tun, dass Pforzheim ein sicherer Ort für alle Menschen wird. Und auch unsere Kirche soll zu einem sicheren Ort, zu einem safe space für alle werden.

Darum stehe ich hier. Darum sind auch meine Kolleg*innen hier.
Pforzheim ist queer.
Gott ist queer.
Und gemeinsam feiern wir die Vielfalt des Lebens.
Gut, dass ihr da seid!

 

 

Montag, 10. April 2023

Frage mich nach der Auferstehung

... und ich erzähle dir...
Predigt am Ostermontagmorgen


 I.
sie fragen mich nach der auferstehung
sicher sicher gehört hab ich davon
daß ein mensch dem tod nicht mehr entgegenrast
daß der tod hinter einem sein kann
weil vor einem die liebe ist
daß die angst hinter einem sein kann
die angst verlassen zu bleiben
weil man selber - gehört hab ich davon
so ganz wird daß nichts da ist
das fortgehen könnte für immer

ach fragt nicht nach der auferstehung
ein märchen aus uralten zeiten
das kommt dir schnell aus dem sinn
ich höre denen zu
die mich austrocknen und kleinmachen
ich richte mich ein
auf die langsame gewöhnung ans totsein
in der geheizten wohnung
den großen stein vor der tür

ach frag du mich nach der auferstehung
ach hör nicht auf mich zu fragen


(Dorothee Sölle (1))

II.
Ach, frag du mich nach der Auferstehung.
Frag, was ich dazu denke, fühle oder auch nicht fühle.
Halte aus, dass ich womöglich nur stammeln kann,
denn das Ganze ist ja viel zu groß und überhaupt nicht zu begreifen.
Und der Widerspruch der Welt ist so mächtig.
Der Tod so stark - nicht nur in der Ukraine oder im Iran oder in Israel.
Aber bitte frag mich. Und ich frage auch dich.
Und wir versuchen Worte zu finden,
die diese Auferstehung irgendwie fassen können.
Lass uns davon erzählen. So wie die vor uns das erzählt haben.

III.
Was hat Maria Magdalena erzählt, als sie vom Grab zurück kam (2)?
Hat sie von ihrer Suche erzählt,
von ihrer Trauer, dass ihr noch nicht mal mehr der Leichnam bleibt?
Wo kann sie ihren Jesus denn noch mal anfassen, spüren, streicheln, salben?
Und dann war da dieser Gärtner und sie hörte Jesus aus seinem Mund.
Und plötzlich wusste sie: mein lieber Jesus lebt. Er ist nicht mehr bei den Toten.
Und alles fängt neu an. Ganz neu. Ganz anders. Mit Jesus.
So wie er einst mit ihr neu angefangen hat.
Ach, frage du Maria nach der Auferstehung und sie wird dir von dem Gärtner erzählen
und davon, dass Jesus sie ins Leben schickt, ins bunte pralle Leben.

Was haben Simon und Thomas erzählt und Nathanael und die Zebedaiden?
Haben sie von dem Morgen am See erzählt, als sie wieder mal nichts gefangen haben (3)?
Und wie Jesus zu ihnen kommt und sie erkennen ihn nicht.
Und dann schickt er sie nochmal raus aufs Wasser und sie fingen so viele Fische wie noch nie!
Haben sie davon erzählt, wie er mit ihnen Brot teilte und Fisch?
Und sie wussten es: er ist es. Er lebt. Er ist da - immer da.
Ach, frage du Simon und Thomas und Nathanael und die Zebedaiden nach der Auferstehung
und sie werden dir von dem Seeufer erzählen und von gegrillten Fischen und geteiltem Brot
(und vielleicht auch davon, dass Simon nackt war und das war irgendwie ein bischen peinlich).

IV.
Und was hat Paulus erzählt?
Lesen wir seine Worte an die Gemeinde in Korinth (4):

Ich erinnere euch aber, Brüder und Schwestern, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr’s so festhaltet, wie ich es euch verkündigt habe; es sei denn, dass ihr’s umsonst geglaubt hättet. Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln.

Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist. Ob nun ich oder jene: So predigen wir, und so habt ihr geglaubt.


