Montag, 10. April 2023

Frage mich nach der Auferstehung

... und ich erzähle dir...
Predigt am Ostermontagmorgen


 I.
sie fragen mich nach der auferstehung
sicher sicher gehört hab ich davon
daß ein mensch dem tod nicht mehr entgegenrast
daß der tod hinter einem sein kann
weil vor einem die liebe ist
daß die angst hinter einem sein kann
die angst verlassen zu bleiben
weil man selber - gehört hab ich davon
so ganz wird daß nichts da ist
das fortgehen könnte für immer

ach fragt nicht nach der auferstehung
ein märchen aus uralten zeiten
das kommt dir schnell aus dem sinn
ich höre denen zu
die mich austrocknen und kleinmachen
ich richte mich ein
auf die langsame gewöhnung ans totsein
in der geheizten wohnung
den großen stein vor der tür

ach frag du mich nach der auferstehung
ach hör nicht auf mich zu fragen


(Dorothee Sölle (1))

II.
Ach, frag du mich nach der Auferstehung.
Frag, was ich dazu denke, fühle oder auch nicht fühle.
Halte aus, dass ich womöglich nur stammeln kann,
denn das Ganze ist ja viel zu groß und überhaupt nicht zu begreifen.
Und der Widerspruch der Welt ist so mächtig.
Der Tod so stark - nicht nur in der Ukraine oder im Iran oder in Israel.
Aber bitte frag mich. Und ich frage auch dich.
Und wir versuchen Worte zu finden,
die diese Auferstehung irgendwie fassen können.
Lass uns davon erzählen. So wie die vor uns das erzählt haben.

III.
Was hat Maria Magdalena erzählt, als sie vom Grab zurück kam (2)?
Hat sie von ihrer Suche erzählt,
von ihrer Trauer, dass ihr noch nicht mal mehr der Leichnam bleibt?
Wo kann sie ihren Jesus denn noch mal anfassen, spüren, streicheln, salben?
Und dann war da dieser Gärtner und sie hörte Jesus aus seinem Mund.
Und plötzlich wusste sie: mein lieber Jesus lebt. Er ist nicht mehr bei den Toten.
Und alles fängt neu an. Ganz neu. Ganz anders. Mit Jesus.
So wie er einst mit ihr neu angefangen hat.
Ach, frage du Maria nach der Auferstehung und sie wird dir von dem Gärtner erzählen
und davon, dass Jesus sie ins Leben schickt, ins bunte pralle Leben.

Was haben Simon und Thomas erzählt und Nathanael und die Zebedaiden?
Haben sie von dem Morgen am See erzählt, als sie wieder mal nichts gefangen haben (3)?
Und wie Jesus zu ihnen kommt und sie erkennen ihn nicht.
Und dann schickt er sie nochmal raus aufs Wasser und sie fingen so viele Fische wie noch nie!
Haben sie davon erzählt, wie er mit ihnen Brot teilte und Fisch?
Und sie wussten es: er ist es. Er lebt. Er ist da - immer da.
Ach, frage du Simon und Thomas und Nathanael und die Zebedaiden nach der Auferstehung
und sie werden dir von dem Seeufer erzählen und von gegrillten Fischen und geteiltem Brot
(und vielleicht auch davon, dass Simon nackt war und das war irgendwie ein bischen peinlich).

IV.
Und was hat Paulus erzählt?
Lesen wir seine Worte an die Gemeinde in Korinth (4):

Ich erinnere euch aber, Brüder und Schwestern, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr’s so festhaltet, wie ich es euch verkündigt habe; es sei denn, dass ihr’s umsonst geglaubt hättet. Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln.

Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist. Ob nun ich oder jene: So predigen wir, und so habt ihr geglaubt.


V.
Frage du Paulus nach der Auferstehung und er wird dir erzählen,
dass Jesus ihn vom hohen Ross herunter geholt hat.
Das war vor Damaskus und plötzlich konnte er nichts mehr sehen.
Aber er hörte die Stimme von Jesus.
Er hat ihn ja nicht kennengelernt, als Jesus als Wanderprediger durch Galiläa streifte
und die Verlorenen suchte und die Kranken heilte.
Als er die Kinder segnete und Zachäus vom Baum holte
und die Jünger und Jüngerinnen losschickte, um es ihm nachzutun:
zu heilen und das Reich Gottes zu predigen.
Paulus lernte Jesus erst rund 20 Jahre nach seinem Tod kennen.

Frag du Paulus nach der Auferstehung und er wird dir erzählen,
dass ihm dieser Jesus ihm die Augen geöffnet hat.
Durch Jesus hat Paulus die Gnade entdeckt. Sie war ja immer schon da.
Gott schaut dich mit liebevollen Augen an.
Du musst ihm nicht beweisen, wie gläubig du bist
oder wie fleißig oder wie klug oder wie erfolgreich.
Alles das zählt nicht. Aber du zählst.
So wie du bist, bist du wertvoll.
So wie du bist, machst du die Welt zu einem wunderbaren Ort.
Und auch wenn du Mist baust oder nicht mehr weiter kannst:
aus dieser Liebe Gottes, aus dieser Gnade kannst du nicht rausfallen.
Niemals.

Frag du Paulus nach der Auferstehung und er wird dir von seinem Staunen erzählen:
dass ausgerechnet er, der sich als unzeitige Geburt betitelt,
dass ausgerechnet er von diesem Jesus und von dieser Gnade erzählen kann.
Dass er den Mut hat, das zu tun.
Paulus wird dir von dem Stachel im Fleisch erzählen, von seinem Stottern
und auch davon, dass er immer wieder in alte Muster zurück fällt,
wenn er doch wieder anfängt, seine Leistungen aufzuzählen.
Paulus wird dir erzählen, dass er enttäuscht wurde
von den Christen und Christinnen, mit denen er zu tun hatte.
Aber auch, dass er sie enttäuscht hat.
Und Paulus wird dir von der Liebe erzählen,
die größer und wichtiger ist als jeder noch so richtige Glaube.

Frag Paulus nach der Auferstehung und er wird dir von den Anfängen erzählen:
von den ersten Jüngern und Jüngerinnen
und wie mit ihnen und Jesus der christliche Glaube begonnen hat.
Als Paulus Jesus kennenlernte, waren die Geschichten von Jesus noch nicht aufgeschrieben.
Paulus kannte die Geschichten von Maria am Grab
und vom großen Fischfang der Jünger vielleicht noch nicht.
Paulus hatte einen anderen Anfang mit Jesus als sie.
Und vielleicht wusste er auch noch nicht, dass doch die Maria die erste war,
die den auferstandenen Jesus gesehen hat. Vielleicht wurde es ihm noch nicht erzählt.

VI.
Aber mir wurden diese Geschichten erzählt - von meiner Mutter und im Kindergottesdienst.
Und später in vielen vielen Gesprächen mit dem Jugendpastor in Hamburg,
der mich inspirierte wie kein anderer,
weil er alle Fragen zu ließ und jeder Zweifel durfte sein.
Und ich hatte viele Fragen.

Fragst du mich nach der Auferstehung,
so erzähle ich von diesem Jesus, der gar nicht anders kann als lieben.
Und der mich so gefangen nimmt
und mit ihm kann ich weinen und lachen und leicht und schwer sein.
Er preist die Sanftmütigen und die Friedensstifterinnen,
lässt sich von einer Ausländerin belehren und weint um den toten Lazarus.
Und selbst der Tod stoppt seine Liebe nicht.

Fragst du mich nach der Auferstehung,
erzähle ich dir von meiner Freundin, die mich in den Arm nahm,
als ich dachte, ich könnte nicht mehr Pfarrerin sein.
Und ich erzähle dir von der Therapeutin:
die schickte mich los, damit ich mir Blumen für mich kaufe, weil ich es wert bin.
Jede Blume für ein wertvolles Stück Christiane. Gnadenblumen.
Und ich erzähle dir von meinen Gnadenliedern - Lieder, die mich aufrichten.
"Der Lärm verebbt" - zum Beispiel.
Oder "My Constellation" von den Lord of the Lost.

VII.
Ach, frage mich nach der Auferstehung,
Frag, was ich dazu denke, fühle oder auch nicht fühle.
Halte aus, dass ich womöglich nur stammeln kann,
denn das Ganze ist ja viel zu groß und überhaupt nicht zu begreifen.
Und der Widerspruch der Welt ist so mächtig.
Der Tod so stark - nicht nur in der Ukraine oder im Iran oder in Israel.
Aber bitte frag mich nach der Auferstehung. Und ich frage auch dich.
Und wir versuchen Worte zu finden, die diese Auferstehung irgendwie fassen.
Wir erzählen von Jesus, dem Gärtner,  und dem leeren Grab
und von geteiltem Brot und gegrillten Fisch.
Wir erzählen davon,
dass auch in unserem unfertigen und unspektakulären Leben Gottes Gnade wirkt,
wie sie bei Paulus und Simon und Maria wirkte.

Wir erzählen von der Auferstehung und wir stehen auf in ein buntes Leben
und wir rollen den Stein des Todes weg.
Wir stehen auf für eine Welt voller Gnade.  Jeden Tag.

VIII.
(noch einmal Dorothee Sölle:)
sie fragen mich nach der auferstehung
sicher sicher gehört hab ich davon
daß ein mensch dem tod nicht mehr entgegenrast
daß der tod hinter einem sein kann
weil vor einem die liebe ist
daß die angst hinter einem sein kann
die angst verlassen zu bleiben
weil man selber - gehört hab ich davon
so ganz wird daß nichts da ist
das fortgehen könnte für immer
(....)
ach frag du mich nach der auferstehung
ach hör nicht auf mich zu fragen


Amen.

(1) Gedicht von Dorothee Sölle, die demnächst ihren 20. Todestag hat

(2) Johannes 20, 1-18

(3) Johannes 21, 1-14

(4) 1. Korinther 15, 1-11

Samstag, 4. März 2023

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Von Hiob und unsäglichem Leid und von guten Freunden

Predigt zu Hiob 2
(mit herzlichem Dank an Pfarrer Joachim Römelt aus Solingen, dessen Vorlage mir sehr geholfen hat, meine Worte zu diesem schweren Text zu finden)

 1.
Von heute auf morgen stürzt die Welt ein. Ein Erdbeben begräbt die Liebsten unter den Trümmern des Hochhauses. Ein russischer Despot schickt Panzer in das eigene Land. Bomben überziehen die eigene Stadt mit Feuer.
Und immer wieder diese Frage: Warum?
In 1000 Sprachen. Why? Neden? Chomu? Warum?
Ein Klageruf in den Himmel, der nur noch Zerstörung bringt.
Eine Klageruf, der älter als die Bibel ist.
Der Versuch, eine Logik dahinter zu finden.
Eine Erklärung für all dieses ungerechte Leiden.
Hören wir auf das Buch Hiob (Kapitel 2):

2.
Eines Tages geschah es, dass die Götterwesen kamen, um vor den Ewigen zu treten; da kam auch der Satan in ihre Mitte, vor den Ewigen zu treten. Da sprach der Ewige zum Satan: »Wo kommst du her?«  Der Satan antwortete dem Ewigen und sprach:
»Vom 'Rumschweifen auf der Erde und vom Hin-und-Her-Wandern auf ihr.«
Da sprach der Ewige zum Satan: »Hast du Acht gehabt auf meinen Knecht Hiob?  Ja, so wie er ist keiner auf der Erde –
ein Mann, so ohne Tadel und geradlinig, so fromm und dem Bösen feind! Auch jetzt noch hält er fest an seiner Frömmigkeit –
und du hast mich gegen ihn gereizt ihn umsonst zu verderben.«

Da antwortete der Satan dem Ewigen und sprach:
»Haut für Haut! Alles, was ein Mensch hat, gibt er für sein Leben.
Recke doch einmal deine Hand aus und rühre sein Gebein an und sein Fleisch  –  ob er dir dann nicht ins Angesicht den Abschiedssegen geben wird?«  Da sprach der Ewige zum Satan: »Da! Er ist in deiner Hand, nur sein Leben bewahre!«

Da ging der Satan weg vom Angesicht des Ewigen und schlug den Hiob mit bösem Geschwür von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel.  Der nahm sich eine Tonscherbe, um sich damit zu kratzen, und er saß mitten im Schutthaufen.

