Sonntag, 24. September 2017

Ich will... - und auch nicht

Predigt zu Lukas 18,28-30

(Diese Predigt am Tag der Bundestagswahl 2017 teilt im Wesentlichen Worte von Annegret Zander und teilweise von Jörg Breu und Finn Bird*. Ich bin allen dreien und der Community vom Zentrum für evangelische Predigtkultur sehr dankbar für das gemeinschaftliche Ringen um die richtigen Worte zur richtigen Zeit.)

I.
Einmal stand ein junger Mann vor Jesus.
Mit Schule und Ausbildung fertig,
am Anfang des Berufslebens.
Von den Eltern hat er viel mitbekommen,
um sich ein gutes Leben aufbauen zu können.
Jetzt steht er da:
Neugieriges Suchen in den Augen,
das Herz voller Tatendrang und Eifer.
Allen Mut hat er zusammen genommen,
als er Jesus anspricht:
„Hier bin ich. Sag mir, was muss ich tun,
um das ewige Leben zu erhalten?“

Jesus schaut ihn an - ein Blick voller Liebe.
Und dann kommt die Aufforderung:
„Verkaufe alles, was du hast, und folge mir nach.“
Das Herz des jungen Mannes schreit lautlos auf.
„Alles verkaufen – das kann ich nicht.
Das schaff ich nicht. Nein!“
Der junge Mann geht traurig weg.
Und auch Jesus schaut ihm traurig nach.
Dann kommt da noch der Satz mit dem Kamel,
das eher durch ein Nadelöhr geht,
als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme.
Und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.

II.
Die Jünger waren da klar.
So erzählt Lukas:  (Lk 18, 28-30)
Da sagte Petrus zu Jesus:
»Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen
und sind dir nachgefolgt.“
Jesus antwortete ihnen:
»Amen, das sage ich euch:
Jeder, der für das Reich Gottes etwas zurückgelassen hat 

– Haus, Ehefrau, Geschwister, Eltern oder Kinder –,
wird dafür ein Vielfaches neu bekommen –
schon jetzt in dieser Zeit –
und das ewige Leben dann, wenn Gottes Reich kommt.«


III.
Jesus nachfolgen - so ganz und gar,
ist das das Richtige für dich und für mich?
Ich wäge ab, überlege hin und her.
Kann ich das? Will ich das? Will ich das so?

„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“

Nein. Ich gebe zu, das ist nicht meins.
Ich will keine Jüngerin sein.
Ich will nicht das Haus verlassen,
die sichere Wohnung, meine Familie nicht,
auch wenn es oft genug schwierig ist.
Ich will auch nicht mein kleines Leben aufgeben,
das es gut mit mir meint.
Ich will nicht heraustreten aus dem, was mir vertraut ist,
meine Arbeit nicht vergessen,
nicht das Geld abgeben, das Monat für Monat mein Konto
und mein Sicherheitsgefühl füllt.
Ich will es nicht, und ich will es auch nicht verharmlosen.
Denn viele Menschen sind gezwungen, alles zu verlassen.
Und dann kann ich doch nicht so tun,
als sei das ganz leicht.


IV.
„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“

Ja, denke ich
Ich will eine Jüngerin sein.
Will wissen, wo es langgeht, wem ich folgen soll,
will mein Kreuzchen gesetzt haben, ein für alle Mal.
Die ganz große Wahl,
dieses wahnsinnige Leben in völliger Freiheit,
mit dem wunderbarsten Menschen, mit Jesus,
mit dieser Liebe, die überhaupt keine Scheu kennt -
Weder vor Menschen noch vor allem Fremden noch vor Schmerz.
Ich will raus, raus aus dem Alltagstrott,
diesen ganzen Mist nicht mehr sehen und nicht mehr lesen,
diese unzähligen Mails und Artikel und Debatten und Talkshows.

Ja, ich will raus und mitgehen mit ihm,
will verrückte Freunde haben,
mit unwahrscheinlichen Menschen am Tisch sitzen
und essen und über das Reich Gottes reden.

V.
„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“

Aber dann – nein.
Ich will doch keine Jüngerin sein.
Ich will nicht nur mit einem Paar Sandalen durch den Staub tappen.
In der Tasche nichts als Hoffnung.
Ich will nicht an Türen klopfen, um Brot bitten
und in harte Augen sehen und Verständnislosigkeit schmecken.
Da ist nichts Romantisches und Freies dabei.

Ich will nicht das große Elend sehen,
die Menschenmassen in Not,

5000 und mehr, die sich um uns drängen,
die hungern und dürsten und Heimat suchen.
Die in Jemen und die im Mittelmeer und die in Myanmar.
Und die 500 im Dortmunder Hochhauskomplex,
die über Nacht keine Wohnung mehr haben.
Ich will nicht fragen „Was sollen wir tun?“
Und mich dann so verantwortlich fühlen,
dass es mich lähmt, weil es zu viel ist.