V.
Frage du Paulus nach der Auferstehung und er wird dir erzählen,
dass Jesus ihn vom hohen Ross herunter geholt hat.
Das war vor Damaskus und plötzlich konnte er nichts mehr sehen.
Aber er hörte die Stimme von Jesus.
Er hat ihn ja nicht kennengelernt, als Jesus als Wanderprediger durch Galiläa streifte
und die Verlorenen suchte und die Kranken heilte.
Als er die Kinder segnete und Zachäus vom Baum holte
und die Jünger und Jüngerinnen losschickte, um es ihm nachzutun:
zu heilen und das Reich Gottes zu predigen.
Paulus lernte Jesus erst rund 20 Jahre nach seinem Tod kennen.

Frag du Paulus nach der Auferstehung und er wird dir erzählen,
dass ihm dieser Jesus ihm die Augen geöffnet hat.
Durch Jesus hat Paulus die Gnade entdeckt. Sie war ja immer schon da.
Gott schaut dich mit liebevollen Augen an.
Du musst ihm nicht beweisen, wie gläubig du bist
oder wie fleißig oder wie klug oder wie erfolgreich.
Alles das zählt nicht. Aber du zählst.
So wie du bist, bist du wertvoll.
So wie du bist, machst du die Welt zu einem wunderbaren Ort.
Und auch wenn du Mist baust oder nicht mehr weiter kannst:
aus dieser Liebe Gottes, aus dieser Gnade kannst du nicht rausfallen.
Niemals.

Frag du Paulus nach der Auferstehung und er wird dir von seinem Staunen erzählen:
dass ausgerechnet er, der sich als unzeitige Geburt betitelt,
dass ausgerechnet er von diesem Jesus und von dieser Gnade erzählen kann.
Dass er den Mut hat, das zu tun.
Paulus wird dir von dem Stachel im Fleisch erzählen, von seinem Stottern
und auch davon, dass er immer wieder in alte Muster zurück fällt,
wenn er doch wieder anfängt, seine Leistungen aufzuzählen.
Paulus wird dir erzählen, dass er enttäuscht wurde
von den Christen und Christinnen, mit denen er zu tun hatte.
Aber auch, dass er sie enttäuscht hat.
Und Paulus wird dir von der Liebe erzählen,
die größer und wichtiger ist als jeder noch so richtige Glaube.

Frag Paulus nach der Auferstehung und er wird dir von den Anfängen erzählen:
von den ersten Jüngern und Jüngerinnen
und wie mit ihnen und Jesus der christliche Glaube begonnen hat.
Als Paulus Jesus kennenlernte, waren die Geschichten von Jesus noch nicht aufgeschrieben.
Paulus kannte die Geschichten von Maria am Grab
und vom großen Fischfang der Jünger vielleicht noch nicht.
Paulus hatte einen anderen Anfang mit Jesus als sie.
Und vielleicht wusste er auch noch nicht, dass doch die Maria die erste war,
die den auferstandenen Jesus gesehen hat. Vielleicht wurde es ihm noch nicht erzählt.

VI.
Aber mir wurden diese Geschichten erzählt - von meiner Mutter und im Kindergottesdienst.
Und später in vielen vielen Gesprächen mit dem Jugendpastor in Hamburg,
der mich inspirierte wie kein anderer,
weil er alle Fragen zu ließ und jeder Zweifel durfte sein.
Und ich hatte viele Fragen.

Fragst du mich nach der Auferstehung,
so erzähle ich von diesem Jesus, der gar nicht anders kann als lieben.
Und der mich so gefangen nimmt
und mit ihm kann ich weinen und lachen und leicht und schwer sein.
Er preist die Sanftmütigen und die Friedensstifterinnen,
lässt sich von einer Ausländerin belehren und weint um den toten Lazarus.
Und selbst der Tod stoppt seine Liebe nicht.

Fragst du mich nach der Auferstehung,
erzähle ich dir von meiner Freundin, die mich in den Arm nahm,
als ich dachte, ich könnte nicht mehr Pfarrerin sein.
Und ich erzähle dir von der Therapeutin:
die schickte mich los, damit ich mir Blumen für mich kaufe, weil ich es wert bin.
Jede Blume für ein wertvolles Stück Christiane. Gnadenblumen.
Und ich erzähle dir von meinen Gnadenliedern - Lieder, die mich aufrichten.
"Der Lärm verebbt" - zum Beispiel.
Oder "My Constellation" von den Lord of the Lost.

