Sonntag, 21. Februar 2021

Den Frieden lernen

Predigt anlässlich des Gedenktags der Zerstörung Pforzheims (23. Februar)


1. Therese: Hoffen und Beten


„Wenn ich heute zurückdenke, dann kann ich nur hoffen und beten,
dass so etwas nie wieder geschieht!“
Mit Tränen in ihren Augen spricht Therese diese Worte
am Ende eines Interviews mit der Pforzheimer Zeitung.
Am 23. Februar 1945 war sie 12 Jahre alt. Sie und ihre Familie lebten im Norden der Stadt.
Ihr Haus hatte keinen Keller, also versteckten sie sich so gut es ging, in einem Graben im Garten.
Die Angst, dass es sie erwischen würde, spürt sie noch heute.
Und noch heute hört sie das Weinen ihrer Mutter,
weil ihre zwei Schwestern unten in der Stadt waren, als die Bomben fielen.
Sie haben ihre Leichen in den Trümmern nie gefunden.

2. Wir haben gelernt

„Dass so etwas nie wieder geschehe“.
Nie wieder - wie ein Stoßgebet.
Ein Auftrag an die Menschen damals und heute:
Lebt den Frieden. Nicht den Krieg. Und lernt aus dem, was uns passiert ist. 

Und ja, wir haben gelernt.
Wir haben ein Grundgesetz, das auf dem Boden der Menschenrechte fußt.
Wir wissen, wie unsere Vorfahren hinein verstrickt waren in Schuld und Gewalt.
Und jetzt leben wir in Frieden mit unseren ehemaligen Feinden.

„Dass so etwas nie wieder geschehe.“
Die Stadt Pforzheim ist wieder aufgebaut und sie ist größer als je zuvor.
Die Narben sind sichtbar und die in den Seelen der Zeitzeugen tun immer noch weh.
Aber die Freundschaften mit Menschen in aller Welt tun uns gut.
Und unsere Stadt ist bunt und international und lernt weiter, wie es gehen kann.

3. Frieden leben

Wir leben den Frieden und jeden Tag fühlt er sich neu an.
Er schmeckt nach gefüllten Zwiebeln, die mir Wajida, meine jesidische Nachbarin vorbei bringt,
schmeckt nach Thymian und Zitrone. Aus dem Irak ist sie hierher geflohen
und hat hier ein neues Zuhause gefunden.
Das teilt sie mit mir, wenn sie mir ihre dampfende Schüssel reicht.
Die ist so heiß, dass es ohne Topflappen nicht geht. Handgehäkelt von meiner Mutter.

Frieden - er klingt nach kyrillischen Buchstaben
und nach Saz, der kurdischen Gitarre mit ihrem langen Hals, deren Töne miteinander verschwimmen.  
Er riecht nach dem Hummus meiner jüdischen Glaubensgeschwister,
zu dem sie mich an Chanukka einladen
und gemeinsam zünden wir die acht Kerzen an ihrem Leuchter an.
Und der Frieden sitzt auf der Schaukel im Garten unserer Kita der Religionen.
Dort schaukelt er mit muslimischen, orthodoxen, evangelischen und jesidischen Kindern. (1)
Irenicus heißt die Kita. Irenicus - Der Friedensbringer.

Wir lernen Frieden. Jeden Tag neu.
Wir leben hier in einer Stadt und wissen so wenig von einander.
Aber wir brauchen uns. Immer wieder machen wir uns das klar.
Und so tasten wir uns vor in die Seelenlandschaft der anderen.
Lernen uns kennen - und streiten - über die Rolle der Frauen zum Beispiel.
Wir machen auch Fehler. Und lernen daraus.
Immer wieder lernen wir, wie es gehen kann mit dem Frieden.

4. Und was sagt Gott?

„Ich will hören, was Gott zu sagen hat.
Er redet vom Frieden.
Er verspricht ihn seinem Volk und seinen Frommen.
Doch sie sollen nicht mehr zurückkehren
zu den Dummheiten der Vergangenheit!“

(Psalm 85,9)

5. Frieden ernst nehmen

Nehmt den Frieden ernst, sagt Gott.
Passt auf ihn auf. Gebt dem Hass keinen Raum.
Lasst euch nicht gegeneinander aufhetzen.
Weigert euch, zwischen wertem und unwertem Leben zu unterscheiden.
Sagt nein zum nationalistischem Albtraum.
Geht respektvoll miteinander um, auch mit denen,
die anders sind, anders lieben, anders glauben.