Da sagte seine Frau zu ihm: »Auch jetzt noch hältst du fest an deiner Frömmigkeit. Gib Gott den Abschiedssegen und stirb!«
Da sprach er zu ihr: »Wie ein dummer Mensch redet, redest auch du.
Das Gute nehmen wir doch auch an von  Gott und das Böse sollten wir nicht annehmen?« Mit all dem versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.

Es hörten aber die Freunde Hiobs von dem ganzen Unheil, das über ihn gekommen war. Da kamen sie, jeder von seinem Ort: Elifas, der Temaniter, Bildad, der Schuachiter, und Zofar, der Naamatiter.
Die verabredeten sich hinzugehen, ihm zuzunicken und ihm Trost zu geben. Sie erhoben von ferne ihre Augen und erkannten ihn nicht wieder. Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten. Sie zerrissen ein jeder sein Obergewand und streuten Aschenstaub auf ihr Haupt zum Himmel hin. Dann setzten sie sich zu ihm auf die Erde – sieben Tage lang und sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.


3.
Ich stelle mir Hiob vor, wie er da in der Asche sitzt. Und seine kaputte, geschundene, juckende Haut kratzt, mit einer Tonscherbe.
Und ich werde ganz still, wenn ich mir vorstelle, was dieser Mann kurz vorher erlebt hat. Seine Kinder sind alle ums Leben gekommen – in einem eingestürzten Haus. Aus dem Nachbarland sind bewaffnete Gruppen eingefallen, haben sein ganzes Vieh geraubt und seine Knechte umgebracht. Den Rest hat das Feuer erledigt. Das war jetzt im Text eben nicht zu hören, das findet ihr im Kapitel davor.
Und ich höre das Schluchzen der Ukrainerin am Freitag Abend in der Altstadtkirche als sie von ihrem Onkel erzählt und der ihr so sehr fehlt.
Ich höre die Geschichte von der Pforzheimerin, die ihren Bruder im brennenden Keller vor 78 Jahren verloren hat.
Ich sehe diesen Vater aus der Türkei vor mir, der die Hand seiner unter den Trümmern des Erdbeben verschütteten 15-jährigen Tochter hält.
Und frage mich: Wie hält man das aus? Wie viele Menschen sitzen da in der Asche ihres Lebens und kratzen ihre Wunden?

4.
Und es trifft wieder einmal die, die am wenigsten dafür können. Die einfachen Leute in der Ukraine, in der Türkei, in Syrien trifft keine Schuld an dem, was da passiert. Da haben ganz andere Menschen Entscheidungen getroffen, Befehle erteilt oder am Bau gepfuscht. Und die, die nichts dafür können, müssen es ausbaden.

Ich halte das schwer aus. Zu tief ist in mir der Wunsch, dass es in dieser Welt irgendwie gerecht zugeht. Dass Menschen, die niemandem was zu Leide tun, auch selbst in Frieden leben können. Und dass auf der anderen Seite die Kriegsverbrecher dieser Welt alle vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag landen.
Das wäre doch nur fair! Und manchmal ist das ja auch so. Manchmal ernten Menschen genau das, was sie gesät haben, im Guten wie im Schlechten. Aber oft eben auch nicht. Meistens nicht.

5.
Warum? Warum ist das so? Warum lässt Gott das zu?  
Ich wünschte, ich könnte euch jetzt die Antwort präsentieren. Aber ich habe sie nicht. Überhaupt nicht.

Und ich glaube, es gibt Leid, das darf man gar nicht deuten oder erklären.
In den folgenden Kapiteln des Hiobbuches versuchen es die Freunde von Hiob: eine Erklärung zu finden.
Sie deuten sein Leiden als Strafe Gottes. Wie das so oft in der Geschichte gemacht wurde.
„Irgendwas musst Du doch getan haben, dass Dich das mit voller Wucht trifft!“
Aber Hiob wehrt sich mit aller Kraft, die er noch hat, gegen diese Deutungen. Und gegen die Vorwürfe, die darin stecken.  Am Ende bekommt er von Gott recht. Aber so weit sind wir hier noch nicht.
Hier ist ein Mensch gerade am Boden zerstört - mit Haut und Haaren. Und ja: vielleicht gibt es das, dass ein Leiden eine Botschaft enthält, die wir verstehen sollen. Aber es gibt auch Leid, das einfach nur schrecklich ist. Das keinen tieferen „Sinn“ enthält. Jedenfalls nicht für uns.

6.
Vielleicht ist das die größte Versuchung für uns heute: dass wir möglichst schnell viele Antworten geben. Dass wir wissen, was richtig und falsch ist. Dass wir zu wissen meinen, was jemand in seiner Not braucht.

Viele finden ja, dass Hiobs Frau hier die größte Versuchung für Hiob ist, weil sie ihn angeblich überreden will, sich von Gott abzuwenden. Aber das tut sie nicht. Sie versucht nur - wie seine Freunde auch - einen Grund zu finden. Im Gegensatz zu den Freunden sieht sie den Grund aber bei Gott.
Und so falsch ist das ja auch nicht, wie wir wissen.
Hiob versteht das noch nicht. Auch das ist auszuhalten.
Und weder er noch seine Frau haben eine Antwort auf dieses Warum.

7.
Und dann sind da noch die drei Freunde von Hiob.
Die hören von all dem, was ihm zugestoßen ist.  Und sie zögern keinen Moment, sondern machen sich sofort auf den Weg.
Allein das ist schon toll. Wie viele Menschen tun das nicht! Sondern ziehen sich eher zurück, wenn jemand im Freundeskreis schwer erkrankt oder etwas anderes Schlimmes erlebt.
Das machen die Freunde hier nicht. Sie ziehen sofort los.
Vielleicht legen sie sich Worte zurecht, die sie sagen wollen. Vielleicht suchen sie sich Trostworte aus der Bibel heraus, von denen sie denken: das könnte Hiob guttun. Aber dann sehen sie, was los ist.
Da wartet nicht der alte, vertraute Freund auf sie, da wartet ein Mann, den sie nicht wiedererkennen, so fertig ist der, zerkratzt und gebeugt und überall gezeichnet von einem unsäglichen Schmerz.
Damit hat keiner von ihnen gerechnet. Und ihre mitgebrachten Worte zerrinnen ihnen unter den Fingern wie Sand.

Es gibt Momente, da ist jede Antwort falsch. Und jetzt kommt das, was mich an dieser Geschichte so beeindruckt. Die drei hauen nicht ab. Sie bleiben. Und sie sagen – nichts! Gar nichts! Sie schreien. Und dann schweigen sie. Nicht nur zehn Minuten. Ganze sieben Tage und Nächte sitzen sie mit Hiob auf der Erde und schweigen. Und ich glaube, das ist der einzige Trost, den sie diesem Mann und seiner Frau in dieser Situation überhaupt geben können: Sie sind da - sonst nichts.

8.
Manchmal ist das einzig Hilfreiche, was wir tun können, still zu sein. Und nicht sagen: „Das wird schon wieder! Die Zeit heilt alle Wunden.“ Oder so ähnlich. All diese Worte sind gut gemeint, aber sie bringen unterschwellig die Botschaft: Bitte sei schnell wieder fröhlich und normal! Aber das geht nicht so einfach.
Und manchmal gibt es nichts zu sagen und erst recht nichts zu deuten und zu verstehen.

Manchmal kannst du nur ohne Worte was von Gott erzählen: indem du einfach da bist, nicht fliehst, dich nicht zurückziehst, aushältst, dass die Dinge sind, wie sie sind. Und vielleicht eine Suppe mitbringen.
Oder das Bad putzen. Oder so.

Manchmal ist es das Beste in so einer Situation: zu wissen, zu erfahren: ich bin nicht allein! Und es ist momentan vielleicht auch das Einzige, was wir den Menschen in der Ukraine oder im Erdbebengebiet tun können. Da sein. Unterstützen. Geld spenden. Zum Essen hier einladen. Menschen aufnehmen und sie erzählen lassen. Sie fragen, was sie brauchen. Und für sie beten.

9.
Wir haben so wenig Antworten und Lösungen. Einfache Wahrheiten gibt es nicht. Erst recht nicht, wenn von heute auf morgen die Welt einstürzt. Aber wir können füreinander da sein. Für die Menschen in der Ukraine und an vielen anderen Orten. Wir können beten, dass unser Glaube nicht kaputtgeht an den Dingen, die wir erleben. Dass wir unsere Hoffnung auf Frieden nicht verlieren!

Bleibt nicht alleine mit euren Fragen, euren Zweifeln!
Meint nicht, dass ihr das selber hinkriegen und mit Euch selbst ausmachen müsst!
Sucht Euch Menschen, die einfach für euch da sind!
Und gerade wenn ihr mit Gott kaum noch rechnen könnt: brecht das Gespräch mit ihm nicht völlig ab! Haltet ihm genau das hin: dass er Euch fehlt. Dass ihr zutiefst an ihm zweifelt.
Fragt ihn: „Warum Gott? Warum dieses Leid?“
Ihr seid damit in guter Gesellschaft mit dem, der ebenfalls diese Frage stellte: mit Jesus am Kreuz.
Warum, Gott? Warum hast du mich verlassen?

Lasst uns zusammen aushalten, wenn da lange keine Antwort kommt.
Und vielleicht darauf hoffen, dass Gott irgendwann wieder redet.
Wie bei Hiob ganz am Ende.
Und bei Jesus am dritten Tag.
Und seitdem immer wieder.
Amen.

Sonntag, 26. Februar 2023

Bunte Fetzen der Liebe

Über Liebe und vollkommene Unvollkommenheiten

Predigt zu 1. Korinther 13

1.
Stellt euch vor, zwei Menschen wollen heiraten.
Sven und Lisa (1) sind seit 5 Jahren zusammen, haben eine nette Wohnung in Berlin,
ja, und nun soll der nächste Schritt folgen.
Ja zueinander sagen und das Ganze mit Freundinnen und Verwandten feiern.
Groß soll die Feier nicht sein.
Der Termin ist bald gefunden 21. Mai.
Und mit dem Standesamt und der Feier-Location klappt auch alles.
Lisa hätte sich eine kirchliche Trauung gewünscht –
seit ihrer Konfirmation mag sie es, gesegnet zu werden.
Dass ihr jemand sagt, dass Gott bei ihr auch im neuen Lebensabschnitt ist.
Aber Sven hat mit Kirche und Glauben und so nichts am Hut.
Naja, da will Lisa ihm das nicht aufdrücken, was nicht zu ihm passt.

Eines Tages liest Sven in seiner Zeitungs-App von einem Hochzeitsfestival in Neukölln.
Ausgerechnet an Tag ihrer standesamtlichen Hochzeit!
Man könne einfach so vorbei kommen, heißt es. Ohne Anmeldung.
Das perfekte Geschenk für Lisa, die perfekte Überraschung - denkt Sven.
Die Kirche liegt quasi auf dem Weg zwischen Standesamt und Lokal.
Da kann ich dann doch über meinen Schatten springen – ihr zu Liebe.

Ja, und dann ist es so weit. Am 21. Mai 2022.
Als sie „zufällig“ an der Genezarethkirche vorbeilaufen, fragt er sie:
wollen wir kirchlich heiraten?
Und dann geht die gesamte Hochzeitsgeschellschaft hinein.
Ein paar Gespräche, dann der kleine Gottesdienst und vor allem der Segen am Schluss.
Und Sekt gibt es auch noch.
Lisa ist vollkommen von den Socken. DAS hat Sven für sie getan! Aus Liebe.

2.
Stellt euch vor, da gibt es etwas, worüber man eigentlich weniger sprechen sollte als es einfach tun:
lieben. Gott lieben, meine Nächste lieben, mich selber lieben, mein Kind lieben,
meine Mutter, meinen Partner, meine Freundin.
Einen Film lieben, Musik lieben, ein Buch oder den Garten lieben, eine Stadt lieben,
das Meer  oder das Schwimmen im Meer. Viele kleine bunte Fetzen der Liebe.
Jede von uns weiß von der Liebe und jeder von uns kennt sie.
Und jeder kennt und jede fürchtet die Sehnsucht nach ihr,
vor allem, wenn die Liebe fehlt oder an ihre Grenzen kommt.

