Dienstag, 25. Februar 2020

Wunde fängt mit W(eh) an

Mein Beitrag zum Preacher-Slam über.wunden
Pforzheim 22. Februar 2020

I.  (Verwundet)

Wunden tun weh. Wunden sind wahr.
Thomas wurde als 7jähriger verschickt.
Damals - vor 40 Jahren.
So nannte man die Mästungs- und Lungenkuren für Kinder.
6 Wochen lang. Irgendwo im Schwarzwald.
Er weinte sich in den Schlaf vor lauter Heimweh.
Und dann wurde ihm das verboten. Das Weinen.
Dein Heimweh ist nicht normal. Du steckst die anderen an.
Deinetwegen können sie nicht schlafen.
Sei still. Reiß dich zusammen.

Wunden tun weh. Wunden sind wahr.
Stimmt es, dass du keinen Vater hast?
Das wird die 10jährige Sabine vor allen anderen gefragt.
Ich habe einen Vater, aber er lebt nicht bei uns.
So antwortete sie und schämte sich.
Sie waren anders als die anderen. Unvollständiger.
Ein Bruder, der Autoreifen anzündete.
Die Mutter arbeitete nachts und ging kaputt daran.
Sie selber war die Brave. Die Fassade muss stimmen.
Bloß nicht auffallen. Nicht anecken.
10 Jahre später hörte sie dann: Toll, was aus euch geworden ist.
Und sie wusste keine Antwort mehr.

Wunden tun weh. Wunden sind wahr.
Der misstrauische Blick verfolgt Ahmed überall.
Sein Deutsch ist nicht gut. Seine Haut dunkler als die der anderen.
Und er hört gerne syrische Musik.
Er weiß, was sie denken.
Der ist doch nur faul, denken sie. Der ist feige, denken sie.
Der soll doch seine Heimat wieder aufbauen, denken sie.
Aber sie kennen seine Albträume nicht.
Wenn er nachts aufwacht, schweißgebadet.
Und sie wissen nichts von seinem Onkel,
der aus dem Foltergefängnis nicht mehr zurück kam.

Wunden.

II. (Wunde mit W)

Why, wound.
Wunde fängt mit W an.
Weh mit H am Ende.
Ein weicher Buchstabe.
Ein Doppel-Buchstabe: Dubbleyou, Dubleweh.
Weil Schmerz immer doppelt zählt?

Wunde fängt mit W an.
Und das W ist ein weicher Buchstabe.
Ob ich Wunden mit W-Wörtern beschreiben kann?
(ich versuche es mal:)

III. (80 W-Wörter)

Wunden sind oft winzig und doch wirksam.
Weswegen ich sie wiederholt wegschließe.
Will sie nicht wahrnehmen.
Weigere mich, sie wahr-sein zu lassen.
Was für ein Wahnsinn.

Sie wehren sich gegen meinen Wunsch mit aller Wucht.
Kein Wischen nach links
oder kein Weg-Waschen macht sie weniger.
Kein Witzeln wandelt sie,
Kein Wechseln und Wüten würgt sie ab.
Wunden wachsen und wuchern wild,
wallen und walten, wenn ihnen kein Wort gilt.

Wunden halten mich wach.
Wunden weisen auf eine Wirklichkeit, die weich ist.
Wo Widerstand zwecklos wird,
wo Wirbelsäule, Wangen und Wimpern weinend die Wahrheit weben.
Und Wind, Wetter und Winter wüten die Wunden auf.

Wohl weiß ich, was mir weh tut.
Wer in meinen Wunden wühlt und ihre Würde wegraubt.
Wärme ist dann wichtig. Und Weinen.
Manchmal auch Whisky, Wein oder Wodka - aber wenig (!).
Keine Watte für die Wunden,
aber eine Welt, wo sie wohnen können und wertvoll sind.
Wo sie mich weich machen.
Und wahrscheinlich - wie die Wundmale Jesu - Wunder ermöglichen.

IV. (Wunden von Pforzheim)

Wunden tun weh.
Wunden sind wahr.
Und ich sehe die Wunden dieser Stadt.
Die Straßenzüge, die es nicht mehr gibt.
Der Wallberg mit seinem Schutt unter dem Gras.
Die eine Stele, die noch fehlt,
weil man für die Nazizeit hier noch keine Worte finden will (oder kann?).
Ich sehe die Stolpersteine mit Buchstaben und Zahlen.
Manchmal sehe ich sie nur zufällig.