VII.
Ach, frage mich nach der Auferstehung,
Frag, was ich dazu denke, fühle oder auch nicht fühle.
Halte aus, dass ich womöglich nur stammeln kann,
denn das Ganze ist ja viel zu groß und überhaupt nicht zu begreifen.
Und der Widerspruch der Welt ist so mächtig.
Der Tod so stark - nicht nur in der Ukraine oder im Iran oder in Israel.
Aber bitte frag mich nach der Auferstehung. Und ich frage auch dich.
Und wir versuchen Worte zu finden, die diese Auferstehung irgendwie fassen.
Wir erzählen von Jesus, dem Gärtner,  und dem leeren Grab
und von geteiltem Brot und gegrillten Fisch.
Wir erzählen davon,
dass auch in unserem unfertigen und unspektakulären Leben Gottes Gnade wirkt,
wie sie bei Paulus und Simon und Maria wirkte.

Wir erzählen von der Auferstehung und wir stehen auf in ein buntes Leben
und wir rollen den Stein des Todes weg.
Wir stehen auf für eine Welt voller Gnade.  Jeden Tag.

VIII.
(noch einmal Dorothee Sölle:)
sie fragen mich nach der auferstehung
sicher sicher gehört hab ich davon
daß ein mensch dem tod nicht mehr entgegenrast
daß der tod hinter einem sein kann
weil vor einem die liebe ist
daß die angst hinter einem sein kann
die angst verlassen zu bleiben
weil man selber - gehört hab ich davon
so ganz wird daß nichts da ist
das fortgehen könnte für immer
(....)
ach frag du mich nach der auferstehung
ach hör nicht auf mich zu fragen


Amen.

(1) Gedicht von Dorothee Sölle, die demnächst ihren 20. Todestag hat

(2) Johannes 20, 1-18

(3) Johannes 21, 1-14

(4) 1. Korinther 15, 1-11

Samstag, 4. März 2023

Aushalten

Von Hiob und unsäglichem Leid und von guten Freunden

Predigt zu Hiob 2
(mit herzlichem Dank an Pfarrer Joachim Römelt aus Solingen, dessen Vorlage mir sehr geholfen hat, meine Worte zu diesem schweren Text zu finden)

 1.
Von heute auf morgen stürzt die Welt ein. Ein Erdbeben begräbt die Liebsten unter den Trümmern des Hochhauses. Ein russischer Despot schickt Panzer in das eigene Land. Bomben überziehen die eigene Stadt mit Feuer.
Und immer wieder diese Frage: Warum?
In 1000 Sprachen. Why? Neden? Chomu? Warum?
Ein Klageruf in den Himmel, der nur noch Zerstörung bringt.
Eine Klageruf, der älter als die Bibel ist.
Der Versuch, eine Logik dahinter zu finden.
Eine Erklärung für all dieses ungerechte Leiden.
Hören wir auf das Buch Hiob (Kapitel 2):

2.
Eines Tages geschah es, dass die Götterwesen kamen, um vor den Ewigen zu treten; da kam auch der Satan in ihre Mitte, vor den Ewigen zu treten. Da sprach der Ewige zum Satan: »Wo kommst du her?«  Der Satan antwortete dem Ewigen und sprach:
»Vom 'Rumschweifen auf der Erde und vom Hin-und-Her-Wandern auf ihr.«
Da sprach der Ewige zum Satan: »Hast du Acht gehabt auf meinen Knecht Hiob?  Ja, so wie er ist keiner auf der Erde –
ein Mann, so ohne Tadel und geradlinig, so fromm und dem Bösen feind! Auch jetzt noch hält er fest an seiner Frömmigkeit –
und du hast mich gegen ihn gereizt ihn umsonst zu verderben.«

Da antwortete der Satan dem Ewigen und sprach:
»Haut für Haut! Alles, was ein Mensch hat, gibt er für sein Leben.
Recke doch einmal deine Hand aus und rühre sein Gebein an und sein Fleisch  –  ob er dir dann nicht ins Angesicht den Abschiedssegen geben wird?«  Da sprach der Ewige zum Satan: »Da! Er ist in deiner Hand, nur sein Leben bewahre!«

Da ging der Satan weg vom Angesicht des Ewigen und schlug den Hiob mit bösem Geschwür von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel.  Der nahm sich eine Tonscherbe, um sich damit zu kratzen, und er saß mitten im Schutthaufen.