3.
(1. Korinther 13, 1-3)
Stellt euch vor:
Ich kann die Sprachen der Menschen sprechen und sogar die Sprachen der Engel.
Wenn ich keine Liebe habe, bin ich wie ein dröhnender Gong oder ein schepperndes Becken.
Oder stellt euch vor:
Ich kann reden wie ein Prophet, kenne alle Geheimnisse und habe jede Erkenntnis.
Oder sogar: Ich besitze den stärksten Glauben – sodass ich Berge versetzen kann.
Wenn ich keine Liebe habe, bin ich nichts.
Stellt euch vor: Ich verteile meinen gesamten Besitz.
Oder ich bin sogar bereit, mich bei lebendigem Leib verbrennen zu lassen.
Wenn ich keine Liebe habe, nützt mir das gar nichts.


4.
Stellt euch vor, diese Worte sind von Paulus.
Ein Lied. DAS Lied der Liebe. Gedichtet für Schwestern und Brüder in Korinth.
Eine aktive, eine lebendige, eine starke Gemeinde.
Sie können viel, sind begabte Redner und großzügige Spenderinnen.
Sie können einander begeistern, erklären die Bibel, beten viel und wollen alles richtig machen.

Aber anstatt sich daran zu freuen, gibt es Streit: Wer ist besser? Wer macht es richtig?
Es entstehen Gruppen, die miteinander konkurrieren.
Und man wirft sich gegenseitig vor, nicht christlich genug zu sein.

Ich bin der wahre Christ, weil ich in Zungen rede. Du nicht.
Ich bin die wirkliche Christin, weil ich mein letztes Hemd hergebe. Du nicht.
Ich bin wahrhaft christlich, weil ich mich an die Speisegebote halte. Du nicht.
Fetzen der Lieblosigkeit.

5.
Stellt euch vor, sagt Paulus, damit seid ihr falsch gewickelt.
Denn egal wie konsequent, wie genial oder wie gläubig ihr seid -
wenn die Liebe nicht dabei ist, nützt euch das alles nichts. Es zählt alles nichts.  

Lieblosigkeit macht alles kaputt.
Ihr seht das an eurem Abendmahl, liebe Geschwister in Korinth.
Da fangen die einen schon an und lassen nichts mehr übrig.
Die, die später kommen, weil sie als Sklaven so lange arbeiten müssen,
sehen nur noch die letzten Krümel in leeren Körben.
Ihr zeigt ausgerechnet mit dem Mahl der Liebe, dass die Not der Armen euch nicht interessiert.
Da ist dann keine Liebe mehr.
Es ist lieblos, wenn ihr das Wort Gottes zu einer Zwangsjacke macht.
Wenn ihr eure Art zu glauben zum Maßstab für alle erhebt, dann ist da keine Liebe mehr.
Noch nicht mal ein Fetzen davon.

6.
Stellt euch vor, ihr liebt.
Stellt euch vor, die Liebe wäre in allem, was ihr sagt und tut, dabei.
Und wenn es nur kleine Fetzen wären.
Wie würden eure Leserbriefe aussehen?
Wie würdet ihr über junge Menschen sprechen,
die sich in ihrer Sorge um die Zukunft der Erde auf die Straße kleben?
Könntet ihr dann noch denken, dass Männer andere Männer nicht lieben dürfen
und Frauen keine anderen Frauen, nur weil ein paar Sätze in der Bibel das sagen?
Würdet ihr hinnehmen, wenn Geflüchtete als Verbrecher abgestempelt werden?
Würdet ihr dann dafür sorgen wollen,
dass möglichst keine Geflüchteten mehr in Pforzheim bleiben können?
Ich weiß, es ist kompliziert. Auch mit der Liebe. Oder doch nicht?

7.
(1. Korinther 13, 4-7)
Die Liebe ist geduldig. Gütig ist sie, die Liebe.
Die Liebe ereifert sich nicht.
Sie prahlt nicht und spielt sich nicht auf.
Sie ist nicht unverschämt. Sie sucht nicht den eigenen Vorteil.
Sie ist nicht reizbar und trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht, wenn ein Unrecht geschieht.
Sie freut sich aber, wenn die Wahrheit siegt.
Sie erträgt alles. Sie glaubt alles. Sie hofft alles. Sie hält allem stand.


8.
Stellt euch vor: Liebe ist kein Gefühl, keine momentane Glücksstimmung.
Liebe tut etwas - sie freut sich, lächelt, weint, glaubt.
Ja, sie macht, sie handelt, und zwar gegen den Strom,
gegen den Augenschein, aber viel vernünftiger als du denkst.

Liebe befreit deinen Verstand von seinem Egoismus,
deine Glauben von Herrschsucht,
und sie macht dein Herz weiter.
Liebe ist radikal, lässt ganz neu auf die Welt schauen,
widerspricht aber auch mal, wenn Leute Blödsinn erzählen.
Vor allem aber macht die Liebe eins:
Sie fragt nicht danach, ob es erlaubt ist zu lieben.

Das alles macht die Liebe verletzlich. Und jede, die liebt, auch.
Und ich schaue auf Jesus und sehe, wie er diesen Weg der Liebe geht.
Wie er deshalb angegriffen wird, sogar ans Kreuz geht. Wie er sich verwundbar macht.
Diese Liebe lässt ihn noch zuvor zum Blinden bei Jericho gehen (2).
Jesus kann wegen dieser Liebe nicht einfach an ihm vorbei gehen,
sondern gibt ihm das Augenlicht zurück.
Eine Liebe, die heilt und versöhnt und neu anfangen lässt.
Jesus ist diese Liebe, so vollkommen, so verwundbar, dass wir immer wieder an ihr scheitern.

9.
Stellt euch vor, aus diesem Grund schreibt Paulus (1. Korinther 13, 8-13):
Die Liebe hört niemals auf.
Prophetische Eingebungen werden aufhören.
Das Reden in unbekannten Sprachen wird verstummen.
Die Erkenntnis wird an ihr Ende kommen.
Denn was wir erkennen, sind nur Bruchstücke,
und was wir als Propheten sagen, sind nur Bruchstücke.
Wenn aber das Vollkommene kommt, vergehen die Bruchstücke.
Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind. Ich urteilte wie ein Kind und dachte wie ein Kind.
Als ich ein Mann geworden war, legte ich alles Kindliche ab.
Denn jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild.
Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke.
Aber dann werde ich vollständig erkennen,  so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.
Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei.
Doch am größten von ihnen ist die Liebe.


10.
Stellt euch vor: 
Alles, was ich mache und tu, was ich erkenne und weiß,
alles das ist Stückwerk und ist begrenzt -
und vor allem nur ein Ausschnitt dessen, was möglich ist.
Ich kann nicht alles sehen. Noch nicht.
Ich kann nicht alles wissen. Noch nicht. Und das ist gut so.
Ja, mein Leben bleibt Fragment
und auch mein Glauben und Lieben und Hoffen bleiben Fragment.
Stückchen und Fetzen.

Lieben - das klingt so "einfach": "Einfach" tun.
Gott lieben und die Nächste. Mich selbst sogar.
Meinen Partner, mein Kind, die Vermieterin, gar den Politiker, der sich lieblos äußert.
Diese alle lieben? Puh!
Wie gut, dass auch Paulus sieht, dass ich gar nicht vollkommen sein kann.
Meine Liebe bleibt Stückwerk.
Der Moment, dass alles ganz und heil ist, kommt noch.
Aber wann, weiß ich nicht. Und Paulus auch nicht.

11.
Aber vielleicht genügt das ja?
Gott sieht mich ganz und schaut mich mit liebevollen Augen an.
Sie ermuntert mich, mit den kleinen Fetzen der Liebe schon mal anzufangen.
Vielleicht springe ich auch so spontan über meinen Schatten wie Sven,
der für seine Lisa eine kirchliche Hochzeit organisiert,
obwohl er mit der Kirche nicht so viel anfangen kann.
 Und ob ich in einem Streit Recht habe oder nicht, ist mir vielleicht völlig egal.
Vielleicht setze ich mich doch mal hin
und schreibe ich einen Leserbrief, der Fetzen der Liebe enthält –
wenn sonst nur Gift und Galle gespuckt wird.
Und vielleicht frage ich den jungen Mann auf dem Leopoldsplatz,
der in einer fremden Sprache in sein Handy spricht, ob ich ihm helfen kann.
Und wer weiß, vielleicht erzählt er mir seine Geschichte
und wir trinken zusammen einen Tee -
einfach weil wir uns füreinander interessieren?

Ja, ich fange mit den kleinen bunten Fetzen der Liebe an und füge sie mit euren zusammen.
Und wenn wir diese Fetzen der Liebe zusammenschlingen,
dann öffnen sich Kirchen für alle Svens und Lisas
und unser Stückwerk namens Liebe ist stärker
als jeglicher Hass in den Leserseiten der Zeitungen.

Ich will, dass wir uns ganz neu sehen wie der Blinde von Jericho – als Geliebte Gottes.
Wir machen die Türen zur Liebe weit auf.
Stellt euch vor, vielleicht verändern wir damit die Welt?
Mit einer Liebe, die jetzt ein Stückwerk ist und irgendwann vollkommen.

Amen.

(1) Die Namen sind frei erfunden. Informationen zum Hochzeitsfestival findet man u.a. unter https://www.mi-di.de/materialien/heiraten-einfach-anders-zwanglos-authentisch-und-segensreich

(2) Lukas 18, 31-43 (war Lesungstext)

Samstag, 31. Dezember 2022

Ein Wunder voll Käseschmiere

Von Maria, Ana, Hirten und einem Kind.

Predigt zu Weihnachten 2022


(in der Predigt zitiere ich ein Video einer Whiskey-Marke, das mich sehr berührt hat, weil es eine besondere Wundergeschichte erzählt. Ich verlinke es unten)

I.

Es ist ein Wunder.
Mitten in der Nacht wird es hell. Draußen auf einem Feld irgendwo.
Und ein Engel spricht zu Hirten, die Angst haben.
Männer, die für wenig Geld auf Tiere aufpassen. Schafe und Ziegen.
Irgendwo bei einem Dorf namens Bethlehem. Hier im Nichts, wo sie nichts haben, außer ihren kleinen Job und den Schutz, den sie sich gegenseitig geben können.
Ausgerechnet hier und ausgerechnet zu ihnen spricht ein Engel.

Ein Wunder, das sie überfordert.
Wieso gerade zu uns, fragen sie vielleicht.
Hier ist doch nichts. Wir sind nichts. Sind wirklich wir gemeint?

II.

Es ist ein Wunder.
Maria trägt es in ihren müden Armen. Legt es in den Futtertrog.
Und sie weiß, sie hat nochmal Glück gehabt.
Es ist warm und trocken hier. Zwischen den Tieren.
Irgendwo in einem Dorf namens Bethlehem.
Sie sind bei freundlichen Menschen untergekommen.
Die haben nur noch diesen Raum übrig, den sie mit den Tieren teilen müssen.
So ist das nun mal, wenn man niemanden kennt und arm oder im Krieg ist:
Da kann man froh sein, wenn wenigstens der Futtertrog frei ist.
Und etwas Platz zum Gebären mittendrin.

Maria trägt es in ihren Armen, das Wunder.
Den Messias. Den Gesalbten. Mary did you know?
Ein Engel hat es ihr gesagt, vor 9 Monaten.
Ausgerechnet zu ihr, die ja nur ein junges Mädchen ist. Sonst nichts. Wer ist sie schon?
Viele Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen. Und Sorgen.
Aber jetzt - im Moment der Geburt ist alles auf Null gesetzt.
Ein kleines schreiendes runzliges Wunder
Voll mit Käseschmiere und Blut und verkniffenden Augen.

Ein Wunder, das sie überfordert.
Das Licht zu hell. Die Tierlaute zu laut. Das Weinen zu verzagt. Die Zukunft unsicher.
Aber es ist da, dieses Wesen wie von einem anderen Stern.
Warm ist es. Und es braucht alle Wärme, die Tiere und Menschen ihm geben können.
Wärme und Windeln, Decke und Muttermilch, Haut und sanfte Hände.
Irgendwo in Bethlehem.
Und ja, es ist ein Wunder.