Und ich spüre die Wunden der Menschen.
Fragen, die sie nicht stellen durften.
Warum haben ausgerechnet wir überlebt?
Wer hat hier vorher gewohnt?
Wo ist der Nachbar geblieben, nachdem sie ihn weggebracht haben?

Ihre Wunden sind vernarbt, nicht verheilt.
Manche brechen wieder auf. Gerade jetzt. 75 Jahre später.
Und zulange hat man verschwiegen, was in Pforzheim geschehen war.
Der jüdische Arzt, der nicht mehr wiederkam.
Die behinderte Schwester, die plötzlich verstarb.
Die französischen Widerstandskämpfer, ermordet im Hagenschieß.
Der Bruder, verschollen in einem nicht enden wollenden Krieg.
Die Leichen in der Enz.
Die Vergewaltigungen in der Nordstadt, als alles vorbei zu sein schien.

Verwundete Stadt.
Wunden, die immer noch da sind.
Und neue kommen dazu.

V. (Wunden zeigen)

Wunden tun weh.
Wunden sind wahr.
So viele Wunden in einer Stadt.
Alte und neue.
Serbische und irakische, syrische und deutsche Wunden.
Wunden in Hanau. Wunden in Halle.

Wir teilen diese unverheilten Wunden.
Die Wunden von damals und die Wunden heute.
Die von Thomas und Sabine und Ahmed.
Von Schawkat, Hans-Carl* und den Eltern von Mercedes in Hanau.
Die Wunden sind da und brauchen unsere Zärtlichkeit.
Brauchen Wunder der Liebe.

Zeigen wir uns unsere Wunden.
Ich zeige dir meine.
Du zeigst mir deine.
Wir tragen sie ja mit uns.
Wir bleiben verwundbar. Und das ist gut so.
Damit wir weich bleiben.
Mensch bleiben.
Nur in einer verwundbaren Welt kann ich leben.
Mit Tränen und offenen Herzen.

*Pforzheimer Kurier (bnn) vom 22.2.2020, S.27

Sonntag, 23. Februar 2020

Wir nehmen die Namen mit

Ansprache zum Gedenktag der Bombardierung von Pforzheim auf dem Hauptfriedhof

I.
Wir stehen an ihren Gräbern.
An den Gräbern von Elise und Heinz, Ulrich und Karla.
Wir haben weiße Rosen auf die Grabsteine gelegt.
Wir stehen an ihren Gräbern und trauern um sie,
die vor 75 Jahren im Bombenhagel und im Feuer gestorben sind.

Wir stehen hier und wünschten uns, dass wir hier nicht stehen müssten.
Dass es keinen Krieg gegeben hätte, keine Bomben, keine Toten.
Wir wünschten uns, dass der kleine Bruder nicht im Feuer des 23. Februar gestorben,
der Onkel nicht an der Ostfront gefallen wäre.
Wir wünschten uns, dass die Pforzheimer Juden und Jüdinnen nicht deportiert
und ermordet worden wären.
Ja, wir wünschten uns, dass die Nationalsozialisten nie an die Macht gekommen wären -
auch nicht in Pforzheim.

Aber es ist geschehen.
Und darum stehen wir hier an den Gräbern der Toten des 23. Februar 1945.
An den Gräbern von Margarete und Elisabeth, Georg und Wilhelm.

II.
Hier an den Gräbern ahnen wir, was wir verloren haben:
Den Bruder, die Schwester, die Großmutter.
Menschen, die liebten und geliebt wurden
Und die noch was vor hatten in ihrem Leben.
Die dazu gehörten.

„Wir Unvollendeten zu Grabe getragen,
mit Sehnsüchten, die aus dem Grabe ragen!“

Diese Worte singt der Chor im Requiem für Tote und Lebende von Rolf Schweizer.

„Wir Unvollendeten zu Grabe getragen,
mit Sehnsüchten, die aus dem Grabe ragen!
Bevor wir entzündet, sind wir verglommen.
Bevor wir verkündet, in Rauch verschwommen.
Unser junger Gedanke, nie ausgedacht,
unser heißtolles Lachen, nie ausgelacht,
das tiefste Weinen des Lebens versäumt,
und seine Träume nie ausgeträumt!“

(Lola Landau)

Leben wurde ausgelöscht, das hätte gelebt werden sollen.
Nicht irgendein Leben, sondern das Leben von Maria und Greta, von Josef und Johannes.
Leben mit Namen und Hoffnungen und Sehnsüchten.
Leben, das geopfert wurde auf dem Kriegsaltar, den unsere Vorfahren errichtet haben.
Sinnlos geopfert für den Größenwahn einer menschenverachtenden Ideologie.

III.
Wir stehen an ihren Gräbern und wir lesen die vielen Namen.
Dazu müssen wir uns hinknien. Und vielleicht die Buchstaben berühren.
Viele Namen. Jeder Name ist ein Name zu viel,
Die, die diese Namen tragen, hätten leben sollen.

Es sind Namen, die Gott in seine Hand geschrieben hat.
Sie sind nicht vergessen und werden nicht vergessen,
selbst wenn wir, die wir erinnern, einmal nicht mehr sind.
Denn Gott vergisst nicht einen Namen.
Gott nicht.
Nicht einen.

Nicht den von Maria und Greta, nicht den von Georg und Wilhelm,
gestorben in den Trümmern von Pforzheim
Nicht den von Salomon und Benjamin und Helga, ermordet in Auschwitz.
Nicht den von André und Marguerite, erschossen im Hagenschieß.
Nicht den von Papé und Saliou, ertrunken im Mittelmeer.
Nicht den von Fatih und Mercedes, erschossen in Hanau.
Jeder und jede von ihnen ist in Gottes Hand geschrieben.

IV.
Wir hier stehen an den Gräbern der Toten der Bombennacht.
Uns bleiben ein Foto vielleicht, ein Schmuckstück, oder vielleicht auch nur Tränen.
Und die Trauer, dass wir Menschen uns ins so eine Katastrophe führen.
Dass wir Leben opfern - immer noch und immer wieder.

Und ich stimme ein in die Worte des Schweizer-Requiems:
„Wo bist du geheiligt auf Erden, großer Gott?
Stets wurde schon immer dein Name missbraucht,
Glauben und Wissen in Lüge vertauscht.
Der Mensch hat sich alles verdreht und verkehrt,
Die Kriege den Völkern als heilig erklärt.
Wo gab es denn jemals den heiligen Krieg?
Nur Mord und Zerstörung am Ende noch blieb.“

(Frohmut Schweizer)

Ja, wir stehen an den Gräbern der Toten des 23. Februars.
Wir legen eine Rose ab.
Nie wieder, hat man damals gesagt. Nie wieder sinnlosen Krieg.
Nie wieder sollten Menschen in unserem Land Angst um ihr Leben haben,
nur weil sie einen anderen Namen tragen, anders an Gott glauben, anders lieben.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, haben wir in unser Grundgesetz geschrieben.
Nie wieder soll sie verletzt werden. Nie wieder, hat man damals gesagt.
Und doch geschieht es wieder.
Und das macht mich nicht nur traurig, sondern auch zornig.

V.
Wir stehen an den Gräbern der Toten der Bombennacht und lesen ihre Namen.
Wir nehmen ihre Namen in diesen Tag mit und wir legen die Namen der anderen dazu.
Die Namen von Auschwitz und vom Hagenschieß,
die Namen auf dem Grund des Mittelmeers, die Namen von Hanau.
Ein Meer von Namen, das uns umgibt und das uns an dieses Nie-wieder erinnert.

Wir nehmen die Namen mit und mit ihnen auch die Verantwortung,
für eine Gesellschaft einzustehen, in der die Würde jedes Menschen geschützt wird,
Weisen wir die in ihre Schranken, die die Würde nur einer Auswahl von Menschen zu sprechen.
Stehen wir ein für ein Land, von dem nie wieder Krieg ausgehen darf,
auch nicht durch Verkäufe von Waffen in Länder, wo Krieg herrscht.

VI.
Wir stehen an den Gräbern der Opfer von Krieg und Gewalt.
Ihre Namen sind im Himmel geschrieben, nicht nur hier.
Wir nehmen ihre Namen mit, aber wir tragen sie nicht allein.
Der, der den Namen trägt „Ich bin für euch da“, der trägt mit.
Und er stellt uns auf den Weg in eine Zukunft,
in der wir keine Namen mehr auf den Grabsteinen lesen müssen, sondern uns gegenseitig zurufen:
Helmut, Ursula, Lieselotte, Salomon, Benjamin, Helga, André, Marguerite,
Papé, Saliou, Fatih, Mercedes -

Gottes Geliebte.

Montag, 10. Februar 2020

Von Ersten und Letzten und einem Jesus, dem das egal ist

oder: was haben Thüringen, ein Gemeindehaus mit Wohnungen und Jesus miteinander zu tun?
 

Predigt zu Matthäus 20,1-16 (1)

I.
Von oben nach unten. Von unten nach oben.
Jesus dreht alles einmal um.
Die Letzten werden die Ersten sein. Die Ersten die Letzten.
Himmelsmaßstäbe.
Die zum Schluss kommen, kommen nicht zu spät.
Sie bekommen dasselbe wie die, die schon lange dabei sein.
Wer anfängt zu rechnen - wie wir es gewohnt sind, der wird sich wundern.
Denn Jesus hält sich nicht an unsere Berechnungen,
nicht an unsere Hierarchien und Rangordnungen.

II.
Das ist provozierender als wir denken.
Wir tun oft so, als ob wir alle gleich sind.
Aber schon am sogenannten GenderPayGap,
dem Unterschied zwischen den Gehältern von Männern und Frauen,
sehen wir, dass das nicht stimmt.
Beim synodalen Weg unserer katholischen Geschwister wird von einem Kardinal kritisiert,
dass Laien und Kleriker gemeinsam eingezogen sind und jeder gleich viel Redezeit hat. (2)
Ja, wir Evangelische empören uns leicht darüber,
aber auch wir kennen Machtgerangel um Spitzenpositionen.
Als Deutsche tun wir oft so, als ob der Rang einer Person keine Rolle spielt bei uns,
oder das Aussehen, oder die Hautfarbe oder das Geld.
Aber das stimmt nicht.
Manche bekommen noch nicht einmal eine Wohnung,
weil sie einen arabisch klingenden Namen haben.
Und wenn politisch aktive Menschen diese Unterschiede in Frage stellen,
gelten sie als linksradikal und gelten damit als No-Go für die sogenannte Mitte.
Gerade wieder passiert.

III.
Bei Jesus gibt es keine Ersten und keine Letzten..
Er heilt den blinden Bettler genauso
wie den Knecht vom römischen Hauptmann.
Spricht im Tempel wie auf dem wackligen Schiff.
Er lässt sich bedienen und er bedient selber.
Lässt sich mit kostbarem Öl salben,
reitet aber auf einem Esel in die Stadt.
Er nimmt die Kinder in den Arm,
die, die eigentlich überhaupt keine Rolle spielen damals.
Und er lässt einen reichen jungen Mann abblitzen, hat ihn aber lieb.
Die Letzten werden die Ersten sein. Und die Ersten die Letzten.

IV.
Ja, Jesus selbst lebt es so.
Er ist selber der Letzte und geht an die Seite der Letzten.
Und damit legt er sich an mit den Ersten.
Sein Kreuz ist der Ort der Letzten.
Es ist das Letzte. Etwas, das überhaupt nicht zumutbar ist.
Aber genau da geht Jesus hin. Der Erste wird zum Letzten.
Damit die Letzten die Ersten werden. Damit es keine Letzten mehr gibt.

V.
Die Jünger von Jesus verstehen das genauso wenig wie wir.
Lass doch alles beim Alten, Jesus.
Wir sind die ersten, die dir folgen. Die dir glauben.
Dann werden wir auch im Himmel an deiner Seite sein. So wie jetzt.
Und das ist ein richtig gutes Gefühl:
zu den Ersten zu gehören und nicht zu den Letzten.
Immerhin ertragen wir ja auch einiges dafür, dass wir uns so schnell entschlossen haben.
Haben Boote und Familien und Beruf liegen gelassen.
Verzichten auf das weiche Bett und die Sicherheit eines festen Daches.
Nehmen auf uns die Mühe, Tag für Tag um Essen zu betteln. Nur um bei dir zu sein.
Da haben wir uns die Belohnung doch echt verdient, oder? Immerhin sind wir die Ersten.
(Und ja: ich kenne auch heute genug Christen, die genau zu wissen meinen,
wer in den Himmel kommt und wer nicht)

VI.
Falsch, sagt Jesus. Gott ist kein Rechenautomat.
Nicht wer zuerst da ist, hat gewonnen. Auch wer später kommt, gehört zu den Ersten.
Wird genauso in den Arm genommen von Gott.
Bekommt genauso viel Liebe ab und wird genauso herzlich von ihm empfangen.

Das fühlt sich ungerecht an. Und manchmal ist es auch ungerecht.
Aber Gottes Liebe ist nicht aufzurechnen. Seine Liebe könnt ihr nicht verdienen.
Aber ihr braucht es auch nicht. Gott sei Dank.
Es hängt nicht davon ab, wieviel ihr tut und wie lange ihr schon dabei seid.
Entscheidend ist, dass ihr da seid.
Vielleicht denkt ihr, dass es zu spät ist. Aber es gibt kein zu Spät.
Ihr kommt auf den Marktplatz Gottes und findet euren Platz.
Ihr seid willkommen und könnt zupacken.
Jetzt. Nicht später. Und nicht früher. Jetzt.

VII.
Hier nebenan haben wir das Gemeindehaus umgebaut. Da sind jetzt Wohnungen drin.
Und weil Geflüchtete es besonders schwer haben, eine Wohnung zu bekommen,
haben wir mit der Stadt vereinbart, dass die Wohnung erstmal an Geflüchtete vermietet werden. (3)
Darüber haben sich nicht alle gefreut.
Vermietet doch erstmal an Deutsche, bekamen wir zu hören.
"Wir" haben doch genug Menschen, die auch eine Wohnung suchen.
Und "die" da machen doch nur Schwierigkeiten. Die haben es doch gar nicht verdient.

Ja, es gibt immer wieder Schwierigkeiten. Mit Müll und Lärm und so.
Aber das ist doch kein Grund, sie hier nicht wohnen zu lassen.
Im Gegenteil. Diese Menschen brauchen uns, euch.
Und wer das Fass mit „Wir Deutschen“ und „die da“ aufmacht,
hat offensichtlich nicht verstanden, was Jesus meint, wenn er von Liebe und Leben spricht.

VIII.
Bist du neidisch, weil ich großzügig bin?
Das lässt Jesus den Grundbesitzer fragen.
Er fragt die, die Angst haben zu kurz zu kommen.
Die meinen, dass man sich eine Grundrente oder ein Dach über dem Kopf erst verdienen muss.
Bist du neidisch, weil ich großzügig bin?
Du gönnst anderen nicht, was du bekommst?
Bekommst du dadurch weniger? Wirklich weniger?
Haben nicht auch die eine Chance verdient, die von vorne anfangen müssen.?

Deutschland ist ein reiches Land, auch wenn es mit seinen Armen nicht gut umgeht.
Aber wer bist du, deutsche Schwester, deutscher Bruder,
dass du meinst, du hättest es mehr verdient als andere, dass man sich um dich sorgt?
Bist du neidisch, weil ich großzügig bin?
Natürlich müssen wir viel dafür tun,
damit das mit dem Wohnen und Zusammenleben auch funktioniert.
Und natürlich dürfen wir auch die nicht vergessen,
die schon lange hier sind oder schon immer hier gelebt haben.
Aber wenn wir nach dem Grundsatz leben:
nur wer in die Sozialkassen gezahlt hat, darf auch daraus was bekommen,
dann schließen wir alle aus, die nicht arbeiten können oder dürfen:
Asylsuchende, Kranke, Kinder, Behinderte.

Von dieser Großzügigkeit den Schwächeren gegenüber
haben wir uns in unserem Sozialsystem etwas bewahrt
und darüber bin ich froh - trotz aller seiner Schwächen.
Aber eine Politik, die der Barmherzigkeit immer weniger Raum gibt, die will ich nicht.

Auch den Letzten einen Platz zu geben.
Jetzt da zu sein. Und zu gönnen, was da ist. Das ist christlich.
Himmelsmaßstäbe.

IX.
Die Letzten werden die Ersten sein.
Pervertiert wurde dieser Grundsatz letzten Mittwoch in Thüringen. (4)
Unwürdig war das - und gefährlich.
Da machten sich Letzte zu Ersten,
aber es ging dabei nicht um Großzügigkeit oder gar darum, dass es allen gut geht.
Es ging um Macht und ein Geschacher um die besten Plätze.
Und man tat sich zusammen mit denen,
die sehr genaue Vorstellungen davon haben, wer oben zu sein hat und wer unten.
Da sollen die Ersten die Ersten bleiben und die Letzten die Letzten.
Reiche und weiße und traditionelle Familien auf der einen Seite.
Die anderen auf die andere.
Neoliberalismus gepaart mit Rechtsextremismus.