Da sagte seine Frau zu ihm: »Auch jetzt noch hältst du fest an deiner Frömmigkeit. Gib Gott den Abschiedssegen und stirb!«
Da sprach er zu ihr: »Wie ein dummer Mensch redet, redest auch du.
Das Gute nehmen wir doch auch an von  Gott und das Böse sollten wir nicht annehmen?« Mit all dem versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.

Es hörten aber die Freunde Hiobs von dem ganzen Unheil, das über ihn gekommen war. Da kamen sie, jeder von seinem Ort: Elifas, der Temaniter, Bildad, der Schuachiter, und Zofar, der Naamatiter.
Die verabredeten sich hinzugehen, ihm zuzunicken und ihm Trost zu geben. Sie erhoben von ferne ihre Augen und erkannten ihn nicht wieder. Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten. Sie zerrissen ein jeder sein Obergewand und streuten Aschenstaub auf ihr Haupt zum Himmel hin. Dann setzten sie sich zu ihm auf die Erde – sieben Tage lang und sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.


3.
Ich stelle mir Hiob vor, wie er da in der Asche sitzt. Und seine kaputte, geschundene, juckende Haut kratzt, mit einer Tonscherbe.
Und ich werde ganz still, wenn ich mir vorstelle, was dieser Mann kurz vorher erlebt hat. Seine Kinder sind alle ums Leben gekommen – in einem eingestürzten Haus. Aus dem Nachbarland sind bewaffnete Gruppen eingefallen, haben sein ganzes Vieh geraubt und seine Knechte umgebracht. Den Rest hat das Feuer erledigt. Das war jetzt im Text eben nicht zu hören, das findet ihr im Kapitel davor.
Und ich höre das Schluchzen der Ukrainerin am Freitag Abend in der Altstadtkirche als sie von ihrem Onkel erzählt und der ihr so sehr fehlt.
Ich höre die Geschichte von der Pforzheimerin, die ihren Bruder im brennenden Keller vor 78 Jahren verloren hat.
Ich sehe diesen Vater aus der Türkei vor mir, der die Hand seiner unter den Trümmern des Erdbeben verschütteten 15-jährigen Tochter hält.
Und frage mich: Wie hält man das aus? Wie viele Menschen sitzen da in der Asche ihres Lebens und kratzen ihre Wunden?

4.
Und es trifft wieder einmal die, die am wenigsten dafür können. Die einfachen Leute in der Ukraine, in der Türkei, in Syrien trifft keine Schuld an dem, was da passiert. Da haben ganz andere Menschen Entscheidungen getroffen, Befehle erteilt oder am Bau gepfuscht. Und die, die nichts dafür können, müssen es ausbaden.

Ich halte das schwer aus. Zu tief ist in mir der Wunsch, dass es in dieser Welt irgendwie gerecht zugeht. Dass Menschen, die niemandem was zu Leide tun, auch selbst in Frieden leben können. Und dass auf der anderen Seite die Kriegsverbrecher dieser Welt alle vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag landen.
Das wäre doch nur fair! Und manchmal ist das ja auch so. Manchmal ernten Menschen genau das, was sie gesät haben, im Guten wie im Schlechten. Aber oft eben auch nicht. Meistens nicht.

5.
Warum? Warum ist das so? Warum lässt Gott das zu?  
Ich wünschte, ich könnte euch jetzt die Antwort präsentieren. Aber ich habe sie nicht. Überhaupt nicht.

Und ich glaube, es gibt Leid, das darf man gar nicht deuten oder erklären.
In den folgenden Kapiteln des Hiobbuches versuchen es die Freunde von Hiob: eine Erklärung zu finden.
Sie deuten sein Leiden als Strafe Gottes. Wie das so oft in der Geschichte gemacht wurde.
„Irgendwas musst Du doch getan haben, dass Dich das mit voller Wucht trifft!“
Aber Hiob wehrt sich mit aller Kraft, die er noch hat, gegen diese Deutungen. Und gegen die Vorwürfe, die darin stecken.  Am Ende bekommt er von Gott recht. Aber so weit sind wir hier noch nicht.
Hier ist ein Mensch gerade am Boden zerstört - mit Haut und Haaren. Und ja: vielleicht gibt es das, dass ein Leiden eine Botschaft enthält, die wir verstehen sollen. Aber es gibt auch Leid, das einfach nur schrecklich ist. Das keinen tieferen „Sinn“ enthält. Jedenfalls nicht für uns.

6.
Vielleicht ist das die größte Versuchung für uns heute: dass wir möglichst schnell viele Antworten geben. Dass wir wissen, was richtig und falsch ist. Dass wir zu wissen meinen, was jemand in seiner Not braucht.

Viele finden ja, dass Hiobs Frau hier die größte Versuchung für Hiob ist, weil sie ihn angeblich überreden will, sich von Gott abzuwenden. Aber das tut sie nicht. Sie versucht nur - wie seine Freunde auch - einen Grund zu finden. Im Gegensatz zu den Freunden sieht sie den Grund aber bei Gott.
Und so falsch ist das ja auch nicht, wie wir wissen.
Hiob versteht das noch nicht. Auch das ist auszuhalten.
Und weder er noch seine Frau haben eine Antwort auf dieses Warum.

7.
Und dann sind da noch die drei Freunde von Hiob.
Die hören von all dem, was ihm zugestoßen ist.  Und sie zögern keinen Moment, sondern machen sich sofort auf den Weg.
Allein das ist schon toll. Wie viele Menschen tun das nicht! Sondern ziehen sich eher zurück, wenn jemand im Freundeskreis schwer erkrankt oder etwas anderes Schlimmes erlebt.
Das machen die Freunde hier nicht. Sie ziehen sofort los.
Vielleicht legen sie sich Worte zurecht, die sie sagen wollen. Vielleicht suchen sie sich Trostworte aus der Bibel heraus, von denen sie denken: das könnte Hiob guttun. Aber dann sehen sie, was los ist.
Da wartet nicht der alte, vertraute Freund auf sie, da wartet ein Mann, den sie nicht wiedererkennen, so fertig ist der, zerkratzt und gebeugt und überall gezeichnet von einem unsäglichen Schmerz.
Damit hat keiner von ihnen gerechnet. Und ihre mitgebrachten Worte zerrinnen ihnen unter den Fingern wie Sand.

Es gibt Momente, da ist jede Antwort falsch. Und jetzt kommt das, was mich an dieser Geschichte so beeindruckt. Die drei hauen nicht ab. Sie bleiben. Und sie sagen – nichts! Gar nichts! Sie schreien. Und dann schweigen sie. Nicht nur zehn Minuten. Ganze sieben Tage und Nächte sitzen sie mit Hiob auf der Erde und schweigen. Und ich glaube, das ist der einzige Trost, den sie diesem Mann und seiner Frau in dieser Situation überhaupt geben können: Sie sind da - sonst nichts.

8.
Manchmal ist das einzig Hilfreiche, was wir tun können, still zu sein. Und nicht sagen: „Das wird schon wieder! Die Zeit heilt alle Wunden.“ Oder so ähnlich. All diese Worte sind gut gemeint, aber sie bringen unterschwellig die Botschaft: Bitte sei schnell wieder fröhlich und normal! Aber das geht nicht so einfach.
Und manchmal gibt es nichts zu sagen und erst recht nichts zu deuten und zu verstehen.

Manchmal kannst du nur ohne Worte was von Gott erzählen: indem du einfach da bist, nicht fliehst, dich nicht zurückziehst, aushältst, dass die Dinge sind, wie sie sind. Und vielleicht eine Suppe mitbringen.
Oder das Bad putzen. Oder so.

Manchmal ist es das Beste in so einer Situation: zu wissen, zu erfahren: ich bin nicht allein! Und es ist momentan vielleicht auch das Einzige, was wir den Menschen in der Ukraine oder im Erdbebengebiet tun können. Da sein. Unterstützen. Geld spenden. Zum Essen hier einladen. Menschen aufnehmen und sie erzählen lassen. Sie fragen, was sie brauchen. Und für sie beten.

9.
Wir haben so wenig Antworten und Lösungen. Einfache Wahrheiten gibt es nicht. Erst recht nicht, wenn von heute auf morgen die Welt einstürzt. Aber wir können füreinander da sein. Für die Menschen in der Ukraine und an vielen anderen Orten. Wir können beten, dass unser Glaube nicht kaputtgeht an den Dingen, die wir erleben. Dass wir unsere Hoffnung auf Frieden nicht verlieren!