III.

Ein alter Mann in einem Dorf irgendwo. (1)
Eines Tages greift er nach dem Lippenstift seiner Frau und probiert ihn aus.
Die ersten Versuche missglücken. Er sieht eher wie ein Clown aus.
Er kauft sich weiteres Makeup und ignoriert den Blick der Verkäuferin.
Er übt. Jeden Abend. Vor dem Spiegel. Heimlich.
Manchmal steht er nachts auf, um zu üben. Seine Frau soll nichts merken.
Er steht an der Bushaltestelle und zeichnet mit dem Finger auf dem Werbeplakat die Augen des Models nach. Und irgendwann ist es perfekt: Sein Makeup.

Eines Mittags – es ist Weihnachten:  Ein Motor brummt. Autotüren klappen.
Seine Familie kommt unter fröhlichem Lachen. Kinder und Enkelkinder.
Und da ist die 26jährige Ana, die sich noch nicht traut, Ana zu sein.
Jedenfalls nicht in der Familie. Nicht an Weihnachten.

Für die Familie ist sie Alvaro. Ein schüchterner, stiller junger Mann im schwarzen Anzug.
Als alle den Tisch decken, nimmt der Großvater Ana, die noch Alvaro heißt, an die Hand
und führt sie nach nebenan.
Dann greift er zum Makeup und schminkt sie. Das, was er Abend für Abend geübt hat.
Behutsam, liebevoll, nimmt sich alle Zeit der Welt.
Ana weiß nicht, wie ihr geschieht. Das Wunder überfordert sie.
Aber als sie beide wieder zur Familie stoßen, staunen die anderen.
Und dann klatschen sie und nehmen Ana in den Arm.
Und endlich ist Ana angekommen. Mitten an Weihnachten. Irgendwo in einem Dorf.
Es ist ein Wunder.

IV.

Es ist ein Wunder.
Maria hält es in den Armen.
Ana spürt es auf der Haut.
Anas Großvater im Herzen.
Und die Hirten trauen ihren Augen nicht.
Ein Wunder, das die Menschen überfordert und verändert. Das die Seele heilt.
Ein Wunder, das allen gilt.

Es ist ein Wunder: voller Käseschmiere und nassen schwarzen Haaren.
Im Futtertrog. In einem Dorf irgendwo.
Dort, wo gelacht wird und geweint, gestritten und versöhnt.
Ein Wunder für die, die denken, dass sie es sowieso nicht verdienen.
Sie rechnen nicht damit, weil sie nicht so „wichtig“ sind wie Augustus oder Herodes.
Menschen wie die Hirten. Wie Maria. Oder wie Ana.
Irgendwo.

V.
Ja, es ist das Wunder Gottes, dass jeder Mensch liebenswert ist.
Du und ich und deine Nachbarin und das Kind in Kiew.
Ihr seid wert zu lieben. Zu achten.

Dieses Wunder Gottes glänzt in den Augen von Ana.
Es ist der Großvater, der in Anas Seele blickt und sieht, wie allein sie ist.
Und wie sehr sie sich danach sehnt, offen und frei zu leben, was sie ist.
Es ist Maria, die das runzlige Kind hält und wärmt und das Große und Weite sieht, was in ihm schlummert. Yes, Maria, you did know.
Es ist ihre Stimme, die sie erhoben hat, weil Gott es ihr zutraut.
Es ist der Mut der Hirten, auf einmal zu predigen.
Ja, sie haben was zu sagen, obwohl sie doch sonst nichts zu sagen haben.

Es ist der Engel, der zu ihnen sagt: Fürchtet euch nicht.
Denn heute ist der Heiland geboren. Geboren wie ihr. Geboren wie alle Menschenkinder.
Wunderbar gemacht, aber Gott sei Dank nicht perfekt.
Geliebt. Gewollt. Voller Sehnsucht.
Wie ihr. (2)


VI.

Ich wünsche dir dieses Wunder heute.
Ich wünsche dir, dass dich jemand in den Arm nimmt.
Dich ansieht, wie du gesehen werden willst.
Dass du spürst, wie sehr Gott dich lieb hat. Gerade dich.
Ich wünsche dir, dass du etwas erlebst, womit du nicht rechnest.
Irgendwo in Pforzheim: zuhause oder auf der Straße oder hier in den Bänken.
Ein Augenzwinkern vielleicht. Oder ein Lächeln. Oder ein Wort, ein Licht, ein Lied.
Eine Wärme, die sich wie eine Decke um deine Schultern legt.

Ich sehne mich nach diesem Wunder für die mutigen Frauen und Männer im Iran.
Dass sie leben dürfen, wie sie wollen. Frei und mutig und liebevoll.
Ich sehne mich nach diesem Wunder für die Menschen in der Ukraine.
Nicht die Herrscher Augustus und Herodes haben das Sagen,
sondern die Frauen, die ihre Haare wehen lassen und auf der Straße tanzen,
die Kinder in den U-Bahnhöfen Kiews, wo sie Schutz suchen –
und sie leben frei und müssen nicht mehr um ihr Leben fürchten.
Ja, nach diesem Wunder sehne ich mich.

Vielleicht überfordert es mich, mich und die Welt.
Aber wir brauchen dieses Wunder so sehr.

Ja, es ist dieses eine Wunder, das diese meine Sehnsucht weckt:
Das Wunder im Futtertrog irgendwo in Bethlehem -
mit Käseschmiere und rauher Stimme,
mit Tier-Atem und Armen, die es festhalten.

Es macht mein Herz weich, meine Augen hell und meinen Mut groß.
Ja, es ist ein Wunder. Ein Wunder auch für dich.
Amen.

(1) Der folgende Abschnitt erzählt das erwähnte Video nach. Zu sehen hier:
https://invidio.xamh.de/watch?v=oOVVgEtuybk

(2) Die kursiv gedruckten Worte habe ich mir von der wunderbaren Predigerin Birgit Mattausch ausgeliehen. https://frauauge.blogspot.com/2022/12/in-diesem-jahr-meine-kleine_25.html

Montag, 12. Dezember 2022

Stimmen und Einstimmen

Von Trost und Tränen, Sprachlosigkeit und Stimmen der Hoffnung

Predigt zu Jesaja 40, 1-11

I. Tränen

»Tröstet, tröstet mein Volk!«, spricht euer Gott.
Redet herzlich mit Jerusalem, sagt über die Stadt:
»Ihre Leidenszeit ist zu Ende,
ihre Schuld ist restlos abgezahlt.
Denn für all ihre Vergehen wurde sie vom Herrn doppelt bestraft.
«

Nimm sie in den Arm, Gott. Nimm sie in den Arm und halte sie fest.
Die Mütter und Töchter in Teheran, in Saqqez und Shiraz und Zahedan.
Erschossen, weil sie ihre Haare frei wehen lassen.
Die Eltern der 16jährigen Mahak Hashemi, die ihre Tochter nur schweigend begraben durften.
Die Großmutter von der 7jährigen Hasti Naroui: Sie ging mit ihr zum Freitagsgebet und konnte sie nach einem Tränengasangriff nur noch tot im Schoß wiegen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Und sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.

Nimm sie in den Arm, die Mütter und Töchter aus Kiew und Charkiw und Mariupol.
Die die Massengräber öffneten und ihre Söhne und Väter und Töchter identifizierten.
Die sich versteckten und doch gefunden wurden von den Folterern.
Die ihre Heimat verließen und nun hier um ihre Liebsten bangen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.

Ist sie zu Ende?
Nichts wünscht du dir sehnlicher.
Dass Gott auch zu dir herzlich spricht und dich in den Arm nimmt.
Weil auch du manchmal nicht weißt, wohin mit deiner Not.
Weil dich die Tränen der Frauen und Mädchen im Iran und in der Ukraine berühren.
Weil du mit der Großmutter von Hasti weinst.
Und weil deine ganze verdammte Ohnmacht dich erdrückt.

Und vielleicht singst du mit mir:
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal. (EG 7,4)

II. Wüstenbahn

Eine Stimme ruft: »Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn!
Ebnet unserem Gott in der Steppe eine Straße!
Alle Täler sollen aufgefüllt werden, Berge und Hügel abgetragen.
Das wellige Gelände soll eben werden und das hügelige Land flach.
Der Herr wird in seiner Herrlichkeit erscheinen, alle Menschen miteinander werden es sehen.
Denn der Herr selbst hat es gesagt.
«

Eine Stimme ruft: Gott kommt und verändert die Welt.
Gott kommt und alles gerät in Bewegung. Oder alles stoppt. Jedenfalls ist alles anders.
Gott stellt sich vor die russischen Panzer.
Gott nimmt ihren Hijab ab und tanzt auf der Straße.
Gott singt „Baraye“, aber verweigert die Nationalhymne eines Terrorregimes.

Gott ist da – gerade dort, wo du ihn nicht vermutest.
In der Wüste, im Stall, am Kreuz.
Gott steht am Fließband bei Amazon. Putzt die Schultoilette. Friert auf der Parkbank.
Trinkt müde einen Kaffee in der Cafeteria der Klinik, bevor es zur nächsten OP geht.
Gott kommt. Gott ist da. Und Gott sei Dank kann das niemand verhindern.

Ich höre diese Stimme. Du auch? Ich möchte dieser Stimme glauben. Mehr denn je.
Und auch wenn es mir schwer fällt, so singe ich leise (und du vielleicht mit):
Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht. (EG 16,5)

III. Kraftlosigkeit

Eine Stimme spricht: »Verkünde!«

Manchmal ist sie zu laut, diese Stimme vom Advent.
Manchmal will ich nichts als Stille. Alles scheint so vergeblich.

Ich fragte: »Was soll ich verkünden? Alle Menschen sind doch wie Gras.
In ihrer ganzen Sch
önheit gleichen sie den Blumen auf dem Feld.
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind des Herrn darüber weht.
Nichts als Gras ist das Volk!
«

Ich teile die Worte der Iranerinnen im Netz.
Aber wird es ihnen helfen? Ist das Regime nicht doch stärker?
Ich habe Decken für die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine zum Diakoniepunkt gebracht.
Aber was nützt das ihren Verwandten? 
Ich sehe, wie viel zu viele Menschen zu viel arbeiten.
Ich selber arbeite zu viel.
Will Hoffungsworte verkünden und mühe mich mit ihnen ab. Brauche selbst dafür zu viel Kraft.

Kennst du das?
Mich macht das müde. Und sprachlos. Mir fehlen die Worte.
Und es tut mir gut, auch dieses Fehlen in der Bibel zu finden.

IV. Stimme der Hoffnung

»Ja, das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit.«
Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin für die Stadt Zion!
Verkünde deine Botschaft mit kraftvoller Stimme, du Freudenbotin für Jerusalem!
Verkünde sie, hab keine Angst! Sprich zu den Städten Judas:
»Seht, da kommt euer Gott!

Hab keine Angst, sagt die Stimme.
Sei eine Freudenbotin. Verstumme nicht.
Wenn du kannst, sei laut.
Aber auch deine leise Stimme ist wichtig.
Vielleicht ist sie brüchig, heiser, zitternd.
Es ist deine Stimme, mit der du zu Gott betest.
Es ist deine Stimme, mit der du ein kleines gutes Wort sagst in einer Welt,
die diese guten kleinen Worte so nötig hat.
Es ist deine Stimme, die die Zwischentöne einbringt.
Hab keine Angst, sagt die Stimme.

Hörst du die Stimmen, die rufen: Frauen. Leben. Freiheit!?
Hast du die andere Stimme gehört, die einst rief: Ich habe einen Traum. I have a dream.
Vor 60 Jahren.
Die schwarze Stimme eines Predigers in der Wüste einer rassistischen Welt.
Martin Luther King:

Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erh
öht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.
Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück.
Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.