Aber Jesus setzt andere Maßstäbe. Himmelsmaßstäbe.
Da gibt es kein Oben und kein Unten, kein rücksichtsloses Geschacher um die besten Plätze.
Da schauen wir Christen und Christinnen anders auf die Welt.
Großzügiger. Liebevoller.
Für uns gibt es keine Ersten und keine Letzten.
Neid und Machtkalkül kippen wir in die Tonne.
Wir sind alle eins in Christus. Und das gilt schon jetzt, nicht erst im Himmel.
Und egal aus welchem Land wir kommen, wie arm oder reich wir sind,
wie gebildet oder nicht, ob Mann oder Frau.

Manche nennen das gutmenschlich oder naiv. Manche nennen das linksradikal.
Aber das ist mir egal.
Gott ist gütig und großzügig. Viel mehr als ich.
Aber ich bin sein Ebenbild und ich folge Jesus nach.
Darum will ich ihm ruhig etwas mehr nacheifern.
Will, dass alle einen Platz haben und alle eine Chance für die Liebe Gottes.
Gleich hier nebenan. Und hier in der Kirche.

Die Letzten werden die Ersten sein.
Amen.

(1) »Das Himmelreich gleicht einem Grundbesitzer: Er zog früh am Morgen los, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Er einigte sich mit den Arbeitern auf einen Lohn von einem Silberstück für den Tag. Dann schickte er sie in seinen Weinberg.
Um die dritte Stunde ging er wieder los. Da sah er noch andere Männer, die ohne Arbeit waren und auf dem Marktplatz herumstanden. Er sagte zu ihnen: ›Ihr könnt auch in meinen Weinberg gehen. Ich werde euch angemessen dafür bezahlen.‹ Die Männer gingen hin.
Später, um die sechste Stunde,und dann nochmal um die neunte Stunde machte der Mann noch einmal das Gleiche.
Als er um die elfte Stunde noch einmal losging, traf er wieder einige Männer, die dort herumstanden.
Er fragte sie: ›Warum steht ihr hier den ganzen Tag untätig herum?‹ Sie antworteten ihm: ›Weil uns niemand eingestellt hat!‹ Da sagte er zu ihnen: ›Ihr könnt auch in meinen Weinberg gehen!‹
Am Abend sagte der Besitzer des Weinbergs zu seinem Verwalter: ›Ruf die Arbeiter zusammen und zahl ihnen den Lohn aus! Fang bei den Letzten an und hör bei den Ersten auf.‹ Also kamen zuerst die Arbeiter, die um die elfte Stunde angefangen hatten. Sie erhielten ein Silberstück. Zuletzt kamen die an die Reihe, die als Erste angefangen hatten.
Sie dachten: ›Bestimmt werden wir mehr bekommen!‹ Doch auch sie erhielten jeder ein Silberstück.
Als sie ihren Lohn bekommen hatten, schimpften sie über den Grundbesitzer. Sie sagten: ›Die da, die als Letzte gekommen sind, haben nur eine Stunde gearbeitet. Aber du hast sie genauso behandelt wie uns. Dabei haben wir den ganzen Tag in der Hitze geschuftet!‹
Da sagte der Grundbesitzer zu einem von ihnen: ›Guter Mann, ich tue dir kein Unrecht. Hast du dich nicht mit mir auf ein Silberstück als Lohn geeinigt? Nimm also das, was dir zusteht, und geh! Ich will dem Letzten hier genauso viel geben wie dir. Kann ich mit dem, was mir gehört, etwa nicht das machen, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich so großzügig bin?‹ So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.«


(2) https://www.katholisch.de/artikel/24382-erste-synodalversammlung-frankfurt-tag-3

(3) https://www.evkirche-pf.de/html/aktuell/aktuell_u.html?&cataktuell=&m=23507&artikel=20139&stichwort_aktuell=&default=true

(4) https://www.deutschlandfunk.de/thueringen-chronologie-der-ereignisse-seit-der-landtagswahl.1939.de.html?drn:news_id=1099678