Bleibt nicht alleine mit euren Fragen, euren Zweifeln!
Meint nicht, dass ihr das selber hinkriegen und mit Euch selbst ausmachen müsst!
Sucht Euch Menschen, die einfach für euch da sind!
Und gerade wenn ihr mit Gott kaum noch rechnen könnt: brecht das Gespräch mit ihm nicht völlig ab! Haltet ihm genau das hin: dass er Euch fehlt. Dass ihr zutiefst an ihm zweifelt.
Fragt ihn: „Warum Gott? Warum dieses Leid?“
Ihr seid damit in guter Gesellschaft mit dem, der ebenfalls diese Frage stellte: mit Jesus am Kreuz.
Warum, Gott? Warum hast du mich verlassen?

Lasst uns zusammen aushalten, wenn da lange keine Antwort kommt.
Und vielleicht darauf hoffen, dass Gott irgendwann wieder redet.
Wie bei Hiob ganz am Ende.
Und bei Jesus am dritten Tag.
Und seitdem immer wieder.
Amen.

Sonntag, 26. Februar 2023

Bunte Fetzen der Liebe

Über Liebe und vollkommene Unvollkommenheiten

Predigt zu 1. Korinther 13

1.
Stellt euch vor, zwei Menschen wollen heiraten.
Sven und Lisa (1) sind seit 5 Jahren zusammen, haben eine nette Wohnung in Berlin,
ja, und nun soll der nächste Schritt folgen.
Ja zueinander sagen und das Ganze mit Freundinnen und Verwandten feiern.
Groß soll die Feier nicht sein.
Der Termin ist bald gefunden 21. Mai.
Und mit dem Standesamt und der Feier-Location klappt auch alles.
Lisa hätte sich eine kirchliche Trauung gewünscht –
seit ihrer Konfirmation mag sie es, gesegnet zu werden.
Dass ihr jemand sagt, dass Gott bei ihr auch im neuen Lebensabschnitt ist.
Aber Sven hat mit Kirche und Glauben und so nichts am Hut.
Naja, da will Lisa ihm das nicht aufdrücken, was nicht zu ihm passt.

Eines Tages liest Sven in seiner Zeitungs-App von einem Hochzeitsfestival in Neukölln.
Ausgerechnet an Tag ihrer standesamtlichen Hochzeit!
Man könne einfach so vorbei kommen, heißt es. Ohne Anmeldung.
Das perfekte Geschenk für Lisa, die perfekte Überraschung - denkt Sven.
Die Kirche liegt quasi auf dem Weg zwischen Standesamt und Lokal.
Da kann ich dann doch über meinen Schatten springen – ihr zu Liebe.

Ja, und dann ist es so weit. Am 21. Mai 2022.
Als sie „zufällig“ an der Genezarethkirche vorbeilaufen, fragt er sie:
wollen wir kirchlich heiraten?
Und dann geht die gesamte Hochzeitsgeschellschaft hinein.
Ein paar Gespräche, dann der kleine Gottesdienst und vor allem der Segen am Schluss.
Und Sekt gibt es auch noch.
Lisa ist vollkommen von den Socken. DAS hat Sven für sie getan! Aus Liebe.

2.
Stellt euch vor, da gibt es etwas, worüber man eigentlich weniger sprechen sollte als es einfach tun:
lieben. Gott lieben, meine Nächste lieben, mich selber lieben, mein Kind lieben,
meine Mutter, meinen Partner, meine Freundin.
Einen Film lieben, Musik lieben, ein Buch oder den Garten lieben, eine Stadt lieben,
das Meer  oder das Schwimmen im Meer. Viele kleine bunte Fetzen der Liebe.
Jede von uns weiß von der Liebe und jeder von uns kennt sie.
Und jeder kennt und jede fürchtet die Sehnsucht nach ihr,
vor allem, wenn die Liebe fehlt oder an ihre Grenzen kommt.

3.
(1. Korinther 13, 1-3)
Stellt euch vor:
Ich kann die Sprachen der Menschen sprechen und sogar die Sprachen der Engel.
Wenn ich keine Liebe habe, bin ich wie ein dröhnender Gong oder ein schepperndes Becken.
Oder stellt euch vor:
Ich kann reden wie ein Prophet, kenne alle Geheimnisse und habe jede Erkenntnis.
Oder sogar: Ich besitze den stärksten Glauben – sodass ich Berge versetzen kann.
Wenn ich keine Liebe habe, bin ich nichts.
Stellt euch vor: Ich verteile meinen gesamten Besitz.
Oder ich bin sogar bereit, mich bei lebendigem Leib verbrennen zu lassen.
Wenn ich keine Liebe habe, nützt mir das gar nichts.