Sei Freudenbote. Sei Freudenbotin.
Hau einen Stein der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Das Wort unseres Gottes lässt sich nicht aufhalten.
Dass jeder Mensch ein Kind Gottes ist und unvergleichlich ist
und niemand niemand niemand das Recht hat, das anzuzweifeln –
das ist stärker als jede Verzweiflung, jedes Verstummen, jede Patrone.
Ein großes Wort. Ein kleines Wort.
Stark genug, um ewig zu sein und eine Welt zu verwandeln.
Licht in der Nacht.

Stimmst du mit ein?
Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht, es hat Hoffnung und Zukunft gebracht; es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis, Not und Ängsten, ist wie ein Stern in der Dunkelheit.

IV. Weitergehen

Tröste, tröste sie, Gott.
Nimm die Frauen und Töchter in den Arm, die in Teheran und Shiraz, in Mariupol und Charkiw.
Nimm Sabine in den Arm, die um ihre Mutter weint.
Und Frida, deren Opa zum Schluss niemanden mehr erkannte.
Trockne ihre Tränen. Schreie mit ihnen.
Tröste, tröste mich, Gott.
Gib mir meine Stimme zurück. Hilf mir, sie zu erheben.
Für sie. Für die Welt. Für dich.

Seht, Gott, der Herr! Er kommt mit aller Macht und herrscht mit starker Hand.
Seht, mit ihm kommt sein Volk! Die er befreit hat, ziehen vor ihm her.
Wie ein Hirte weidet er seine Herde:
Die Lämmer nimmt er auf seinen Arm
und trägt sie an seiner Brust.
Die Muttertiere führt er sicher.
«

Darauf hoffe ich, Gott.
Mit dir zünde ich die 3. Kerze heute an.
Mit dir gehe ich durch die Wüste.
Mit dir flüstere ich das kleine, unscheinbare Wort, das so viel Kraft hat.
Mit dir haue ich die Steine der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Mit dir träume ich von einer Welt,
die Platz hat für wehende Haare in Teheran, Frieden in der Ukraine und sichere Häfen für alle.
Von einer Welt, in der auch die kleine, leise Stimme des Friedenskindes gehört wird.

Und mit dir stimme ich an:
Peacechild, in the sleep of the night, in the dark before light you come, in the silence of stars, in the violence of wars
Savior, your name.

Amen.

Montag, 5. Dezember 2022

Liebe und Frühling im Winter

Von Barbara, Blütenzweigen, Liebespaaren und einem Gott voller Sehnsucht

Predigt zum Hohelied 2, 8 - 13 am 2. Advent

(mit großem Dank an Kathrin Oxen, deren Predigtentwurf die Grundlage für meine Predigt war. Link s.u.)

I. Barbara: passt nicht


Barbara weiß, was sie will und was nicht.
Jesus will sie. Heiraten will sie nicht. Und das geht in ihrer Zeit gar nicht.  Wie es genau mit ihr war, weiß niemand. Vielleicht gab es sie auch gar nicht. Aber es gibt ihre Geschichte. Und deswegen ist heute ihr Tag: Der Tag der Heiligen Barbara, schön und klug. Immer müssen die schönen und klugen Jungfrauen sterben in solchen Heiligengeschichten. Weil es noch nie jemand aushalten konnte, wenn Frauen schön und klug zugleich sind?

In Barbaras Fall ist es ihr Vater. Er kann nicht ertragen, dass sie zu keinem Mann gehören will, bloß zu Jesus. Und da lässt er sie in einen Turm sperren, wo sie auf ihre Hinrichtung warten muss. Auf dem Weg in den Turm verfängt sich ein trockener Zweig in ihrem Gewand. Den stellt sie in ihren Becher. Und er blüht an dem Tag, als sie stirbt.
Der Barbarazweig.

Eine Geschichte voller unpassender Sehnsucht. Barbara sehnt sich danach, ein eigenes Leben zu leben und nicht den Erwartungen anderer zu gehorchen. Überhaupt nach Leben, blühendem Leben, auch und gerade, als sich alles um sie herum dunkel und tot und ohne Ausweg anfühlt. Sie sehnt sich nach Frühling und Liebe in Tod und Winter.

Mit Heiligen haben wir es in der evangelischen Kirche ja nicht so. Selbst die katholische Kirche hat Barbara inzwischen aus ihrem Heiligenkalender aussortiert. Aber die Sehnsucht lässt sich weder wegsperren noch aussortieren. Sie dringt noch durch die kleinsten Ritzen von Mauern und Fenstern und verschlossenen Türen. Sie blüht, auch im Dezember.

II. Hohelied: zwei, die zusammen passen

Er weiß, was er will - oder besser: wen er will und wer zu ihm passt. Sulamit, die schöne Geliebte. Und Sulamit weiß, wen sie will: ihren Geliebten, niemanden sonst. Ihre Sehnsucht macht die beiden Verliebten schier wahnsinnig und lässt Worte aus ihrem Herzen fließen ohne Scham, ohne Scheu, voller Poesie. Diese Worte haben ihren Platz in unserer Bibel gefunden.
Hören wir auf sie im Hohelied:

Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon!
Er springt über die Berge, hüpft herbei über die Hügel.
Mein Liebster gleicht der Gazelle oder einem jungen Hirsch.
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter.
Mein Liebster redet mir zu:
»Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!
Denn der Winter ist vorüber, der Regen vorbei, er hat sich verzogen.
Blumen sprießen schon aus dem Boden, die Zeit des Frühlings ist gekommen.
Turteltauben hört man in unserem Land.
Der Feigenbaum lässt seine Früchte reifen. Die Reben blühn, verströmen ihren Duft.
Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!


III. Worte, die nicht passen

Worte voller Sehnsucht im Advent.
Nun ja, denkst du vielleicht: Das kenn ich gut. Verliebt und voller Sehnsucht. Jede Faser deines Körpers tut weh und will berührt werden von ihm, von ihr, von diesem zauberhaften Wesen, das sich in dein Herz gestohlen hat. Aber ehrlich: was hat das mit Advent zu tun?

Vielleicht denkst du: So ein Liebeslied, das vom Frühling erzählt, von sexueller Leidenschaft, von großem Verliebtsein, das passt doch nicht hierher. Und übrigens haben wir Dezember.
Und du hast recht. Erstaunlich, dass dieses Lied einen Platz in der Bibel bekommen hat. Da ist noch nichtmal von Gott die Rede. Irgendwann geriet das Lied der Liebeslieder in das Buch der Bücher. Wie genau, das bleibt ein Geheimnis.
Ich bekenne: ich bin Gott froh darüber. Ich bin froh, dass auch die Leidenschaft, die sich an keine Regeln hält, Teil der Bibel ist.

Die jüdische Tradition hat daraus eine Leidenschaft zwischen Gott und seinem Volk Israel gemacht. Die christliche Tradition hat das übertragen auf Christus und die Kirche. Und ich vermute, wenn es Barbara gegeben hat, hat sie es genauso gelesen: Christus ist ihr Geliebter, der sich nach ihr verzehrt. Und sie sich nach ihm. Nur er ist wichtig. Niemand sonst.

Und ja, mit dieser Übertragung hat man alles Anstößige rausgenommen. Die Sexualität wurde verbannt aus der Bibel. Besonders im Christentum. Dass es mitten in der Bibel Szenen gibt, die davon erzählen, dass es Sex außerhalb der Ehe gibt - puh, da hat man lieber nicht hingeschaut.

Deshalb ist es gut, diese Lieder der Lieder auch als das zu sehen, was sie sind: orientalische erotische Lyrik - mit allem, was dazu gehört. Und das ganze Buch riecht nach Thymian und Lavendel, nach Wein und Heu und Feigen, nach Sex, Schweiß, Parfum und Bettlaken.
Und das passt in die Bibel. Punkt.

IV. Gottes Liebeslied: passt zum Advent

Ja, es ist ein Liebeslied. Ein Lied von Frühling und Liebe. Durch und durch menschlich.
Und gerade deshalb ist auch ein Liebeslied Gottes, ein adventliches Liebeslied:
Hör ich da nicht meinen Liebsten? Ja, da kommt er auch schon!
Schon steht er an unserer Hauswand.
Er schaut durch das Fenster herein, späht durch das Fenstergitter.


Probiere es aus. Höre es dann doch mal als Liebeslied Gottes:
Gott ist wie ein junger Mann, der weiß, was er will, wen er will. Er hat es eilig, zu seiner Freundin zu kommen, so wie es alle jungen Männer immer eilig haben, zu ihrer Freundin zu kommen. Oder besser: Alle, die lieben, zu denen, die sie lieben.
Wie eine Gazelle, wie ein Hirsch kommt Gott. Mühelos überwindet er die Berge und die Hügel, so jung und voller Kraft. Springend und hüpfend kommt Gott, als Überschuss an Kraft und Leben.
Still steht Gott erst vor dem Haus der Geliebten, an ihrer Tür oder vor ihrem Fenster. Gott bleibt stehen an dem Ort, wo sich die Geliebten, die Liebhaber immer schon eingefunden haben, wo schon seit Jahrtausenden ihr Ort war. Wo er immer sein wird.

Und dann ist da nur noch die Tür zwischen den beiden. Die Geliebte riecht ihn förmlich, seinen Körper. Es braucht kein Zeichen mehr, kein Klopfen oder Rufen. Denn sie kommt ihm ja schon entgegen und öffnet ihm mehr als nur eine Tür.

Eine Szene, so alt wie die Welt und das Leben: Es kommt einer, der will nur zu mir. Kommt über die Berge und Hügel, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit der U-Bahn. Kommt und steht vor meiner Tür, mit Wind in den Haaren und dem Geruch von draußen in seiner Jacke und will zu mir.

Wie in dem Film „Tatsächlich Liebe“, wo Jamie wochenlang portugiesisch lernt, dann am heiligen Abend nach Marseille fliegt, statt mit seiner Familie zu feiern, und seiner Aurelia mitten im Restaurant einen Heiratsantrag macht.

Tatsächlich Liebe. Tatsächlich ist Gott diese Liebe - der Winter ist vorbei und es ist Frühling. Ganz egal, ob es draußen wirklich Frühling ist. Auch egal, ob es gerade der Frühling meines Lebens ist oder sein Sommer, Herbst oder Winter. Denn es kommt einer, der will nur zu mir.
Und er redet mir zu: »Schnell, meine Freundin, meine Schöne, komm doch heraus!

V. Unpassende wilde Liebe

Ein Lied vom Frühling und von der Liebe.
Ein Adventslied von einem leidenschaftlichen Gott, der sich nach dir sehnt, der weiß, was er will.

Dass er die Liebe ist, das hast du bestimmt schon oft gehört. Aber nicht so, oder?
Vielleicht eher wie eine Liebe nach vielen gemeinsamen Jahren, an einem Tisch, in einem Bett, auf einem Sofa vor einem Fernseher: Ich kenne dich gut. Bei mir kannst du sein, wie du wirklich bist. Zu mir kannst du immer zurückkommen. Und ja, das hat seinen Wert.

Aber Gott als Geliebter, als Liebhaber? Gott will nur zu dir, kann es nicht erwarten, bei dir zu sein und ruft dich: Schnell, meine Schöne, komm! Dass das einer zu dir sagt und es wirklich so meint. Dass der Frühling wiederkommt, wo schon lange Winter ist. Passt das?

Ja, Gottes Liebe ist auch zahm und fürsorglich, aber heute ist sie die junge und wilde Liebe, wie ein junger Mann mit zu viel Kraft und Wind in den Haaren. Mit Gerechtigkeitsempfinden und Leidenschaft für die Schwachen. Leidenschaft für dich.
Gott steht gleich hinter der Wand, weil er bei dir sein will, nur bei dir. Er riecht nach Thymian und Lavendel, Wein und Heu, Feigen und Schweiß und er lernt portugiesisch - nur für dich.

VI. Es passt

Passt das in die Kirche? Passt das in den Advent? Ein Lied von Frühling und Liebe?
Wir haben übrigens Anfang Dezember, sagst du. Und Angst, dass es wieder ewig dauert mit dem Frühling. Oder irgendwann sowieso vorbei ist damit, weil wir die Welt verkommen lassen und zerstören.

Man kann sich einmauern lassen von solchen Gedanken, wie Barbara in ihren Turm. Aber man sollte es nicht auch noch selber tun, dieses Einmauern.

Barbara hat in ihren Turm ein drittes Fenster brechen lassen. Das erzählt eine andere Geschichte von ihr. Ihr Vater hat getobt. Denn dies war ein Zeichen für den dreieinigen Gott, für Gottes unterschiedlichen Gestalten, bekannt und vertraut und wild und jung und voller Sehnsucht. Sieh, da steht er hinter unserer Mauer, schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter.

Gott weiß, was er will.
Gott will dich.
Und darum singt er ein Lied voller Liebe. Menschlich und göttlich zugleich.
Und die Geschichte von dem Zweig, der mitten im Winter blüht, sie erzählt von diesem Gott:
er steht vor deiner Tür. Mach ihm auf.

Amen

*Kathrins wunderbare Predigt ist nachzulesen unter: Nachzulesen unter https://www.facebook.com/kathrin.oxen/posts/pfbid0bmjZLaW6pRvb9mkjktaJoUNs7et32Y3AomPDQvnGXpGNe1MDzngZt9vEFUa1mYsSl

Mittwoch, 16. November 2022

Schaut nicht weg! Hört ihr Flehen!

Von einer toughen Witwe, iranischen Frauen und Männern, jüdischen Familien und der "Letzten Generation"

Predigt zu Lukas 18,1-8

Jesus erzählte er seinen Jüngern ein Gleichnis: »In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende nocheinen Schlag ins Gesicht.‹«

Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehrdenen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt,wird er so einen Glauben auf der Erde finden?«


 I. Toughe Witwe

Sie hat nichts mehr zu verlieren. Die Witwe, von der Jesus erzählt.
Sie kämpft um ihre Existenz, um ihr Überleben. Denn Witwen zur Zeit von Jesus haben nichts. Sie sind darauf angewiesen, dass die Familie sie unterstützt. Offenbar funktioniert das hier aber nicht. Vielleicht will ihr jemand das letzte Stück Land nehmen. Oder ihr Haus. Wie auch immer: Sie besteht auf ihr Recht. Offensichtlich ist das nötig. "Ich lass mich hier nicht abspeisen. Schon gar nicht von so einem Richter, der skrupellos und willkürlich zu sein scheint."
Ihre Nachbarinnen lachen sie vielleicht aus.  Ihre männlichen Verwandten lästern über sie (die ist ja hysterisch) oder verbieten ihr den Mund, wie es damals üblich war. Frau, schweig. Aber sie hat nichts zu verlieren.
Eine toughe Frau. Eine die sich zeigt und die laut ist und anstrengend. Und vermutlich richtig unangenehm. Und der Richter? Irgendwann gibt er klein bei.
Diese Witwe ist mir lästig. Darum will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen.
Und endlich sieht und hört er auf sie.

II. Frauen, Leben, Freiheit

Sie haben nichts mehr zu verlieren. Sie rennen auf die Straßen, springen auf Mauern, tanzen in der U-Bahn und reißen sich die Kopftücher von den Haaren. Sie schneiden sich die Haare ab, singen laut den Song Baraye, setzen Fotos und Videos ins Netz und niemand kann sie aufhalten. Kein Polizist, kein Militär, kein Gefängnis, kein Richter, kein Parlament. Die Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche, Studierende, Arbeitende, Alte, Mütter und Väter, Söhne und Töchter im Iran: Frauen, Leben, Freiheit skandieren sie.
Und sie flehen und bitten mit dem jungen Shervin für alles, was mir so selbstverständlich ist. Für die Angst sich zu küssen. Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben. Für das Kind, das im Müll wühlt, und für seine Träume. Für diejenigen, die im Gefängnis sind. Für das Mädchen, das sich wünschte ein Junge zu sein.
Freiheit. Azadi. Sie sprühen es auf die Wände, malen es auf die Spiegel der Toiletten, auf ihre Haut, auf die Autos. Dichten dichte Worte. „Dass der Wind auf der Straße durch meine Haare weht, ist mein Recht“.
Wir wollen unser Recht auf Leben, auf unsere Würde. Rufen sie. Und mit weniger geben wir uns nicht mehr zufrieden. Lassen uns nicht mehr abspeisen. Und lassen uns nicht mehr unsichtbar machen.
Schaut nicht weg. Seht hin. Verbreitet die Videos und Fotos auf der ganzen Welt.
Und ja, sie haben unser aller Sympathie. Aber reicht das?

III. Hinschauen

Vor über 80 Jahren haben unsere Vorfahren weggeschaut. Und weggehört. Als die Synagoge in der Zerrennerstraße in Brand gesteckt wurde, als der jüdische Professor Berufsverbot bekam, als die jüdische Familie aus ihrer Wohnung vertrieben wurde und nach Gurs verschleppt wurden. Ihr Weinen wurde nicht gehört. Ihr Bitten. Ihr Flehen. Und die meisten schwiegen.

Heute schweigen wir nicht. Hören wir von 2 Familien (1):

Hermann Reinheimer, geb. 1878 in Habitzheim, wuchs in einer jüdischen Familie auf und war ab 1911 Metzgermeister in Pforzheim. Er war verheiratet mit Mina, geb. Löwenstein aus Weingarten. Die beiden hatten einen Sohn, Werner Siegfried.
Ab 1935 konnte Hermann Reinheimer die Großmetzgerei nicht mehr betreiben, da ihm auf behördliche Anweisung hin keine Tiere mehr verkauft werden durften.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde er von der Gestapo aus der Wohnung gezerrt und schwer misshandelt. Seine Frau Mina versorgt den schwer misshandelten Ehemann und flieht mit ihm im Januar 1939  über Hamburg nach Brasilien, wohin der Sohn schon 1935 geflohen war. Als Folge der Misshandlungen erblindet Hermann Reinheimer 1949 völlig. Er stirbt am 4. März 1958 in Sao Paulo. Weiteres ist zum Schicksal der Familie nicht bekannt.

Friedrich Meier wurde 1886 in Nonnenweier bei Lahr geboren. Er wuchs als Jude auf und zog als junger Mann nach Pforzheim und heiratete Nelly … Zwei Kinder wurden in den folgenden Jahren geboren, welche Martin und Amalie hießen.
Er führte ein größeres Textilgeschäft in der Deimlingstraße. Als die Nazis kamen, musste er 1936 sein Geschäft aufgeben und versuchte dann, von Zuhause aus das Geschäft zu erhalten. Am 22. Oktober 1940 wurde er mit seiner Familie aus der Wohnung gezerrt und nach Gurs in Frankreich deportiert. Vom Internierungslager Drancy wurde er am 17. August 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet.


Schaut nicht weg. Seht hin!
Und darum wurden für die Familien Meier und Reinheim Stolpersteine verlegt, ganz hier in der Nähe, wie weitere über 300 Stolpersteine in der ganzen Stadt.
Damit wir hinsehen. Nicht mehr wegschauen. Nie mehr.
Damit wir das, was ihnen angetan wurde, nicht verschweigen.
Damit wir sie ins Recht setzen: ihren Namen nennen, der ausgelöscht werden sollte.
Damit wir eine Stimme sind für die Gedemütigten und Verfolgten.
Eine Stimme für die, die sich nicht so wehren können wie die Witwe, von der Jesus erzählt.
Eine Stimme für die, die unsere Unterstützung brauchen.

IV. Ermutigen

Gott schaut hin. Und Gott hört hin. Er ist nicht wie dieser Richter, von dem Jesus erzählt.
Darum holt er sein Volk aus Ägypten heraus. Er lässt nicht zu, dass es weiterhin gedemütigt wird. Und sein Volk schafft die Flucht, weil es Menschen gibt, die sich vom Pharao und seinen Soldaten nicht einschüchtern lassen. Gott ermutigt sie dazu.

V. Letzte Generation

23 Jahre ist sie alt. Aimee van Baalen. Für Fridays for future hat sie sich engagiert und merkt: viele schöne Worte, aber es passiert nichts. Die Erwachsenen hören uns nicht zu. Sie ignorieren uns. Sie ignorieren, dass wir keine Zeit mehr zu verlieren haben. Aimee hat nun ihren Job aufgegeben für die Zukunft unserer Welt, für ihre Zukunft. Geht dafür ins Gefängnis und riskiert sogar ihr Leben. Aimee ist Aktivistin der „Letzen Generation“.

Ja, die jungen Frauen und Männer der letzten Generation sind überzeugt: sie haben nichts mehr zu verlieren - wenn sich nicht jetzt was tut, dann ist es zu spät. Dann kippt das Klima und 4 Milliarden Menschen werden nicht mehr dort existieren können, wo sie jetzt leben.

Darum ketten sich Aimee und Samuel und Lotta an Rathaustore, kleben sich an Brückengeländer fest, blockieren Autobahnen, werfen Kartoffelbrei gegen ein mit Glas gesichertes Gemälde von Monet. Sie lassen sich beschimpfen, auslachen, machen sich unbeliebt. Und vorletzte Woche geschah etwas Furchtbares in Berlin: eine Radfahrerin von einem Betonmischer ist überfahren worden und ums Leben gekommen. Es gab einen Stau auf der A100, der von den viel zu vielen Autos, aber auch von 2 Aktivisten der letzten Generation auf einer Brücke mitverursacht wurde.
Obwohl der Fall noch nicht aufgeklärt ist, stürzen sich nun alle auf die Letzte Generation: Klimaterroristen, Klima-RAF, Klimasekte - und die bayrische Landesregierung nimmt Aktivisten und Aktivistinnen schon mal unverurteilt in Vorbeugehaft.

Aimee war letzten Dienstag in Magdeburg und sprach zu über 120 Synodalen der Evangelischen Kirche in Deutschland. Eingeladen von der Präsidentin der Synode, Anna-Nicole Heinrich, auch erst 26 Jahre alt. Und Aimee redet den Kirchenleuten ins Gewissen (2):

„Es ist an der Zeit Risiken einzugehen. Denn jetzt zu schweigen ist das größte Risiko von allen. (…)
Letztendlich war Jesus selbst ein Widerständler, der sich gesellschaftlichen Regeln und Normen entgegensetzte, wenn seine moralische Pflicht es verlangte. Er setzte sich immer für unterprivilegierte Menschen ein und riskierte letztendlich dafür den Tod. (…)
Wir brauchen die Hilfe der Evangelischen Kirche. SIE haben die Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben für die Menschen im Globalen Süden und auch hier in Deutschland. Fordern Sie die Regierung auf, sich an ihre eigenen Klimaziele und das Grundgesetz zu halten! Unterstützen Sie uns! […]
Wir müssen uns jetzt trauen, etwas zu sagen, auch wenn es nicht einfach ist, sonst lassen wir Milliarden Menschen weltweit und die junge Generation im Stich. Wir als junge Generation brauchen Sie als Institution Kirche, aber auch als Einzelpersonen. Brechen Sie ihr Schweigen! Wir brauchen Sie, nicht nur um das Hoffen, sondern auch das Fordern einer lebenswerten und gerechten Zukunft aufrechtzuerhalten. Helfen Sie uns bitte!“



VI. Zum Recht verhelfen

Wir könnten jetzt diskutieren, ob wir die Maßnahmen der Letzten Generation richtig finden oder nicht oder gar für gefährlich. Aber viel wichtiger ist doch die Frage an uns:
Hören wir ihr Flehen? Sehen wir hin?
Es geht um das Recht der Jungen auf eine lebenswerte Zukunft. Um das Recht der Armen auf Nahrung, Wasser, Land. Es geht um die Noch nicht geborenen. Um ihr Leben.

Ich bin überzeugt, Jesus stellt sich an ihre Seite - so wie er sich an die Seite der mutigen Frauen und Männer im Iran stellt. Sonst stünde dieses Gleichnis von der Witwe nicht in der Bibel. Eine Witwe, die dem Richter so lästig ist, wie die Letzte Generation den Autofahrern und die iranischen Frauen dem Mullahregime. Eine Witwe, die genauso wenig zu verlieren hat wie Aimee in Deutschland und Shervin im Iran. Stellen wir uns an ihre Seite. Hören wir hin. Und schauen wir hin. Wie auf die Stolpersteine.

Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden?«

Amen.

