Sonntag, 12. April 2020

Ostermorgen 2020

Dämmerung im Osten. Richtung Westen ist es noch dunkel.
Nach milder Nacht ein kühler Ostermorgen.
Ich bin keine Frühaufsteherin.
Die Glieder sind müde. Die Augen verschlafen. Der Geist träge.
Wie jedes Jahr.

Ich steige auf mein E-Bike,
froh um die Motorunterschützung als es den Wallberg rauf geht.
Die Stadt ist noch ruhig. Die Vögel melden sich zu Wort.

Am Parkplatz stelle ich mein Fahrrad ab.
Noch gar nicht so viele Autos hier.
Die letzten Meter müssen gelaufen werden.
Mit immer noch müden Beinen geht es schleppend, aber es geht.

Andere sind schon da, als ich ankomme. Es kommen noch mehr dazu.
Gesichter, die ich kenne. Und Gesichter, die ich nicht kenne.
Wir bleiben auf Corona-Abstand.
2 Frauen auf dem Geländer haben zwischen sich eine Kerze.
Und eine Flasche Wasser.
Es wird heller. Die Stadt zu unseren Füßen.

Unter unseren Füßen weiß ich die Trümmer des letzten Krieges.
75 Jahre ist das her.
Da verloren die Menschen ihr Zuhause.
Und ihr Vertrauen.
Zerstörte Stadt. Zerstörtes Leben. Zerstörte Zukunft.

Und doch ging auch hier die Sonne täglich auf.
Die Stadt wurde wieder aufgebaut.
Die Toten begraben. Trümmer beiseite geräumt und den Berg rauf geschleppt.
Tränen getrocknet. Ärmel hochgekrempelt. Zukunft Stein auf Stein geschichtet.
Angst weggedrückt. Wie haben sie damals den Ostermorgen erlebt?

Ich schaue auf die Stadt.
Hinter den Gardinen schlafen die meisten noch.
Das eine oder andere Kind wird schon auf der Suche nach Ostereiern sein.
Müde tritt die Pflegerin aus dem Krankenhaus nebenan -
ihre Nachtschicht ist zu Ende.
An den Beatmungsgeräten kämpfen Covid-19-Kranke um ihr Leben.
Der Nachbar mit seinem Tumor pausiert mit seiner Chemo.
Mit Wehen wandert die Hochschwangere ruhelos über den Flur.
Ein alter Mann stellt 2 Kaffeetassen auf den Frühstückstisch
Vermisst seine Frau, die er im Pflegeheim nicht besuchen kann.
David ist vom Alptraum aufgewacht. Er holt das Papier hervor und streicht es glatt.
Ablehnungsbescheid steht da drauf.
Und er versteht immer noch nicht, warum er in den Iran zurück muss.
Die Nachbarin geht mit ihrer Kerze in die Herz-Jesu-Kirche. Zum Osterlicht.

Der Himmelsrand im Osten ballt sich rot.
Gleich hinter dem Wartberg auf der anderen Seite.
Die Stelen hinter mir leuchten zurück.
Die 2 Frauen auf dem Geländer waschen sich die Augen.
Osteraugen. Frisch und klar.
Und plötzlich ist die Sonne da.
Fast grell kriecht sie Stück für Stück hervor
Knall-rot-orange.
Der Zaubermoment.

In mir ist es ganz ruhig.
Ich höre die anderen nicht, aber ich weiß sie um mich herum.
Das Osterlicht streckt sich mir entgegen.
Es streichelt über mein Gesicht.
Ich lebe und du sollst auch leben, sagt es mir.

Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte zurück.
Meine Stimme drängt sich raus: Christ ist erstanden.
Etwas brüchig. Zaghaft. Und zu tief.
Aber die anderen stimmen mit ein.
Und gemeinsam singen wir.
Christ will unser Trost sein. Kyrieleis.

Frohe Ostern nicken wir uns zu.
Und dann gehe ich wieder den Berg hinunter.
In meinem Herzen:
die bekannten und die unbekannten Gesichter,
die Trümmer des Berges mit ihren Erinnerungen,
die 2 Frauen mit ihren frischgewaschenen Augen,
die Pflegerin, die ostereiersuchenden Kinder, die müden Eltern,
den besorgten David, die Covid-19-Kranken und den Nachbarn,
den alten Mann, die Gebärende,
und Jesus, den Auferstandenen.
Friede sei mit ihnen allen.

Ich steige auf mein Fahrrad.
Die Vögel sind noch lauter als vorhin.
In der Enz gluckert das Wasser und zieht weiter.

Zuhause angekommen hole ich die Tafelkreide
und schreibe auf die Straße meine Osternachricht.
Ich hänge Ostereier in die Büsche.
Mach mir einen Kaffee.
Zünde die Osterkerze an, die mir mein Freund Michael geschickt hat.
Ostermorgen 2020.

Donnerstag, 9. April 2020

Miteinander verbunden - Gründonnerstag und Bonhoeffer

Heute ist Gründonnerstag. Normalerweise würden wir heute Abend in unseren Kirchen Abendmahl feiern - in Erinnerung daran, wie Jesus mit seinen Freunden und Freundinnen am Abend vor seinem Tod das letzte Mahl zusammen war. „Normalerweise“ - aber dieses Jahr ist nichts normal, sondern alles anders. Und viele sind traurig, dass sie in diesen Tagen keine Gottesdienste in ihren Kirchen feiern können. Viele haben auch Angst vor dem Alleinsein.

Heute ist Gründonnerstag. Und: heute vor 75 Jahren wurde Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg von den Nazis hingerichtet. Viele Monate war er im Gefängnis gewesen, weil er am Widerstand gegen die Nazis teilgenommen hat. Auch er litt unter Einsamkeit und Angst – abgeschnitten von lieben Menschen, von der Gemeinschaft mit anderen, vom Leben überhaupt. „Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig“ – so beschreibt er seinen Zustand in einem Gedicht: „hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe.“

Farben, Blumen, Vogelstimmen, Frühlingsdüfte – im Gegensatz zu Dietrich Bonhoeffer können wir sie wahrnehmen in diesen Tagen. Trotz Corona, trotz aller Einschränkungen. Gott sei Dank! Aber unruhig und sehnsüchtig sind viele von uns jetzt auch. 
Auch ich sehne mich nach guten Worten und menschlicher Nähe. Gerade jetzt wo der Frühling da ist, möchte ich in Straßencafés sitzen, will Menschen, die ich mag, umarmen und das Leben spüren.

„Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde […] seid mir immer ganz gegenwärtig.“ Das schrieb Bonhoeffer aus dem Gefängnis an seine Verlobte, Maria Wedemeyer. Auch hinter den dicksten Gefängnismauern fühlte er sich verbunden mit seinen Liebsten. Ich lebe nicht im Gefängnis, aber die Verbundenheit mit euch tut auch mir gut - gerade jetzt.

Ja, ich bin mit euch verbunden. Und mit Jesus. Heute, am Gründonnerstag, und die kommenden „Heiligen Tage“ sogar ganz besonders.
Ich werde heute abend mit Freund*innen per zoom zusammensitzen, das Brot brechen, einen Schluck Wein trinken und die Worte hören, die davon erzählen, wie Jesus dieses Brot brach. Und er sitzt an meinem Tisch und an dem meiner Freund*innen auch.
Morgen suche ich mir eine stille Stunde und werde daran denken, wie einsam Jesus am Kreuz starb und wie seine Freundinnen und seine Mutter um ihn weinten. Und ich weiß, er ist ganz nah bei mir - in meinen Tränen.
Und am Ostermorgen zünde ich mir das Osterlicht an, lausche auf die Glocken und singe „Christ ist erstanden“ - vielleicht gehe ich zum Sonnenaufgang auch auf den Wallberg.
Und ich weiß: Jesus ist auch dann ganz nah bei mir - in meiner Hoffnung, dass Gott stärker ist als der Tod. Oder wie Bonhoeffer es sagt: „ Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“

So wird es sein.
(leicht verändert so auch heute im Pforzheimer Kurier abgedruckt)