Von Sehnsucht nach neuer Wirklichkeit und nach Frieden
Predigt zu Jesaja 9, 16 (Heiliger Abend) *
1. Hinter der Tür
Das Licht schimmerte durch die geriffelte Glasscheibe. Auch unter der Türritze konnten wir den Schein sehen. Manchmal versuchten mein Bruder und ich durchs Schlüsselloch zu schauen. Am 24. Dezember. Heiligabend zuhause.
Ein Auge zugekniffen und ich konnte das Lametta sehen und irgendwas, was unter dem Baum stand. Die Sehnsucht war so groß. Ja, für einen Augenblick sah ich sie, die Zukunft mit einem geschmückten Weihnachtsbaum und schön verpackten Geschenken. Für diesen Augenblick hielten wir den Atem an. Nur eine verschlossene Tür trennte uns. Und wir warteten auf die Glocke, die unsere Mutter läutete.
Der Prophet Jesaja schaut wie durch ein Schlüsselloch in eine neue Zukunft. Tausende von Jahren ist das her. Es herrscht Krieg. Die Welt des Propheten ist in Blut getränkt. Sie ist dunkel. Draußen vor der Tür marschieren die Soldaten in ihren schweren Stiefel auf und ab und geben den Rhythmus des Lebens vor: Angst, Tod, Gewalt. Hunger, Elend, Leid. Bittere Realität damals und heute.
Aber Jesaja hält das nicht auf. Seine Sehnsucht nach einer neuen Wirklichkeit ist so groß. „Irgendwann muss die Zukunft doch beginnen“, denkt er. „Irgendwann muss es wieder hell werden.“ Und dann sieht er den Schimmer wie durch die geriffelte Türscheibe, schaut wie durch ein Schlüsselloch und hält für einen Augenblick den Atem an.
2. Neue Wirklichkeit
Was er da sieht, hören wir aus dem 9. Kapitel:
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende
auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.
Sie ist schon da, die neue Wirklichkeit. Nur eine Tür scheint Jesaja noch zu trennen von der Welt, in der es wieder hell ist - mit Leben und Lachen, Zeit und Wunder, Frieden und Glück. Mit neugeborenen Kindern und gutem Leben für alle.
Nur eine Tür trennt Jesaja von der Zukunft, die doch schon da ist.
Die Hirten siebenhundert Jahre später, schauen nicht durch Schlüssellöcher, sie haben keine. Sie haben kein Dach über dem Kopf. Sie schauen in den Himmel. Und der öffnet sich für sie. Einen Spaltbreit, genau so viel, dass das Licht des Himmels auf sie scheint. Mitten in der Nacht, reiben sich die Hirten die Augen und kneifen sie ein wenig zusammen. Dann sehen sie: Licht in der Finsternis, Engel, die singen und ihr Hoffen wird Wirklichkeit: „Fürchtet euch nicht. Eine neue Zeit ist zur Welt gekommen, sie ist schon da, sie ist geboren. Nur eine Stallwand entfernt.“
Für einen Moment halten sie den Atem an, dann eilen sie voller Sehnsucht der Zukunft entgegen. Ja, sie wollen sehen, was ihnen gesagt wurde. Sie wollen das Kind sehen, auf dessen Schultern alle Hoffnung liegt. Das Kind, das Himmel und Erde verbindet: Wunder-Rat Gott-Held Ewig-Vater Friede-Fürst
In Windeln gewickelt, auf Stroh gebettet liegt sie da, die neue Wirklichkeit.
Für alle sichtbar. Zum Greifen nah. Und doch immer noch nicht zu begreifen.
3. Türen öffnen sich
„Habt keine Angst! Ich muss nur das Schloss aufbrechen.“ Hört man eine tiefe Männerstimme auf Arabisch rufen. Eine dicke Stahltür trennt die Frauen von der Freiheit. Da schimmerte kein Licht durch. Es war einfach stockfinster. Und nun dokumentieren Handyvideos die Befreiung aus Sednaja – dem berüchtigtsten Foltergefängnis Assads. Aus dunklen, verdreckten, engen Kammern strömen Frauen, Männer, ja sogar Kinder. Nach fast 14 Jahren Terror und Krieg in Syrien. Und die Welt hält den Atem an, denn alle wissen, diese Wirklichkeit ist so fragil. Und doch ist sie da. Sie ist jetzt da und mit ihr ein kleines Stück des Friedens, nach dem sich Menschen in aller Welt so sehr gesehnt haben. Und sie kommen und feiern, sie kehren heim, fallen sich in die Arme, lachen und weinen, tanzen auf den Straßen und freuen sich am Leben. Und zugleich wissen sie: die Tür kann wieder ganz schnell verschlossen werden. Die Tür zur Freiheit, zum Frieden. Zum echten Frieden. Wird sie offen bleiben?