(1) Die Konfirmanden und Konfirmandinnen der Friedensgemeinde hatten sich am Tag vor dem Gottesdienst mit den Stolpersteinen in Pforzheim auseinandergesetzt und die Kurzbiographien der beiden genannten Familien auf diese Weise zusammengefasst.

(2) Nach zu hören unter https://www.youtube.com/watch?v=zR-bF2JA1N0&fbclid=IwAR1tVlBYonZ1s27SjjRNpsq9Mikz_Y9nm8UILZOmh6yBCz73dypfqcRt51A


Sonntag, 25. September 2022

Unperfekte Supergirls und -boys

Von Fanny, Tilda, Oskar und Paulus

Predigt zu Brief an die Galater 5,25 – 6,10

(kursiv gesetzte Zitate sind dem Predigttext entnommen)


1. Anders sein

Fanny isst gerne Vanille-Eis. Sie kennt die Geschichten von Superman auswendig und weiß, dass er un1d seine Cousine von einem anderen Planeten, vom Krypton kommt. Morgens ist Fanny immer Müsli, in die Schule nimmt sie immer ein Toastbrot mit - mit Butter von Sommerglück - und eine Karotte in Folie eingewickelt. Mittags isst sie immer Nudeln von Giulia mit Ketchup von Hans. Und nur das. Zur Not geht auch Vanilleeis.

Fanny hasst es, wenn jemand lügt. Sie erträgt es nicht, wenn man sie anfasst ohne sie zu fragen. Sie liebt das Lied von der Biene Maja und denkt viel nach. Sie versucht die Menschen um sich herum zu verstehen, aber es gelingt ihr nicht. Sie will ihnen glauben, dass sie es gut mit ihr meinen. Aber oft tun sie es nicht. Die Nachbarskinder mobben sie und lachen: Hey, Fanny, wie siehst du denn heute aus? Und dann verzweifelt sie, weiß aber nicht, was sie tun kann. Wenn sie nicht mehr weiterweiß, krabbelt sie unter die Matratze ihres Betts und klopft auf den Bettrahmen, dreht das Lied von der Biene Maja laut auf. Oder sie geht in den Bauwagen, der im Garten steht. Dort sind alle ihre Superman-Bücher. 
Fanny ist 8 Jahre alt und sie ist autistisch.

Ein jeder wird seine eigene Last tragen.

2. Normal sein wollen

Seit über einem Jahr trägt Fanny einen Supergirl-Anzug, den ihr ihre Mutter zum Fasching genäht hatte. Und sie trägt nur den.
Fanny weiß, dass sie anders ist als die anderen Kinder. Sie will so sein wie sie. Aber sie kann es nicht. Und so ist sie für die anderen zwar keine Systemsprengerin, aber ein Fehler im System. Wegen ihr muss die Lehrerin manchmal den Unterricht unterbrechen. Und die anderen Kinder lachen über ihren Anzug. Eines Tages kommt sie im Schlafanzug in die Schule, weil ihre Eltern sie baten, mal was anderes anzuziehen. Da lachten sie noch mehr. In der Schule hat Fanny aber keine Matratze, unter die sie krabbeln kann.

Der Vater hat einen guten Job, ist dadurch aber viel weg. Wenn er zuhause ist, ist er derjenige, der mit Fanny reden kann und er bringt Ruhe hinein. Aber meistens ist die Mutter, Tilda, alleine zuständig. Sie war mal Flugbegleitering. Nun arbeitet sie bei einer Autovermietung und sorgt dafür, dass Fanny den Rhythmus hat, den sie braucht - und sie versucht sie zu schützen. Und hat das Gefühl, sie ist die einzige, die das tut.

Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

3. Alles richtig machen

Fannys Mutter Tilda sträubt sich heftig gegen professionelle Hilfe. Sie hat Angst vor Psychologinnen und Psychiatern, weil ihre eigene Mutter psychisch krank war. Sie will alles richtig machen, will, dass alles „normal“ ist. Tilda setzt sich dadurch unter so großen Druck, dass sie selber immer öfter zusammenbricht. „Ich will endlich mal was tun, was ich richtig gut kann,“ sagt sie zu ihrem Mann. „Mutter sein kann ich nicht. Aber in meinem früheren Beruf Flugbegleiterin - da war ich richtig gut.“

Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

4. Gemeinde sein

Alles richtig machen - das wollen die Christen und Christinnen in Galatien auch. Sie wollen gleich sein, wollen sich an die Regeln halten, die es seit jeher für Gottgläubige gab. Beschneidung, Essen, Fasten - alles, was es so gab, um dazu zu gehören. So war halt das System.

Paulus hält das für falsch. Niemand soll er erst Jude werden müssen, um Christ zu sein. Die Christen und Christinnen sollen unterschiedlich sein dürfen. Es sind ja Sklavinnen und Bürger, Frauen und Männer, Familienoberhäupter und Kinder, Schwarze und Weiße. Niemand von ihnen ist wichtiger oder besser als die anderen. Die Hierarchien, die sie aus ihrer Umwelt kennen, die soll es in der Gemeinde nicht geben. Die weltlichen Maßstäbe zählen nicht. Was zählt, ist: wir müssen gar nichts tun, um liebenswert zu sein, um richtig zu sein. Jeder und jede ist ein Geschenk Gottes - wertvoll und von Gott geliebt. Gehört zu Gott. Mit Geist erfüllt.

Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.

Wer glaubt, er oder sie ist die einzige und müsse alles alleine können, täuscht sich. Und überfordert sich selbst. Wie Tilda. Gefangen in einem Teufelskreis aus Normalseinwollen und alles richtigmachen und Druck von außen und sich nicht helfen lassen können. Wie gut kenne ich das von mir.

Gott hat dich lieb, so wie du bist. Sagt Paulus zu Tilda.
Gott hat dich lieb, so wie du bist. Sagt Paulus zu Fanny.
Gott hat Fanny lieb, so wie sie ist. Sagt Paulus zu Tilda und zu den Nachbarskindern.
Seid füreinander da. Ihr braucht euch doch. Niemand muss es alleine schaffen. Niemand kann es alleine schaffen. Zeigt das, sagt Paulus. Zeigt, wie gut ihr euch ergänzt. Zeigt, dass ihr Gottes Kinder seid. Unterstützt euch. Stärkt euch und tragt eure Lasten gemeinsam.

Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden;
denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen.



5. Füreinander da sein

Eines Morgens trifft Fanny in ihrem Bauwagen auf einen alten Mann. Es ist Oskar, ihr Opa. Ihre Mutter Tilda hat ihr nie was von einem Opa erzählt, denn sie schämt sich für ihren Vater und ist wütend auf ihn. Er hat sie in Stich gelassen und ist dann sogar noch im Gefängnis gelandet. Wegen Unterschlagung. Ein Hochstapler ist Oskar. Einer, der gerne Geschichten erzählt und die Wirklichkeit gekonnt ignoriert. Nun ist er aus dem Gefängnis entlassen und steht alleine da. Ein Außenseiter. Einer, dem es nichts ausmacht, im Bademantel durch die Stadt zu laufen oder die spießige Nachbarin vorzuführen.
„Ich habe keinen Opa“, sagt Fanny zu dem alten Mann. Also stellt er sich als Professor Krypton vor. Er erkennt sofort, dass Fanny ein besonderes Kind ist, ein Supergirl, wie von einem anderen Planeten. Und irgendwie scheint auch er von einem anderen Stern zu kommen. Warum also nicht von Krypton, wie Superman? Fanny akzeptiert das - und die beiden freunden sich an.

Natürlich bekommt das irgendwann auch Tilda mit. Nach dem ersten Entsetzen sieht sie die Chance, mit Oskars Hilfe wieder in ihren Beruf einzusteigen. Oskar kann ja für ein paar Tage auf Fanny aufpassen. Natürlich geht dann alles drunter und drüber. Zwei Außerirdische, die sich nicht an die Normen halten. Sie kaufen mit Tüten auf dem Kopf ein, setzen Sonnenbrillen im Schatten auf, essen Vanilleeis zu Mittag und wollen das Supertalent von Fanny herausfinden.

Oskar ist aber für Fanny endlich einer, der sie nicht nur akzeptiert, sondern weiß, dass sie was zu bieten hat. So wie sie ist. Und er schafft es, auch die anderen Kinder davon zu überzeugen.
Und Fanny ist für Oskar endlich eine, die ihn nicht ändern will, sondern der er helfen kann - mit seiner Begabung Geschichten zu erfinden. Er hat ja nicht mehr viel Zeit, weil er alt ist.

Einer trage des anderen Last.

Und Tilda: sie kann endlich akzeptieren, dass ihr Kind anders ist und dass sie als Familie nicht „normal“ sein müssen. Sie akzeptiert endlich, dass andere es genauso gut machen können, auch wenn sie es ganz anders tun. Nicht nur sie weiß, was für Fanny gut ist. Und als sie das akzeptiert, findet sie ihre Freiheit wieder.


6. Im Geist leben

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.

Oskar, das Schlitzohr und Fanny Supergirl - so heißt der Film, den ich euch gerade erzählt habe. Und er handelt von uns - von unperfekten Supergirls und Superboys.

Wir sind Gottes Kinder. Wir sind Fanny und Oskar und Tilda. Gott hat uns lieb, so wie wir sind. Wir brauchen nicht stärker oder besser oder normaler zu sein. Feiern wir unsere Vielfalt. Lasst uns nicht irgendwelche Normen erfüllen oder gar noch Schranken aufbauen, wer dazu gehört und wer nicht. Laden wir die anderen Fannys und Oskars und Tildas ein – hier in die Kirche. Oder noch besser: gehen wir mit einem Tisch raus und laden die ein, die da noch in unserer Stadt unterwegs sind: die mit den Tüten auf den Kopf und den Sonnenbrillen im Schatten.

Wir gehören doch zusammen, wir Gottes Kinder. Und wir brauchen uns. Lasst uns unsere Lasten gemeinsam tragen. Teilen wir unsere Sorgen. Unterstützen wir uns und ganz besonders die, die unter ihrer Last zusammenbrechen. Am himmlischen Tisch haben wir alle unseren Platz. Da können wir ausruhen und verrückte Pläne aushecken. Pläne wie von einem andere Stern. Und ganz oben - am oberen Ende vom Tisch - da sitzt der, der für uns da ist: Jesus. Und er nimmt uns alle Last ab.

Amen.



Sonntag, 11. September 2022

Ich bin dann mal weg - zwei Gottsucher, die Gott finden und überrascht werden

Predigt zu Elija und Hape Kerkeling*

1.Teil: Elija

Sein Name ist Programm.  Elija - das heißt: Mein Gott ist allein Jahwe, niemand sonst.
Und dafür tritt er vor gut 2.800 Jahren ein, wie keiner sonst -
dafür nimmt er sogar blutige Opfer in Kauf.
Heute würden wir ihn als Fanatiker sehen, und in der Tat geht es für ihn um Leben oder Tod.
Es gibt nur ein Entweder-Oder, keine Zwischentöne. Kennen wir gerade, nicht wahr?
Jedenfalls gibt ihm dieses Entweder-Oder Power,
so viel, dass er als Sieger gegen seine Gegner, die Baalspriester, hervorgeht.
Aber dann geht er zu weit und lässt sie umbringen.
Das Ringen um die göttliche Wahrheit endet mit einem Blutbad.
Auch das kommt mir bekannt vor. 


Nun ist Elija selbst in einer schwierigen Lage.
Klar, dass die Königin Isebel auf der Gegnerseite diese Taten nicht ungesühnt lassen will.
„Das lasse ich mir nicht gefallen“ - lässt sie ihm ausrichten.
„Ich werde mich an dir rächen, spätestens morgen.“
Elija bangt um sein Leben.