4.
Stellt euch vor, diese Worte sind von Paulus.
Ein Lied. DAS Lied der Liebe. Gedichtet für Schwestern und Brüder in Korinth.
Eine aktive, eine lebendige, eine starke Gemeinde.
Sie können viel, sind begabte Redner und großzügige Spenderinnen.
Sie können einander begeistern, erklären die Bibel, beten viel und wollen alles richtig machen.

Aber anstatt sich daran zu freuen, gibt es Streit: Wer ist besser? Wer macht es richtig?
Es entstehen Gruppen, die miteinander konkurrieren.
Und man wirft sich gegenseitig vor, nicht christlich genug zu sein.

Ich bin der wahre Christ, weil ich in Zungen rede. Du nicht.
Ich bin die wirkliche Christin, weil ich mein letztes Hemd hergebe. Du nicht.
Ich bin wahrhaft christlich, weil ich mich an die Speisegebote halte. Du nicht.
Fetzen der Lieblosigkeit.

5.
Stellt euch vor, sagt Paulus, damit seid ihr falsch gewickelt.
Denn egal wie konsequent, wie genial oder wie gläubig ihr seid -
wenn die Liebe nicht dabei ist, nützt euch das alles nichts. Es zählt alles nichts.  

Lieblosigkeit macht alles kaputt.
Ihr seht das an eurem Abendmahl, liebe Geschwister in Korinth.
Da fangen die einen schon an und lassen nichts mehr übrig.
Die, die später kommen, weil sie als Sklaven so lange arbeiten müssen,
sehen nur noch die letzten Krümel in leeren Körben.
Ihr zeigt ausgerechnet mit dem Mahl der Liebe, dass die Not der Armen euch nicht interessiert.
Da ist dann keine Liebe mehr.
Es ist lieblos, wenn ihr das Wort Gottes zu einer Zwangsjacke macht.
Wenn ihr eure Art zu glauben zum Maßstab für alle erhebt, dann ist da keine Liebe mehr.
Noch nicht mal ein Fetzen davon.

6.
Stellt euch vor, ihr liebt.
Stellt euch vor, die Liebe wäre in allem, was ihr sagt und tut, dabei.
Und wenn es nur kleine Fetzen wären.
Wie würden eure Leserbriefe aussehen?
Wie würdet ihr über junge Menschen sprechen,
die sich in ihrer Sorge um die Zukunft der Erde auf die Straße kleben?
Könntet ihr dann noch denken, dass Männer andere Männer nicht lieben dürfen
und Frauen keine anderen Frauen, nur weil ein paar Sätze in der Bibel das sagen?
Würdet ihr hinnehmen, wenn Geflüchtete als Verbrecher abgestempelt werden?
Würdet ihr dann dafür sorgen wollen,
dass möglichst keine Geflüchteten mehr in Pforzheim bleiben können?
Ich weiß, es ist kompliziert. Auch mit der Liebe. Oder doch nicht?

7.
(1. Korinther 13, 4-7)
Die Liebe ist geduldig. Gütig ist sie, die Liebe.
Die Liebe ereifert sich nicht.
Sie prahlt nicht und spielt sich nicht auf.
Sie ist nicht unverschämt. Sie sucht nicht den eigenen Vorteil.
Sie ist nicht reizbar und trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht, wenn ein Unrecht geschieht.
Sie freut sich aber, wenn die Wahrheit siegt.
Sie erträgt alles. Sie glaubt alles. Sie hofft alles. Sie hält allem stand.


8.
Stellt euch vor: Liebe ist kein Gefühl, keine momentane Glücksstimmung.
Liebe tut etwas - sie freut sich, lächelt, weint, glaubt.
Ja, sie macht, sie handelt, und zwar gegen den Strom,
gegen den Augenschein, aber viel vernünftiger als du denkst.

Liebe befreit deinen Verstand von seinem Egoismus,
deine Glauben von Herrschsucht,
und sie macht dein Herz weiter.
Liebe ist radikal, lässt ganz neu auf die Welt schauen,
widerspricht aber auch mal, wenn Leute Blödsinn erzählen.
Vor allem aber macht die Liebe eins:
Sie fragt nicht danach, ob es erlaubt ist zu lieben.

