Montag, 25. Januar 2021

Ziehen lassen

Autobiographisches einer WinterWortWerkstatt



Am Wochenende war ich in einer digitalen Schreibwerkstatt mit sehr genialen Freunden und Freundinnen. Das Motto war: "ziehen lassen". Wir haben zusammen gekocht (Essen ziehen lassen) und gedacht und Worte erfunden und weitergedacht. Und zwischendurch geschrieben. Das hier ist dabei bei mir rausgekommen (mit viel "ziehen lassen") - was ziemlich Persönliches und hat mit meinen Kinder und meiner Mutter zu tun.

1.
Schnee und Sonne haben mich gestern in den Wald gezogen.
Ich zog meine Wanderschuhe an, zog den Autoschlüssel aus der Tasche.
Am Berg dann Handschuhe über die Hände gezogen.
Schwer liegt der Schnee auf den Ästen und Zweigen und drückt sie herunter.
Oder zieht die Schwerkraft?
Ich lasse meine Gedanken weiterziehen
 
Ziehen lassen.
Aktiv und Passiv miteinander verschränkt.
Ziehen ist Tun.
Mein Tun. Oder das der Schwerkraft.
Wenn ich lasse, tu ich nichts. Ich lasse tun.
Aktiv und Passiv kommen zusammen wie die Teeblätter und Wasser
Und im Ziehen lassen entsteht was neues.
Aus Wasser und Blättern wird ein Tee.
 
2.
Let my people go.
Lass mein Volk ziehen.
Ziehen lassen ist frei geben und Neu werden.
Über Grenzen gehen.
Ist Weite, die ganz unterschiedlich schmeckt. Mal bitter. Mal süß.
Und gespannt sein, was dann kommt.
 
Meine Mutter konnte mich nicht ziehen lassen.
Sie verstand nicht, warum ich mich entzog.
Hatte wohl auch Angst um mich und ob ich zurückkomme.
Hätte am liebsten eine Mauer um mich gezogen.
Aber sie konnte mich nicht festhalten.
Ich bin weggezogen.
Um auszuziehen, was nicht zu mir gehört.
 
3.
Meine Mutter konnte mich nicht ziehen lassen.
Hat es aber dann doch getan
Ist es mir leichter gefallen - als Mutter?
Ich hoffe es.
Als 2 von meinen 3 Kindern gleichzeitig ins Ausland gingen,
habe ich beim Abschied Rotz und Wasser geheult.
Aber natürlich habe ich sie ziehen lassen.
In die Weite. Ins Neue. Und in das Unbekannte.
Wie Zugvögel. Wie Wolken, die weiterziehen müssen.
 
Meine Kinder sind erwachsen.
Habe ich sie er-zogen oder habe ich sie wachsen lassen?
Eigentlich ist das Wort Erziehung furchtbar.
Ich will meine Kinder nicht irgendwohin gezogen haben,
sondern hoffe, dass sie selber spüren, wohin es sie zieht.
Und dass sie freie Menschen sind. Let my people go.
 
4.
Ja, ich habe sie ziehen lassen.
Und wenn es sie hin und wieder zu mir zieht,
freue ich mich. Ziehe sie in meine Arme.
Neues ist entstanden - wie beim Tee.
Neuer Geschmack. Neues Vertrauen.
 
Sie ziehen ihre Wege. Freie Menschen.
Und ich ziehe meinen Weg.
Ich lerne weiter, das Ziehen zu lassen.
Lasse ziehen. Auch mich.
Aktiv und Passiv miteinander verschränkt
Gespannt, was dann passiert.
Und hin und wieder zieht es uns gemeinsam in den Wald.