Hört selbst, wie es im 1.Buch der Könige geschrieben steht:
Da packte Elija die Angst, und er floh, um sein Leben zu retten. In Beerscheba an der Südgrenze von Juda ließ er seinen Diener zurück und wanderte allein weiter, einen Tag lang nach Süden in die Steppe hinein. Dann setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod herbei. „Herr, ich kann nicht mehr“, sagte er. „Lass mich sterben! Ich bin nicht besser als meine Vorfahren.“ Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein.
    Aber ein Engel kam und weckte ihn und sagte: „Steh auf und iss!" Als Elija sich umschaute, entdeckte er hinter seinem Kopf ein frisches Fladenbrot und einen Krug mit Wasser. Er aß und trank und legte sich wieder schlafen. Aber der Engel des Herrn weckte ihn noch einmal und sagte: „Steh auf und iss! Du hast einen weiten Weg vor dir!“ Elija stand auf, aß und trank und machte sich auf den Weg. Er war so gestärkt, dass er 40 Tage und Nächte ununterbrochen wanderte, bis er zum Berg Gottes, dem Horeb kam. Dort ging er in die Höhle hinein und wollte sich darin schlafen legen.
    Da hörte er plötzlich die Stimme des Herrn: „Elija, was willst du hier?“ Elija antwortete: „Herr, ich habe mich leidenschaftlich für dich, den Gott Israels und der ganzen Welt, eingesetzt; denn die Leute von Israel haben den Bund gebrochen, den du mit ihnen geschlossen hast... Nun bin ich allein übriggeblieben, und nun wollen sie auch mich noch töten.“
   Der Herr sagte: „ Komm aus der Höhle und tritt auf den Berg vor mich hin! Ich werde an dir vorübergehen!“ Da kam ein Sturm, der an der Bergwand rüttelte, dass die Felsbrocken flogen. Aber der Herr war nicht im Sturm. Als der Sturm vorüber war, kam ein starkes Erdbeben. Aber der Herr war nicht im Erdbeben. Als das Beben vorüber war, kam ein loderndes Feuer. Aber der Herr war nicht im Feuer. Als das Feuer vorüber war, kam ein ganz leiser Hauch. Da verhüllte Elija sein Gesicht mit dem Mantel, trat vor und stellte sich in den Eingang der Höhle. Und Gott sprach zu ihm: „Geh den Weg zurück, den du gekommen bist!“ (1. Könige 19)


2.Teil: Kerkeling und der Camino

Sein Name steht für Programm. Hape Kerkeling steht für Unterhaltungsprogramm - und das seit fast 40 Jahren. Kaum jemand in Deutschland, der ihn nicht kennt. International berühmt geworden als einer, der als Königin von Holland oder als Horst Schlämmer auftrat, steht er in den 90er und Nuller Jahren voll im Geschäft und setzt alle Power ein, die er hat.
Auch er nimmt Opfer in Kauf: seine Gesundheit. Seine Ganz-oder-gar-nicht-Haltung in Bezug auf seine Arbeit führt zu einem Hörsturz und dem Verlust der Gallenblase. Diese Erfahrung zwingt ihn zu einer Pause, damit er weiterleben konnte.
„Ich will mal weg!“ sagt er sich und macht sich 2001 tatsächlich auf den Weg - aber nicht nach Mallorca oder auf die Malediven, wie damals die meisten eher vermutet hätten, sondern auf den Pilgerweg nach Santiago di Compostela, einmal quer durch Spanien.
      
Wie kommt ein Komödiant und Entertainer dazu, den Jakobsweg, den Camino zu pilgern?
Kerkeling selbst sagt dazu:
„Was verspreche ich mir eigentlich von dieser Pilgerschaft? Ich könnte losziehen mit der Frage im Kopf: Gibt es Gott? Seit meiner frühesten Kindheit beschäftigt mich die Frage nach dem großen unbekannten Wesen. Als Kind hatte ich nie den leisesten Zweifel an der Existenz Gottes, aber als vermeintlich aufgeklärter Erwachsener stelle ich mir heute durchaus die Frage: Gibt es Gott wirklich? Was aber, wenn dann am Ende dieser Reise die Antwort lautet: Nein, tut mir sehr leid. Der existiert nicht. Da gibt es NICHTS. Könnte ich damit umgehen? Mit Nichts? Wäre dann nicht das gesamte Leben auf dieser ulkigen kleinen Kugel vollkommen sinnlos? Natürlich will jeder, mutmaße ich, Gott finden... oder zumindest wissen, ob er denn nun da ist...
Vielleicht wäre die Frage besser: Wer ist Gott? Oder wo oder wie? ...Nur: Wer sucht denn hier eigentlich nach Gott? Ich! Hans Peter Wilhelm Kerkeling, 36 Jahre, Sternzeichen Schütze, Aszendent Stier, Deutscher, Europäer, Adoptiv-Rheinländer, Westfale, Künstler, Raucher, Schwimmer, Autofahrer, Zuschauer, Komiker, Radfahrer, Autor, Kunde, Wähler, Mitbürger, Leser, Hörer...
Anscheinend weiß ich ja nicht mal so genau, wer ich selbst bin. Wie soll ich da herausfinden, wer Gott ist? Meine Frage muss also erst mal ganz bescheiden lauten: Wer bin ich? Also gut - als Erstes suche ich nach mir; dann sehe ich weiter. Vielleicht habe ich Glück und Gott wohnt gar nicht so weit weg von mir.“ (S.20-22)


Also begibt sich Herr Kerkeling auf die Suche nach sich selbst und nach Gott und macht sich auf den Weg. Und er ist allein und ziemlich bald frustriert. Der Weg ist alles andere als romantisch.
Es regnet wie aus Kübeln, der Rucksack zieht ihn zu Boden, seine Füße schmerzen. Er kann nicht mehr.

Kerkeling begegnet dann aber doch im richtigen Augenblick den richtigen Menschen, die ihn stärken oder wieder aufhelfen - so wie der Engel bei Elija. Und so wandert er weiter - trotz aller Zweifel, ob er es schaffen wird oder es überhaupt das Richtige ist, was er da tut.
Er ist froh, wenn er Menschen trifft, die ähnlich wie er ihre Zweifel haben. Mit Pilgern und Pilgerinnen, die selbstsicher und großspurig wissen, wo es lang geht, kann er nichts anfangen. Und im Laufe der Wanderung kommt er sich selbst und Gott immer näher.

Kerkeling spürt immer mehr, wie die Außenwelt des Jakobswegs sein Innenleben widerspiegelt:
sei es der steile Anstieg, die endlose Weite, oder z.B. der Kreuzgang eines Klosters, der ihn dazu bringt, seine eigenen Schattenseiten genauer zu betrachten. Bei Elija ist es der Ginsterbusch, die Wüste und die Höhle: Sich den Dornen des Lebens stellen, die Leere annehmen und die dunklen Abgründe. Die in ihm selbst.

Kann man nur dann Gott begegnen? Ich weiß es nicht.
Aber Elija ist erst nach diesen Konfrontationen mit sich selber statt mit den Baalspriestern reif für den Ewigen im Windhauch.

Und auch Kerkeling erreicht seinen persönlichen Berg Horeb und begegnet Gott:
„Bei mir war es gestern so weit. Ich stehe mitten in den Weinbergen und fange aus heiterem Himmel an zu weinen. Warum, kann ich gar nicht sagen. Erschöpfung? Freude? Alles auf einmal? Weinen in den Weinbergen!? Ich muss gleichzeitig darüber lachen.
Ja, und dann ist es passiert! Ich habe meine ganz persönliche Begegnung mit Gott erlebt.
‚Yo y Tu‘ - ich und du - war am Anfang meiner Wanderung an der Grundschule zu lesen und das klingt für mich wie ein Siegel der Verschwiegenheit. In der Tat, was dort passiert ist, betrifft nur mich und ihn. Nur diese drei Worte: ‚Ich und du.‘ Die Verbindung zwischen ihm und mir ist etwas Eigenständiges.
  Um Gott zu begegnen, muss man vorher eine Einladung an ihn aussprechen, denn ungebeten kommt er nicht. Auch eine Form von gutem Benehmen. Wir haben die freie Wahl. Zu jedem baut er einen individuelle Beziehung auf. Dazu ist nur jemand fähig, der wirklich liebt.
  Ich werde hier von Tag zu Tag freier und das Hin und Her in meiner Gefühlswelt auf dem Camino ergibt plötzlich einen klaren Sinn. Durch alle Emotionsfrequenzen habe ich mich langsam auf die eine Frequenz eingetunt und hatte einen großartigen Empfang. Totale gelassene Leere ist der Zustand, der ein Vakuum entstehen lässt, das Gott dann entspannt komplett ausfüllen kann. Also Achtung! Wer sich leer fühlt, hat eine einmalige Chance im Leben! Gestern hat etwas in mir einen riesigen Gong geschlagen. Und der Klang wird nachhallen.... Eigentlich ist mein Camino hier beendet, denn meine Frage ist eindeutig beantwortet. Ab jetzt kann der Weg mir eigentlich nur noch Freude bereiten.“ (S. 240-241)


3.Teil: Elija und Kerkeling auf ihrem Weg

Zwei Menschen haben sich auf den Weg gemacht. Sie haben Gott gesucht und gefunden. Sie haben sich selbst ganz neu erlebt und somit sich selbst neu gefunden. Vielleicht ist das der Schlüssel dieser Wegerfahrung?

Elija, der fanatische und selbstsichere Gotteskämpfer muss erst ans Ende seiner Kräfte kommen,
um zu sich selbst zu finden. Er muss den Weg durch die Wüste gehen - den Weg zu sich selbst, den Weg durch das Nichts - er muss alles hinter sich lassen, nicht nur seine Diener, sondern auch seinen Anspruch, besser zu sein als die anderen. Sein Entweder-Oder und seinen Wahrheitsanspruch.
40 Tage und Nächte muss er gehen: 40 - eine heilige Zahl. 40 - der Zeitraum für Veränderung. 40 - die Zahl für Vollendung und Reife. Nach 40 Tagen ist Elija ein anderer geworden und begegnet Gott ganz neu.

Und Gott - ja, er erscheint dem kleingewordenen Elija so, wie der ihn in seiner Situation einzig wahrnehmen kann: nicht donnernd, bebend und gewaltig - das wäre er ja gewohnt gewesen -, sondern leise, ja, fast unscheinbar. Gott begegnet dem Schwachen als Schwacher.  Und darum kann der Schwache wieder stark werden und wieder aufbrechen.
    
Hape Kerkeling geht es ähnlich: Auch er wechselt seine Rolle und versteht selbst kaum noch, auf was er sich da einlässt. Auch er, der selbstsichere Entertainer muss loslassen, alles hinter sich lassen, muss den Weg durch die innere Wüste gehen, leer werden und ganz er selbst werden.
Auch er braucht über 40 Tage und Nächte bis zum Ziel und kann Gott ganz neu begegnen.
Gott begegnet dem frei gewordenen Kerkeling als ein freier und nicht festzuhaltender Gott. Und darum kann der Freigewordene sich auch wieder binden und Verantwortung übernehmen. Er steht mehr denn je zu seiner Homosexualität und trifft später dann mit 50 Jahren sogar die Entscheidung, dass er den ganzen Rummel nicht mehr braucht.

Und du - welchen Weg gehst du? Was ist deine Wüste, welches ist dein Camino?
Gelingt es dir loszulassen, das, was dich schwächt und klein macht, hinter dir zu lassen?
Wo sind deine Momente, wo du über dich nachdenkst und über Gott, - ist es hier, in der Kirche?
Oder im Wald? Oder im Lied?
Welche Engel stärken dich unterwegs und schicken dich wieder auf den Weg?

Unsere Welt braucht Menschen wie Elia und Kerkeling - Menschen, die nach Gott suchen und merken, dass ihre Bilder im Kopf womöglich nicht die richtigen sind. Unsere Welt braucht die Zweifelnden, Suchenden, Fragenden. Vielleicht jetzt mehr denn je. Sie braucht Menschen, die den Mut haben, schwach und verletzlich zu sein, frei zu sein für einen überraschenden Gott, für den menschlichen und leisen Gott.

Unsere Welt braucht Menschen, die das Leise hören, dem Zweifel Raum geben und den Lücken zwischen Entweder und Oder und die sich selbst nicht mehr so wichtig nehmen.
 
Gott meint es gut mit dir und öffnet dir den Horizont. Zieht bei dir ein und schickt dich los.
Auf den Camino. Zum Berg Horeb. In die Welt. 
Und irgendwo - da bin ich ganz sicher - irgendwo dort triffst du Gott.

Amen.



*Hape Kerkeling, "Ich bin dann mal weg!"