6. Bedrohung des Friedens

Nehmt den Frieden ernst.
Denn es gibt sie, die den Frieden bedrohen.
Sie weigern sich zu lernen. Sie wiederholen die Dummheiten der Vergangenheit.
Sie bedrohen die Synagoge und die Moscheen hier. Bereiten den Boden für Hass und Gewalt.
Und jedes Jahr kommen sie auf den Wartberg mit ihren Fackeln. Immer wieder am 23. Februar.
Nur dieses Jahr nicht - wegen Corona.
Es ist beschämend, dass wir so eine schlimme Pandemie brauchen,
damit sie nicht mehr kommen können.

Ja, sie bedrohen den Frieden.
Denn immer wieder sagen sie,
dass die Zeit vor dem schlimmen Bombenangriff doch nicht so schlimm war.
Dass Juden und Zwangsarbeiterinnen gequält und ermordet wurden, zählt für sie nicht.
Und sie wollen ein reines Deutschland, das es so noch nie gab. Und nie geben wird
(worüber ich sehr froh bin).
Sie unterscheiden zwischen wir und die, dabei gibt es doch nur - ein Wir.

7. Es ist ernst (Therese)

Therese ist 87 Jahre alt und hat für Nazis überhaupt kein Verständnis. Die Sache ist zu ernst.
Keine Rückkehr zu den Dummheiten der Vergangenheit, um keinen Preis.  
„Denen kann man nur alles Böse wünschen,
dass sie es am eigenen Körper erleben müssen“, ruft sie.
Ich war am Anfang über diesen Satz erschrocken.
Aber ich verstehe sie. Ich verstehe ihr Verzweiflung, ihr Wut.
Denn es ist sehr ernst. Es ist ernst.

Nazis sind nicht harmlos.
Auch nicht die auf dem Wartberg, auch wenn sie so friedlich tun.
Wölfe im Schafspelz. Sie sind gefährlich.
Wenn sie da oben mit ihren Fackeln stehen, wird es ernst.
Wie könnt ihr nur? Scheint Therese zu fragen.
Wenn ihr wüsstet, wie das war und wie es sich anfühlte, dann könntet ihr da nicht stehen wollen.

8. Wir nehmen Gott ernst

„Ich will hören, was Gott zu sagen hat. Er redet vom Frieden.“
Es ist ihm ernst damit.
Und wir machen das, was Gott sagt: wir leben Frieden. Wir versuchen es jedenfalls.
Wir stehen auf gegen diese Dummheiten der Vergangenheit. Immer wieder.
Wir sagen laut, dass wir ihren Hass nicht wollen und sie unserer Stadt schaden.
Wir sagen, was den Frieden bedroht und nennen die Dinge beim Namen.

Aber noch viel wichtiger: Wir leben den Frieden,
den sie bedrohen wollen.
Wir leben dieses Wir, das keine Unterscheidung braucht zwischen die da und wir hier.
Zu diesem „wir“ gehören alle, die hier leben, egal wie lange schon.
Meine jesidische Nachbarin und mein jüdischer Glaubensbruder,
mein alevitischer Freund und natürlich Therese.
Und in unserer Kita der Religionen kommen ihre Kinder und Enkel zusammen
und lernen den Frieden.

9. Um Frieden bitten

„Wenn ich heute zurückdenke, dann kann ich nur hoffen und beten,
dass so etwas nie wieder geschieht!“  
Ja, ich bete mit Therese um den Frieden für unsere Stadt und unser Land.
Ich bete um einen Frieden, der größer ist als ich und unser zerbrechliches Wir.
Größer als unsere Angst. Größer als unsere Wut und Trauer.
Dieser Friede soll uns zusammenbringen aus Nah und Fern,
mit unseren Sprachen und Gerüchen und Tönen.
Ich will diesen Frieden lernen -
mit euch und über alle Trümmer hinweg.
Immer wieder.


(1) https://www.pz-news.de/pforzheim_artikel,-Tuebinger-Forscher-nehemen-interreligioese-Kita-Irenicus-unter-die-Lupe-_arid,1537776.html