Das alles macht die Liebe verletzlich. Und jede, die liebt, auch.
Und ich schaue auf Jesus und sehe, wie er diesen Weg der Liebe geht.
Wie er deshalb angegriffen wird, sogar ans Kreuz geht. Wie er sich verwundbar macht.
Diese Liebe lässt ihn noch zuvor zum Blinden bei Jericho gehen (2).
Jesus kann wegen dieser Liebe nicht einfach an ihm vorbei gehen,
sondern gibt ihm das Augenlicht zurück.
Eine Liebe, die heilt und versöhnt und neu anfangen lässt.
Jesus ist diese Liebe, so vollkommen, so verwundbar, dass wir immer wieder an ihr scheitern.

9.
Stellt euch vor, aus diesem Grund schreibt Paulus (1. Korinther 13, 8-13):
Die Liebe hört niemals auf.
Prophetische Eingebungen werden aufhören.
Das Reden in unbekannten Sprachen wird verstummen.
Die Erkenntnis wird an ihr Ende kommen.
Denn was wir erkennen, sind nur Bruchstücke,
und was wir als Propheten sagen, sind nur Bruchstücke.
Wenn aber das Vollkommene kommt, vergehen die Bruchstücke.
Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind. Ich urteilte wie ein Kind und dachte wie ein Kind.
Als ich ein Mann geworden war, legte ich alles Kindliche ab.
Denn jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild.
Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke.
Aber dann werde ich vollständig erkennen,  so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.
Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei.
Doch am größten von ihnen ist die Liebe.


10.
Stellt euch vor: 
Alles, was ich mache und tu, was ich erkenne und weiß,
alles das ist Stückwerk und ist begrenzt -
und vor allem nur ein Ausschnitt dessen, was möglich ist.
Ich kann nicht alles sehen. Noch nicht.
Ich kann nicht alles wissen. Noch nicht. Und das ist gut so.
Ja, mein Leben bleibt Fragment
und auch mein Glauben und Lieben und Hoffen bleiben Fragment.
Stückchen und Fetzen.

Lieben - das klingt so "einfach": "Einfach" tun.
Gott lieben und die Nächste. Mich selbst sogar.
Meinen Partner, mein Kind, die Vermieterin, gar den Politiker, der sich lieblos äußert.
Diese alle lieben? Puh!
Wie gut, dass auch Paulus sieht, dass ich gar nicht vollkommen sein kann.
Meine Liebe bleibt Stückwerk.
Der Moment, dass alles ganz und heil ist, kommt noch.
Aber wann, weiß ich nicht. Und Paulus auch nicht.

11.
Aber vielleicht genügt das ja?
Gott sieht mich ganz und schaut mich mit liebevollen Augen an.
Sie ermuntert mich, mit den kleinen Fetzen der Liebe schon mal anzufangen.
Vielleicht springe ich auch so spontan über meinen Schatten wie Sven,
der für seine Lisa eine kirchliche Hochzeit organisiert,
obwohl er mit der Kirche nicht so viel anfangen kann.
 Und ob ich in einem Streit Recht habe oder nicht, ist mir vielleicht völlig egal.
Vielleicht setze ich mich doch mal hin
und schreibe ich einen Leserbrief, der Fetzen der Liebe enthält –
wenn sonst nur Gift und Galle gespuckt wird.
Und vielleicht frage ich den jungen Mann auf dem Leopoldsplatz,
der in einer fremden Sprache in sein Handy spricht, ob ich ihm helfen kann.
Und wer weiß, vielleicht erzählt er mir seine Geschichte
und wir trinken zusammen einen Tee -
einfach weil wir uns füreinander interessieren?

Ja, ich fange mit den kleinen bunten Fetzen der Liebe an und füge sie mit euren zusammen.
Und wenn wir diese Fetzen der Liebe zusammenschlingen,
dann öffnen sich Kirchen für alle Svens und Lisas
und unser Stückwerk namens Liebe ist stärker
als jeglicher Hass in den Leserseiten der Zeitungen.

Ich will, dass wir uns ganz neu sehen wie der Blinde von Jericho – als Geliebte Gottes.
Wir machen die Türen zur Liebe weit auf.
Stellt euch vor, vielleicht verändern wir damit die Welt?
Mit einer Liebe, die jetzt ein Stückwerk ist und irgendwann vollkommen.

Amen.

(1) Die Namen sind frei erfunden. Informationen zum Hochzeitsfestival findet man u.a. unter https://www.mi-di.de/materialien/heiraten-einfach-anders-zwanglos-authentisch-und-segensreich

(2) Lukas 18, 31-43 (war Lesungstext)