Samstag, 9. Mai 2020

Alles beginnt mit der Sehnsucht

Was Tersteegen, Bach, das Himalaya und Ballett miteinander zu tun haben.

Zur Zeit entstehen kleine Videoandachten in der Stadtkirche unter dem Titel "Musik am Mittwoch".
Diese hier ist eine wunderbare Zusammenarbeit mit Orgel (Heike Hastedt) und Ballett (unter der Leitung von Guido Markowitz), die man sich eigentlich anhören und anschauen sollte.
Das Video ist wunderschön geworden und hier zu finden:
https://www.youtube.com/watch?v=wGlOhBV6Idg&t=5s


I.
Alles beginnt mit der Sehnsucht.
So fängt ein Gedicht von Nelly Sachs an.
Alles beginnt mit der Sehnsucht.
Mit der Sehnsucht nach Liebe und Atem und nach Leben.

Aber auch am Ende steht die Sehnsucht.
Einer meiner Lieblingsfilme ist „Das Beste kommt zum Schluss“.
In ihm erfahren Edward Cole und Carter Chambers zeitgleich,
dass sie nur noch eine kurze Zeit zu leben haben.
Zufällig liegen sie zusammen in einem Krankenzimmer.

Edward ist reich. Richtig reich. 
Und so beschließen sie, sich gemeinsam ihre Träume zu erfüllen:
das, was sie noch unbedingt erledigen wollen, bevor sie sterben.
Und sie erstellen eine Liste.

Carter, der Philosoph von den beiden, schreibt auf seine Liste:
Etwas Majestätisches erfahren.
Edward amüsiert sich darüber.
Fallschirmspringen, ein Tatoo stechen,
das schönste Mädchen auf der Welt küssen - das sei es doch.
Was zum Geier soll das sein, etwas Majestätisches erfahren?

Warst du schon mal im Himalaya? antwortet Carter.
Und er hat vor Augen diesen majestätischen Ort,
wo der Himmel so blau ist, dass er fast schwarz wirkt.
Aber natürlich steckt dahinter, hinter diesem Wunsch,  mehr.
Carter will sich am Leben wieder freuen können.
Will die Welt mit offenem Herzen umarmen.
Er sehnt sich danach, überwältigt zu werden.
Und Gott ganz nah zu sein, diesem majestätischen Wesen.

Etwas Majestätisches erfahren….  
Kennen Sie diese Sehnsucht?

Majestätisch Wesen, möcht ich recht dich preisen und im Geist dir Dienst erweisen.
Möcht ich wie die Engel immer vor dir stehen und dich gegenwärtig sehen.
Lass mich dir für und für trachten zu gefallen, liebster Gott, in allem.


II.
Edward Cole und Carter Chambers folgen ihrer Sehnsucht. 
Vieles davon ist ziemlich verrückt.
Aber sie umarmen die Welt und öffnen ihre Herzen.
Und sie entdecken, dass das Leben ein heiliger Ort ist.

Alles beginnt mit der Sehnsucht.
Schau ich auf den Beginn des Lebens, dann ist da der Atem.
Die Sehnsucht nach ihm bei der Geburt.
Selber atmen können, Luft in die Lunge bekommen.
Für die meisten von uns selbstverständlich,  aber längst nicht für alle.

Wie kostbar das Selbstverständliche ist!
Wir merken das jetzt besonders.
Eine Umarmung, ein Kuss, mal eben die Oma besuchen, arbeiten gehen.
Alles das ist gerade nicht mehr selbstverständlich.
Jede Begegnung zerbrechlich wie feinstes Porzellan.

Das Leben ist ein heiliger Ort - ja!
Aber ich sehne mich zugleich danach, dass es wieder selbstverständlich ist, dieses Leben.
Leicht.
Umfangen von Atem und Luft und von Gott.
Nichts fragen müssen. Nichts verstehen müssen.
Einfach spüren, dass alles gut wird.
Leicht sein.  
Leicht werden.

Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, aller Dinge Grund und Leben,
Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder: ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir, du in mir, lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.


III.
Ich in dir. Du in mir.
Dich nur sehn und finden.
Liebeserklärung pur.
Göttliche Erotik.
Die Sehnsucht danach, eins zu sein und zu verschmelzen.
Die Sehnsucht nach dem anderen, der anderen.
Nach der Berührung, dem Blick, nach der Stimme.
Nach dem zarten Finger, der mein Gesicht berührt.

Sehnsucht nach Liebe. Alles beginnt mit ihr.
Vielleicht sogar mit der Sehnsucht nach Gott.  Und Gottes Sehnsucht nach mir.
Sehnsucht nach dem, der mich liebt,  so wie ich bin und ohne dass ich was dafür tun muss.
Einfach nur da sein.
Leben. Atmen. Selber lieben.
Die Welt umarmen und das Herz öffnen.
Zum Blau gehen, das zum Schwarz wird, weil der Himmel tief ist.

Ja, sich am Leben freuen - darauf kommt es an.
Sich am Leben freuen und diesen Gott wenigstens für einen Moment finden.
Danach sehne ich mich.

Du durchdringest alles; lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte.
Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stille halten,
Lass mich so, still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen


IV

Nelly Sachs:

Alles beginnt mit der Sehnsucht
Immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres und Größeres.
Immerfort sich hinstrecken auf ein Kommendes –
das ist des Menschen Größe und Not.
Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft,
und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf:
dass es so bleibe,
dass es nicht vorübergehe.

Fing nicht auch die Menschwerdung,
Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
dich gefunden zu haben.



V.
Suchen und finden.
Kurz bevor der kluge Carter Chambers stirbt, schreibt er seinem Freund:

Ich bitte dich, noch etwas für mich zu tun:
Finde die Freude in deinem Leben, Edward.

Finde deine Freude!

Und der zynische Edward Cole findet sie, die Freude.
Er versöhnt sich mit seiner Tochter,
nimmt seine Enkeltochter in den Arm
und küsst sie, das schönste Mädchen der Welt.

Ja, und das alles, das beginnt mit der Sehnsucht.