VI.
„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“

Und doch - ich sage: Ja!
Ich will eine Jüngerin sein,
will Heimatlosen Heimat geben,
will Brot teilen und Fische braten,
will sehen wie alle, 5000 und mehr, wirklich alle satt werden, mehr als satt.
Ich will sehen wie die Teepflücker in Indien gerecht bezahlt werden
und die Kinder statt in Kobalt-Minen für unsere Smartphones zu schuften
lieber zur Schule gehen.
Ich will Gerechtigkeit erleben, die jeden Menschen sieht.
In der sich nicht nur Leistung lohnt,
sondern jeder Mensch als Kind Gottes gesehen wird -
wertvoll, mit Gaben und Grenzen und so wie er ist.
Und ich will auch heute bei der Wahl Jüngerin sein
und die wählen, die lieber teilen und helfen wollen statt aussperren.

VII.
„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“

Nein, ich... nein, ich will es nicht.
Ich will kein weltfremdes Zeug hören oder sagen müssen:
über Salz das nicht salzt und Salomos Seide
und „ach! seht die Vögel unter dem Himmel“
und dass niemand sich Sorgen machen muss.
Denn ich habe nun mal Sorge um unsere Welt.
Die lässt sich spalten von Demagogen und Populisten.
Und ich fürchte mich vor ihnen.
Kann ich dann überhaupt eine Jüngerin sein - so voller Sorge?

VIII.
„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“

Und doch. Ja.
Ich will eine Jüngerin sein,
Herr, hilf mir! rufen und gerettet werden. Sofort.
Und muss nicht mehr einsam warten,
ob da mal eine Antwort kommt auf einen Hilferuf oder ein Gebet.
Ich werde mich dann nicht länger einsam fühlen
mit Glaubensgeschwistern, die gar keine sein wollen.
Von denen manche lieber hassen als lieben,
lieber ausgrenzen als einladen.
Ich will wie Petrus den Propheten eine Hütte bauen auf dem Berg,
ein bisschen näher bei Gott sein als die Anderen,
die Kraft spüren, Eins sein mit Jesus.

IX.
„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“

Und dann wieder: Nein.
Ich will nicht durch die Hölle gehen,
die Trauer nicht erleiden,wenn die Hoffnung gestorben ist.
Ich will nicht beschimpft werden als Gutmensch, nur weil ich Jesus folge.
Ich will nicht, dass mich menschenverachtende Wahlplakate anwidern.
Ich will ein dickes Fell
und manchmal will ich, dass es mir egal ist, wenn der Hass sich Bahn bricht.
Weil ich das nicht aushalte.
Und als Jüngerin könnte mich das nicht kalt lassen.

X.
„Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind dir nachgefolgt.“

Und doch: Ich will eine Jüngerin sein.
Ich will Wunder sehen und tun.
Will Tote erwecken.
Ich will Dämonen aus Menschenseelen fortjagen,
damit die Angst aufhört und die Traurigkeit.
Will die Alpträume von Krieg und Terror im See ersäufen.
Ich will Spucke in Augen schmieren,
damit Blinde wieder sehen und Menschen die Wahrheit erkennen.
Damit Verblendeten die Augen aufgehen und sie den Hass sehen
und die Drohung hinter den Buchstaben „AfD“.
Ich will wie Jesus sagen „seht hier:
Der Weg des Todes und der Weg des Lebens“.

XI.
Ich bin so hin und her gerissen.
Will Jüngerin sein - ganz und gar -
und will es doch wieder nicht.
Petrus: was macht dich so sicher?
Hattet ihr es leichter damals?
War die Welt unkomplizierter als unsere?
Wart ihr so arm, dass es einfach war, zu gehen?
Und zu verlassen?
Ich hätte so viel zu verlassen.

Will ich deine Jüngerin sein, Jesus? Kann ich das?
Vielleicht…
Oder doch nein?
Oder…
Doch! Ich will es.
Ich will deine Jüngerin sein.
Ja!

Aber, Jesus,
ich könnte dabei wirklich deine Hilfe gebrauchen.
Heute ganz besonders.
Amen.


*) Darum habe ich auch lange überlegt, ob ich diese Predigt überhaupt veröffentlichen soll. Ich habe mich dann doch dafür entschieden, weil ich diese Worte einfach zu wichtig und zu gut finde, als dass sie heute morgen "nur" gehört wurden. Nochmal großes Danke an Annegret Zander, Jörg Breu und Finn Bird!