Wie sehr will ich da wie durch ein Schlüsselloch schauen und wissen, dass in der Wirklichkeit dahinter Friede sein wird: dass Menschen frei ihre eigene Religion leben können ohne Abwertung anderer, dass Frauen und Mädchen gleichberechtigt lernen werden, zur Schule und zur Uni gehen können, frei über ihren Körper entscheiden.
Wenn ich dann durch mein Schlüsselloch schaue, in meiner Welt, sehe ich voller Dankbarkeit, was schon da ist: Friede und Demokratie; Freiheit zu lieben, wie ich es tue, und Kinder, die in Freiheit spielen und hüpfen und den Himmel über sich haben. Und ich sehe auch, wie gefährdet das selbst bei uns ist und die Türen zur Freiheit und zum Frieden zufallen können.
4. Sehnsucht
Was bringt dieser Blick durchs Schlüsselloch?
Ich brauche ihn: Diesen Blick und die Ahnung, dass da noch Gutes auf uns zukommt. Die Hoffnung auf Frieden, nicht nur im Kleinen und im Westeuropäischen, diesseits der polnischen Grenze. Sondern Frieden ohne Unterdrückung, ohne Angst und ohne, dass man andere abschrecken muss. Ohne Angst vor Attentätern und Hassgeschrei.
Ich brauche den Blick durchs Schlüsselloch. Ich will an Weihnachten ahnen können, dass auch im nächsten Jahr, dass auch in Zukunft Gutes auf uns zukommt. Dass Gott unter uns lebt und Friede auf Erden bringt. Auch wenn dieser Friede heute erst ein Säugling ist und wachsen muss.
Ja, manchmal überfrachte ich diesen Abend mit meiner Sehnsucht nach diesem Frieden und dieser Wärme und vergesse dann, dass dieser Frieden gar nicht von uns ausgeht, sondern von diesem Kind in der Krippe. Manchmal will ich zu viel und manchmal wird es mir zu viel. Früher, als Jugendliche, ertrug ich diese überladene Sehnsucht oft nicht mehr und floh erst mal raus. Einmal tief Luft holen. Die Tür hinter mir wieder zu, was ja viel realistischer war, oder?
Und doch, die Sehnsucht bleibt. Der Blick durch das Schlüsselloch auf eine neue, gute Wirklichkeit. Selbst sie ist nicht perfekt, aber sie ist da. Ich stehe mit den Hirten und schaue auf dieses Kind in der Krippe. Das Ganze ist so fragil wie ich es auch bin. Die Tür kann sofort wieder ins Schloss fallen und sie wird es auch wieder tun. Aber die Hoffnung bleibt. Ich sehe das Kind in der Krippe und weiß: das mit dem Frieden und der Freiheit hat noch ganz andere Dimensionen als ein Weihnachtszimmer.
5. Türen offen halten
Aber heute genügt es. Vielleicht genügt heute nur ein bestimmtes Weihnachtslied oder der eine Weihnachtsstern, den meine Mutter mal gebastelt hatte und den ich immer noch habe und der hängt am Weihnachtsbaum, viele viele Jahre nach ihrem Tod. Vielleicht muss ich nur diesen Stern sehen und dann ist alles wieder da wie damals: der Schimmer durch die Scheibe, der Blick durchs Schlüsselloch, das Klingeln der Glocke, die warmen Arme, die mich umfangen. Und ich weiß zugleich, dass Frieden viel mehr ist.
Vielleicht gehen die Türen morgen wieder zu, aber heute halte ich sie offen, die Gott uns weit aufreißt. Heute freue ich mich auf das Essen mit meinen jesidischen Nachbarn und weiteren Freunden. Heute hoffe ich mit den syrischen Menschen, dass ihre Türen zur Freiheit offen bleiben. Heute hoffe ich, dass sich die Türen für alle öffnen, die im Dunkeln sind und die Angst haben. Heute stehe ich mit den Hirten vor der Krippe, sehe mit ihnen den offenen Himmel und singe zusammen mit den Engeln. Heute sehe und schmecke und fühle ich mit großem Herzen, was Jesaja verspricht:
Uns ist ein Kind geboren.
Und des Friedens ist kein Ende,
dass er’s stärke und stütze
durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Das war sie und ist es noch, die neue Wirklichkeit, die Zukunft, sichtbar und zum Greifen nah.
Amen.
* Mit herzlichen Dank vor allem an Elisabeth Kühn, der ich vor allem die Formulierungen und Ideen in der ersten Hälfte der Predigt verdanke!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen