Sonntag, 30. Oktober 2016

Bürgerrecht im Himmel - für alle

Predigt zu Philipper 3,20-21 - gehalten am 30.10.2016 in Mühlhausen
(vor der Predigt Lesung von Lukas 19,1-10 (Zachäus))

I.
„Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“ - der Gänsehautmoment von Zachäus.
Denn auch er ist ein Sohn Abrahams“.
Ja, ich gehöre dazu! Muss Zachäus gedacht haben - innerlich jubelnd.
Endlich gehöre ich wieder dazu!
Ich - der Kleine, der Betrüger, der mit den Großen kungelt.
Ich - der Einsame, der sich selber ausgeschlossen hat.
Ich gehöre wieder dazu.
Jesus sagt das. Jesus isst mit mir. Jesus ist mein Gast. In meinem Haus.
Und ich fange neu an.
Ich kann so sein wie die, die zu ihm gehören. Wie die, die zu Gott gehören.

II.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Von dort her erwarten wir auch den Retter, den Herrn Jesus Christus!
Er wird unseren armseligen Leib verwandeln,
sodass er seinem eigenen Leib gleicht –
dem Leib, der die Herrlichkeit Gottes sichtbar werden lässt.
Dazu hat er die Macht –
wie er auch die Macht hat, sich alles zu unterwerfen.

(Philipper 3,20-21 - nach der Übersetzung der Basisbibel)

Ich gehöre dazu. Ich gehöre zum Himmel.
Jetzt schon. Nicht erst morgen oder erst wenn ich tot bin.
Im Himmel bin ich zuhause. Für dort habe ich einen Pass.
Meine Staatsbürgerschaft. Und die sagt mir: Du gehörst dazu.
Du - mit deinen Macken, mit deinen Fehlern, mit deiner Sehnsucht, mit deiner Einsamkeit.
Du - die du dich immer wieder ausschließt.
Du hast schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Da bist du zuhause.

III.
Zuhause.
Mehr als die 4 Wände, in denen du lebst.
Zuhause - dort wo du du bist.
Mit Jogginghose und dicken Socken.
Mit der Zeitung neben dem Bett und den Staubflusen unter dem Schrank.
Mit den Fotos, die dich an früher erinnern,
und dem Stuhl, der mal wieder überquillt vor lauter Klamotten.
Zuhause.
Wo der Streit mit der Tochter noch in der Luft hängt.
Aber auch die Umarmung danach.
Wo das das Licht im Flur auch nachts anbleibt.
Wo der kleine Zettel am Kühlschrank dir ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
„Du schaffst das“ sagt er dir jeden Morgen.
Zuhause.
Da bist du.
Ungeschminkt. Unrasiert. Mit verquollenen Augen. Mit fettigen Haaren.
Zuhause.
Frisch geduscht und ausgeschlafen.
Da ist der Kaffeeduft und der Kuchen warm aus dem Ofen.
Klaviertöne aus dem Erdgeschoss. Tatort am Sonntagabend.
Zuhause.
Da wohnst du. Da bist du. Da darfst du sein.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.

IV.
Wer kein Zuhause hat, ist arm dran.
Nach dem 2. Weltkrieg hatten viele kein Zuhause mehr.
Ihr Zuhause war zerstört, zerbombt.
Sie mussten es zurücklassen. Verlassen. Verloren.
Ein neues Zuhause suchen.
Und die meisten fanden ein neues Zuhause. Aber es war nicht leicht.
Neue Wurzeln schlagen. Sich neu einrichten. Wieder ich sein dürfen.
Den Boden unter die Füße bekommen. Auch dort, wo es fremd ist.
Das braucht Zeit, und nicht alle haben es geschafft.
Sie blieben unbehaust - zumindest innerlich.

Wer kein Zuhause hat, ist arm dran.
Die ins Wichernhaus kommen
und wenigstens für ein paar Nächte ein Dach über dem Kopf haben.
Die im Benkiserpark schlafen müssen. Der Alkohol lenkt sie ab.
Die im Fußgängertunnel vom Hauptbahnhof am Rand sitzen und auf ein paar Münzen hoffen. Oder die gar zu einer Kolonne gehören und am Abend alles Erbettelte wieder abgeben müssen.

Wer kein Zuhause hat, ist arm dran.
Und dann sind da auch noch die, die aus ihrem Land hierher fliehen. Die ein neues Zuhause suchen. Ein sicheres Zuhause. Wo keine Bombe drauf fällt. Wo keine Granate hineinrollt.
Wo keine Maschinengewehre dröhnen.
Wo keine Taliban an die Tür hämmern und dich mitnehmen wollen.

Du gehörst nicht hierher. Das hören sie nicht nur einmal.
Die Obdachlosen und die Flüchtlinge.
Geh weg. Hau ab. Mach, dass du davon kommst.
Du gehörst nicht hierher.

Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.

V.
Zuhause sein. Dazu gehören. So wie du bist.
Und wenn der Himmel dein Zuhause ist, dann gilt das erst recht.
Alles, was wir als Zulassungsbedingungen festlegen, gilt dort nicht.
Auch wenn wir es uns nicht vorstellen können.
Dass ein Zachäus dazu gehören sollte, war unvorstellbar.
Und so wird hinterher auch heftig gemurrt.
Dass die Kinder dazu gehören sollten, war unvorstellbar.
Sogar für die Jünger und Jüngerinnen Jesu.
Dass Frauen dazu gehören sollten oder gar Gemeindevorsteherinnen werden könnten, war unvorstellbar. Aber von Anfang an predigten sie und leiteten sie die Gemeinden. Nur wollte man das später nicht mehr wahrhaben.
Dass Schwule und Lesben dazu gehören, war und ist für viele heute noch unvorstellbar. Aber Gott hat sie gewollt, so wie sie sind.
Ihre Sexualität spielt für die Einreiserlaubnis in den Himmel keine Rolle.

Die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke hat das vergangenen Sonntag in der Paulskirche auf ihre Weise gesagt:
„So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen, ganz gleich, was uns sonst noch auszeichnet oder unterscheidet, ganz gleich, welche Fähigkeiten oder Unfähigkeiten, welche Bedürfnisse oder Eigenschaften uns vielleicht viel mehr bedeuten. So verbindet sich etwas, das uns glücklich macht, etwas, das uns schön oder auch angemessen erscheint, mit etwas, das uns verletzt und wund zurücklässt. Weil wir immer noch, jeden Tag, Gründe liefern sollen dafür, dass wir nicht nur halb, sondern ganz dazugehören. Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit.“ (...)
„Manchmal frage ich mich, wessen Würde da beschädigt wird: unsere, die wir als nicht zugehörig erklärt werden, oder die Würde jener, die uns die Rechte, die uns gehören, absprechen wollen?“

VI.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Dort sind wir zuhause.
Keiner von uns kann anderen absprechen dazu zugehören.
Kein Priester. Keine Dekanin. Kein Präsident. Keine Partei.

Aber ist das dann noch ein Zuhause?
Wo auch die zuhause sind, die so ganz anders sind als ich.
Auch die, die ich nicht mag. Oder vor denen ich Angst habe. Oder die mich ärgern.
Auch die haben schon jetzt ein Bürgerrecht im Himmel?

Paulus sagt: ja!
Die einzige Bindung, die noch zählt, ist die an Jesus Christus.
Doch dabei geht es nicht um Rechtgläubigkeit, die uns den Einlass gewährt.
Das wäre eine Schranke, die wir Menschen aufstellen.
So wie damals die Philipper oder die Galater das wollten.
Wenn du rechtgläubig bist und die Gebote XY befolgst, erst dann gehörst du dazu.
Vorher nicht.
Genau das lehnt Paulus ab.
Gott öffnet sein Zuhause für alle.
Denn die Liebe Gottes, wie Jesus sie gelebt und erlitten hat, die gilt jedem Menschen.
Diese Liebe kannst du nicht einschränken.
Denn:
Dazu hat er die Macht –
wie er auch die Macht hat, sich alles zu unterwerfen.
Er wird unseren armseligen Leib verwandeln,
sodass er seinem eigenen Leib gleicht –
dem Leib, der die Herrlichkeit Gottes sichtbar werden lässt.


VII.
Die Unterscheidungen, die wir uns so gerne machen - die gelten in Christus nicht mehr.
Auch nicht mehr das, was uns vermeintliche Sicherheit gibt.
Nationalität oder Herkunft spielen keine Rolle mehr.
Es gilt nicht mehr die Unterscheidung in Juden und Heiden
oder in Freie und Unfreie, in Arme und Reiche.
Und das gilt nicht nur für den Himmel, sondern auch für die Erde.
Für jetzt und hier. 
Eine doppelte Staatsbürgerschaft für dich und mich. Ein Zuhause im Himmel.
Für einen Leib, der die Herrlichkeit Gottes sichtbar werden lässt.

Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Du bist gut genug für den Himmel. Da bist du zuhause.
Mit den Staubflusen und ungeschminkt und unrasiert. So wie du bist.
Und deine Nachbarin auch.
Ihr werdet den Himmel nicht auf die Erde holen können.
Aber ihr könnt ihn sichtbar werden lassen. Die Erde zur Wohnung Gottes machen.
Diese Erde mit ihren Grenzen und Schablonen und Einteilungen und Unterscheidungen.
In dieser Erde mit Gott Zuhause sein.
Mit himmlischer Gastfreundschaft, die sogar einen Zachäus überzeugt.

VIII.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Neu hinschauen. Anders sein. Grenzen überwinden.
Türen öffnen und Nein sagen, wo Andere ausgeschlossen werden.
Wie in Steinegg, wo eine ganze Klasse dem Flüchtlingsmädchen Seara eine neue Heimat gab.
Sich neu begegnen.
Ob es ein Zachäus ist. Oder eine Fremde. Oder der, der anders glaubt.

Caroline Emcke sagt es so:
„Wir können neu anfangen und die alten Geschichten weiterspinnen wie einen Faden Fesselrest, der heraushängt, wir können anknüpfen oder aufknüpfen, wir können verschiedene Geschichten zusammen weben und eine andere Erzählung erzählen, eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder wichtig ist.“

Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“ - der Gänsehautmoment von Zachäus.
Endlich gehöre ich wieder dazu!
Und nicht nur er.
Wir haben schon jetzt Bürgerrecht im Himmel.
Amen.

Montag, 24. Oktober 2016

Da ist Freiheit! Und auf die müssen wir aufpassen.

Ansprache zum Badischen Pfarrer/innen-Tag in Pforzheim (24.10.2016) zum Baden-Württembergischen Motto des Reformationjubiläums

I.
Da ist Freiheit! - ein schon fast trotziger Ausruf.
Da und da und da. Siehst du sie nicht?
Da, wo Menschen öffentlich sagen dürfen, was sie denken, da ist Freiheit.
Da, wo Menschen glauben dürfen, was sie wollen, da ist Freiheit.
Da, wo Menschen anziehen dürfen, was sie möchten, da ist Freiheit.
Da, wo sie lernen dürfen und lesen, egal ob Mädchen oder Junge.
Da, wo sie einen Beruf wählen können, der ihren Begabungen entspricht.
Da, wo sie lieben dürfen, wen sie wollen, ob Mann oder Frau.
Da ist Freiheit.

II.
Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (2.Kor 3,17b) - der Monatsspruch für Oktober.
Dass diese Freiheit nichts mit Ungebundenheit zu tun hat, mit Laissez-faire sozusagen,
das ist für Paulus klar, der diese Worte an die Gemeinde in Korinth richtet.
Freiheit heißt für Paulus:
Wir erkennen Gott mit seiner ganzen Liebe in Jesus Christus. Indem wir uns zu Christus zugehörig wissen, lassen wir uns von seinem Geist leiten und von sonst nichts. Und nichts anderes muss uns dann noch binden, knechten, knebeln.

Freiheit und Zugehörigkeit gehören zusammen.
Freiheit und Bindung.

Spannend dazu die gestrige Rede der Friedenspreisträgerin Carolin Emcke.
Sie denkt über den Begriff Zugehörigkeit nach und wie Zugehörigkeit funktioniert.
So spricht sie von ihrer Sexualität
und von der Erfahrung, darum gerade nicht immer dazu zugehören,
also ausgegrenzt zu werden.
Dabei gehört es doch gerade zum Wesen einer freiheitlichen Gesellschaft, dass Menschen wegen ihrer Verschiedenheit gerade nicht ausgegrenzt werden.
Sondern dazugehören. Weil Freiheit nur so funktioniert.

Und so beschreibt sie Freiheit als
die „Freiheit, etwas anders zu glauben, etwas anders auszusehen, etwas anders zu lieben, die Trauer, aus einer bedrohten oder versehrten Gegend oder Gemeinschaft zu stammen, den Schmerz der bitteren Gewalterfahrung eines bestimmten Wirs –  und die Sehnsucht, schreibend eben all diese Zugehörigkeiten zu überschreiten, die Codes und Kreise in Frage zu stellen und zu öffnen, die Perspektiven zu vervielfältigen und immer wieder ein universales Wir zu verteidigen.“

III.
Da ist Freiheit!
Indem ich Menschen eine Zugehörigkeit verweigere, spreche ich ihnen auch ihre Freiheit ab, so sein zu dürfen, wie sie sind.
Und ich spreche ihnen ab, mit ihrem Sosein die Welt gestalten zu können.
Wo Menschen wegen ihrer Sexualität ausgegrenzt werden, da ist Unfreiheit.
Wo Andersgläubige unter dem Generalverdacht stehen, extremistisch zu sein, da ist Unfreiheit.
Wo Frauen der Zugang zu Ämtern verwehrt wird, wie seit diesem Sommer wieder in Lettland, da ist Unfreiheit.
Und wo Unfreiheit ist, da ist nicht der Geist Gottes!

Gerade dagegen hat sich die Reformation gewandt:
dass Menschen der Zugang verweigert wird.
Dass es vermeintliche Autoritäten gibt, die bestimmen, wer zu Gott gehört und wer nicht.
Und diese Autoritäten oder auch Herrschaften waren und sind immer sehr findig,
wenn es darum geht, andere in zugehörig und nicht zugehörig einzuteilen.
Ob es der Ablass ist oder die Steuer,
ob die Religionszugehörigkeit oder die Hautfarbe,
ob das Geschlecht oder die Angepasstheit oder die Kleidung.
Und leider sind auch die reformatorischen Kirchen immer wieder in dieses allzu menschliche Einteilungsverhalten hineingerutscht.

Da ist Freiheit!
Ja, sie ist verletzlich, diese Freiheit. Verletzlich und gefährdet. Mehr denn je, wo der Ungeist der Ausgrenzung wieder um sich greift.

IV.
Dieser Ungeist widerspricht fundamental dem protestantische Bekenntnis zur Gnade Gottes:
Kein Mensch kann mich aus der Gemeinschaft mit Gott ausschließen.
Gott selbst richtet seinen Bund auf.
Gott selbst geht die Verbindung mit mir ein.
Gott selbst nimmt mich als sein Kind an.
Und diese Gotteskindschaft kann mir keiner absprechen:
kein Papst, kein Fürst, kein Staat, kein Wutbürger,
keine Behörde, keine Schule, keine Armee, keine Partei.
Ich gehöre zu Gott - und darum bin ich frei, die zu sein, die ich als Gotteskind bin.

Da ist Freiheit!
„Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut“, sagt Carolin Emcke in ihrer Friedenspreisrede.
Freiheit ist „etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.“

Da ist Freiheit! Da, wo der Geist Gottes ist.
Der Geist der Gotteskindschaft.
Der Geist der Vergebung.
Der Geist der Gottesfamilie,
zu der wir alle gehören und von der wir niemanden ausschließen.
Da, wo dieser Geist Gottes Raum greift, wo er nicht behindert wird, da ist Freiheit.
Da und hier, dort und auch dahinten.
Da ist Freiheit! Passen wir auf sie auf.
Amen.




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Das Lied vom anderen Leben
(Text von Traugott Schächtele, nach der Melodie „Die güldne Sonne“ zu singen)

Ich will dem Leben, das mir gegeben,
mit Herz und Sinnen nachspür’n; beginnen
dem, was in mir liegt, ganz fest zu vertrau’n.
Ich will neu sehen, die Schritte jetzt gehen
auf deinen Wegen und unter dem Segen,
der mich begleitet. Auf dich will ich bau’n

Wo ich geschunden, will ich gesunden
an Leib und Seele, dass mir nichts fehle,
was meinem Leben fest Halt gibt und Grund.
Ich will jetzt fragen, will mutiger wagen,
neu zu gestalten, wo Kräfte noch walten,
die nur vertrauen vergangener Stund’.

Frei kann ich glauben, dem Bösen rauben
sein lähmend’ Wesen. In neuen Thesen
sprech’ ich von dem, der die Kirche bewegt.
Will frei bezeugen, mich nie wieder beugen
ängstlichem Sorgen, genieße den Morgen
den Gott mir heut’ in mein Leben gelegt.

Vom Paradiese träum ich und fließe
in neues Werden. Mitten auf Erden,
schafft deine Schöpfung im Wandel sich Raum.
Grenzen zu schieben, den Nächsten zu lieben,
bin ich berufen, und steig’ meine Stufen,
zu neuen Höhen und leb’ meinen Traum!



Samstag, 22. Oktober 2016

Stadt der Frauen - Tischrede beim Frauenmahl in Pforzheim

I.
Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg.
Machet Bahn! Machet Bahn! Räumt die Steine hinweg!
Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
Siehe, Gott lässt es hören bis an die Enden der Erde:
Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! (...)
Dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“ (Jes 62,10-12)


Die Stadt ist eine Frau!
Sie wird nicht nur bewohnt von Frauen, sie ist eine Frau.
Zumindest wenn es nach dem Propheten Jesaja geht.
Jerusalem - Stadt des Friedens, des Schaloms.
Tochter Zion. Braut Gottes. Königin und geachtete Mutter.
Eine schöne Frau ist sie.
Gezeichnet vom Leben, Leid erprobt, aber letztlich geliebt und vor allem standhaft.
Die Stadt der Zukunft. Die Stadt, die attraktiv ist.
Denn zu ihr strömen die Völker und niemand hat Angst vor diesem Strömen.
Von dieser Stadt geht der Frieden aus.

II.
Gehet ein durch die Tore! Machet Bahn! Räumt die Steine hinweg!
Richtet ein Zeichen auf für die Völker!


Mich fasziniert dieses Bild.
Und eine Stadt, in der ich als Frau lebe, soll genauso sein.
Eine Stadt mit offenen Toren und Türen,
wo Menschen willkommen sind
und die Steine weggeräumt sind, die uns hindern, dass wir aufeinander zugehen.

Ich denke weiter
und habe Frauen und Männer vor Augen, die einander zuhören und ausreden lassen.
Die sich über Fremde freuen und sie mitgestalten lassen.
Die aufeinander achten und gemeinsam dafür sorgen, dass es allen gut geht
und nicht nur denen, die immer schon das Sagen haben.

Ich habe vor Augen, dass die Unterschiedlichkeit der Bewohner und Bewohnerinnen als Reichtum gesehen wird. Und dass alle sich gleichermaßen verantwortlich fühlen, die Stadt zu gestalten.

Ich habe vor Augen, dass in dieser Stadt des Friedens kein Mensch abgewertet wird,
dass der Minirock genauso dazu gehört wie das Kopftuch,
dass das Kinderlachen laut ist,
dass Bäume gepflanzt werden und Blumen wild ausgesät.
Und auch die Rentnerinnen können gut leben in ihr.

Ich habe vor Augen, dass in dieser Stadt fröhliche Gottesdienste gefeiert
und nachdenkliche Gebete gesprochen werden,
dass lebhaft gestritten wird - aber immer mit Respekt -,
und dass alle um die Schatten der Vergangenheit wissen
und diese als Auftrag begreifen, dass die Vergangenheit Vergangenheit bleibt.
Das Weinen hat in dieser Stadt genauso seinen Platz wie das Lachen.
Und niemand wird klein oder mundtot gemacht.
Frauen dürfen in dieser Stadt den Mund aufmachen
und gleichberechtigt mit den Männern leiten und führen.

III.
Für Jesaja ist es eine Vision, ein Bild der Zukunft. Und das ist es für mich auch.
Denn die Gegenwart sieht anders aus.
Aber ich möchte dieses Bild der Zukunft bereits jetzt leben.
Und ich sehe, dass diese Stadt der Zukunft auch immer wieder aufblitzt. Jetzt.
Das macht mir Mut.

Es macht mir Mut, dass wir mittlerweile fast(!) selbstverständlich Bürgermeisterinnen, Unternehmerinnen, Professorinnen, Rektorinnen, Leiterinnen von Kulturhäusern und Kinos und Theologinnen in unserer Stadt haben.

Es ärgert mich, wenn in der Öffentlichkeit immer noch die Schuhe von Frauen wichtiger sind, als das, was sie sagen. Aber es macht mir Mut, dass wir dafür sensibler geworden sind und es nicht mehr einfach hinnehmen.

Es trifft mich persönlich, wenn in der Medienwelt ein einseitiges Bild von mir gezeichnet wird und sogar gewünscht wird, ich solle diese Stadt verlassen. Aber es macht mir Mut, dass der Widerspruch dazu laut und deutlich vernehmbar war, von Frauen und Männern dieser Stadt.

Es macht mich wütend, wenn das Thema „Gleichberechtigung“ instrumentalisiert wird für die Angst vor Flüchtlingen und vor dem Islam. Aber es macht mir Mut, dass sich so viele Menschen, Männer und Frauen, in unserer Stadt davon nicht beirren lassen. Stattdessen treffen sie sich im Weltcafé oder im Flüchtlingschor oder begleiten die Neuangekommenden auf die Ämter, organisieren Sprachkurse und Kinderbetreuung oder eine Hausaufgabenhilfe.

Es macht mir Sorge, dass die Schatten der Vergangenheit uns wieder einholen wollen und das rechte Gedankengut immer mehr in der bürgerlichen Mitte ankommt. Aber es macht mir Mut, dass viele von uns - und darunter viele Frauen! - dagegen halten, indem sie entlarven, diskutieren, öffentlich reden und auch demonstrieren. Es dürften ruhig noch mehr sein. Und wir Frauen sollten besonders wachsam sein, denn wir wissen, was es bedeutet, wenn Menschen in wertvoll und wertlos eingeteilt werden. 

IV.
Gehet ein durch die Tore! Machet Bahn! Räumt die Steine hinweg!
Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt!


Jerusalem - Von dieser Stadt geht der Frieden aus.
Ein Bild der zukünftigen Stadt.
Und als Theologin weiß ich auch, dass diese Stadt für uns Menschen nicht einfach machbar ist.
Auch für uns Frauen nicht. Denn selbst wir sind nicht unfehlbar.

Aber wir können diese Stadt aufblitzen lassen.
Uns von ihr inspirieren lassen.
Indem wir selber gestalten und Verantwortung übernehmen.
Indem wir die Belange dieser Stadt in die Hand nehmen und uns nicht bremsen lassen.
Indem wir uns öffentlich äußern und uns für eine Kultur des gegenseitigen Respekts einsetzen.

Gott hat uns geschaffen als sein Ebenbild, Frauen wie Männer.
Und im christlichen Verständnis gehören wir alle zur Familie Gottes als seine Töchter und Söhne.
Von Jesus Christus her gibt es kein oben und unten, keine ist unwichtiger als die andere.

Und das können wir ruhig jetzt schon leben.
Da müssen wir nicht auf das himmlische Jerusalem warten.
Räumen wir die Steine weg, die uns den Weg zueinander behindern.
Frau Stadt braucht uns bereits jetzt.
Machen wir sie sichtbar, diese Stadt der Zukunft - dort, wo wir sind.

(21. Oktober 2016)

Sonntag, 2. Oktober 2016

Der (Alb)Traum vom perfekten Menschen

Predigt zu Römer 3,21-30 
mit Bachkantate "Es ist das Heil uns kommen her" und Abendmahl
und anlässlich 70 Jahre Motettenchor
gehalten am 2.10.2016 in der Stadtkirche Pforzheim



Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, 
die vor Gott gilt, offenbart,
bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.
Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott,
die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, 

die glauben.
Denn es ist hier kein Unterschied:
sie sind allesamt Sünder
und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten,
und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung,
die durch Christus Jesus geschehen ist.

Den hat Gott für den Glauben hingestellt
als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit,
indem er die Sünden vergibt,
die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld,
um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen,
dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den,
der da ist aus dem Glauben an Jesus.

Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen.
Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke?
Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.
So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird
ohne des Gesetzes Werke,
allein durch den Glauben.
Oder ist Gott allein der Gott der Juden?
Ist er nicht auch der Gott der Heiden?
Ja gewiss, auch der Heiden.
Denn es ist der eine Gott, 

der gerecht macht die Juden aus dem Glauben
und die Heiden durch den Glauben.


I.
Der Traum vom perfekten Menschen.
Ein uralter Traum. So alt wie die Menschheit.
Brangelina - das perfekte Paar, das sogar einen Namen für seine Perfektion trug.
Die perfekte Musikerin, wo nie ein Ton falsch ist.
Der perfekte Politiker, der jede Entscheidung richtig trifft
und natürlich keine Drogen nimmt.
Die perfekte Athletin, die jedes Jahr neue Rekorde schafft - ohne Doping.
Der perfekte Pfarrer, der immer Zeit hat.
Der perfekte Urlaub, wo immer die Sonne scheint.
Das perfekte Kind, das lauter Einsen nach Hause bringt.
Der perfekte Chef, der immer geduldig ist.
Die perfekte Christin, deren Glaube endlos ist.
Der perfekte Flüchtling, der dankbar lächelnd alles erträgt.

Natürlich wissen wir, dass es keinen perfekten Menschen gibt.
Wir wissen sogar, dass der Traum vom perfekten Menschen gefährlich ist.
Denn wir wollen Menschen aus Fleisch und Blut sein.
Aber wir können von diesem Albtraum des perfekten Menschen nicht lassen.
Selbst Paulus nicht, wenn er vom Mangel spricht.

Der alte Traum von Perfektion.
Und das Wissen, das Leiden, nie gut genug zu sein, nie perfekt sein zu können.
Dahinter und davor alte Fragen, die immer noch neu sind: (1)
Wie kriege ich mein Leben so hin, dass es gelingt?
Was kann ich machen, dass sie mich wieder liebt?
Was kann ich tun, damit die Angst vergeht?
Ich habe viel gelernt.
Aber wie schaffe ich das Examen, das Abitur, den Realschulabschluss?
Was muss ich machen, damit ich eine Lehrstelle bekomme?
Was stellen wir an, damit wir – und nicht die anderen – die Wohnung bekommen?
Und hoffentlich halte ich durch.
Ja, ich muss durchhalten, damit der Chef merkt, dass ich unverzichtbar bin.
Besser sein als die anderen.
Schneller. Stabiler. Schlanker. Klüger. Lauter. Bedeutender...

II.
Die Qual bleibt.
Auf Knien nach Lourdes oder gar Compostela wallfahren heilt nicht.
30 Rosen nehmen nicht das schlechte Gewissen. Die Qual bleibt.

Martin Luther hat sich selbst bestraft.
Meinte, sich die Liebe Gottes verdienen zu müssen.
Er hat sogar nachts auf der Holzpritsche seine einzige Wolldecke weggelegt,
weil er dachte, das gefällt Gott.
Unter uns gibt es viele, die sich selbst bestrafen.
Die immer mehr leisten wollen. Immer schöner sein. Immer fitter.
Und sie sind unglücklich, wenn sie versagen.
Und wie sie sich beurteilen, so urteilen sie auch über andere.
Hat der das auch verdient?
Das Geschäft mit der Angst ist hochmodern.

Wir sind süchtig danach, Menschen einzuteilen,
ob sie es verdient haben dazu zugehören.
Zum Staat. Zum Land. Zu den Gläubigen.
Zu den Gewinnern. Zu den Reichen.
Zu den Begabten. Zu den Schönen. Zu den Schlanken.
Wir sind süchtig danach, wahrgenommen zu werden.
Gesehen zu werden. Damit wir dazugehören.
Damit wir es verdienen, dazu zugehören.

III.
Aber das brauchen wir nicht.
Wir brauchen es nicht zu verdienen,
weil wir schon längst dazu gehören.
Zu Gott. Zu dem, was das Leben ausmacht.

Paulus sagt das so:
Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung,
die durch Christus Jesus geschehen ist.


Ohne Verdienst.
Du musst nicht perfekt sein.
So wie du bist, bist du toll. Liebenswert. Unendlich wertvoll.
So wie du bist, gehörst du zu Gott.
So und nicht anders gehörst du zur Welt.
Du musst dich nicht quälen und verbiegen.
Und andere musst du auch nicht quälen und verbiegen.

Es ist das Heil uns kommen her
Von Gnad und lauter Güte.
Die Werk, die helfen nimmermehr,
Sie mögen nicht behüten.
Der Glaub sieht Jesum Christum an,
Der hat g‘nug für uns all getan,
Er ist der Mittler worden.
(2)

IV.
Jesus ist ans Kreuz gegangen.
Dort, wo die Opfer sind. Die Looser.
Dort, wo die Untauglichen und die Ausgestoßenen hingehören.
Dort, wo Verkrümmungen sichtbar werden, auch die inneren.
Dort, wo du nichts bist. Wo keiner hinsieht. Wo niemand wichtig ist.
Wo die Flucht nicht mehr weitergeht.
Wo die Grenzen des Lebens sind.
Dorthin ist Jesus gegangen.
Und mit ihm Gott. In ihm Gott.

Und dort findet er dich.
Er sieht dich an und sieht auch das, was du selber nicht ansehen magst.
Er sieht dich mit Liebe an.
Kein Kontrollblick, ob du tauglich bist.
Kein kritischer Blick, ob du fromm genug bist,
oder klug genug, oder schön genug.
Nein, der Blick des Liebenden.
Der Blick eines Gottes, der dich an seinen Tisch einlädt.
Der sich dazu setzt und sich freut, dass du da bist.
Der dich nicht ausfragt, der dir aber zuhört.

Ob sichs anließ, als wollt er nicht,
Lass dich es nicht erschrecken;
Denn wo er ist am besten mit,
Da will ers nicht entdecken.
Sein Wort lass dir gewisser sein,
Und ob dein Herz spräch lauter Nein,
So lass doch dir nicht grauen.
(3)

V.
An diesem Tisch mit Gott kannst du aufrecht sitzen.
Nichts, was dich krumm macht.
Oder klein. Ganz und gar du.
Und dann öffnest du deine Augen
und entdeckst noch andere, die auch mit am Tisch sitzen.
Genauso geliebte Gottes Kinder.
Sie sind so ganz anders. Aber sie gehören dazu, wie du.
Eure Töne kommen zusammen, wie in einem Chor.
Und weil du unter Gottes Blick ein anderer werden kannst,
siehst du auch die anderen anders an.
Du liebst nicht, um Gott zu gefallen.
Aber weil du Gott gefällst, kannst du lieben.
Und die Liebe, die dich umfängt, willst du weitergeben.

Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung,
die durch Christus Jesus geschehen ist.


Du musst nicht perfekt sein. Du musst Gott nicht gefallen.
Und du musst nicht um den besten Platz am Tisch kämpfen.
Denn da sitzt du schon.
Und darum kannst du dich auch über die anderen am Tisch freuen.
Und du singst mit ihnen, weil die Musik grenzenlos ist.
Du baust mit ihnen den Tisch größer,
damit da noch mehr dran sitzen können.
Auch die, die eine andere Sprache sprechen.
Oder die gerade erst angekommen sind.
Auch die mit den zerlumpten Kleidern
und die mit den bösen Träumen.
Auch die, die nichts vorzuweisen haben,
noch nicht mal einen Pass.

VI.
Und weil du weißt, dass sie Kinder Gottes sind wie du, setzt du dich für sie ein.
Du lässt nicht zu, dass sie beschimpft werden,
oder dass man sie schlägt, oder ihre Heime in Brand steckt.
Und du lässt nicht zu, dass in unserem Land Menschen aussortiert werden.
(Weil sie vielleicht nicht "deutsch" genug sind)
Denn Gott kennt keine Nation und keine Hautfarbe und keine Religion.
Bei Gott ist niemand wichtiger oder besser oder wahrer als der andere.
Wer das Gegenteil denkt, hat Gott nicht verstanden.
Denn: 
Es ist der eine Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben
und die Heiden durch den Glauben.


Du musst nicht perfekt sein. Und die anderen auch nicht.
Aber zusammen könnt ihr lieben.
Zusammen könnt ihr singen und himmlische Musik machen.
70 Jahre oder noch länger.
Zusammen könnt ihr essen und reden und euch ansehen.
Zusammen könnt ihr streiten und versöhnen
und ringen um das, was die Welt und unser Land braucht.
Zusammen könnt ihr euch einsetzen
für die, die noch keinen Platz am Tisch haben.
Oder im Land. Oder in den Herzen.
Alles das geht, weil du nicht perfekt bist.
Gott ist es, der dich versöhnt - auch mit dir selber.
Es ist das Heil uns kommen her
Von Gnad und lauter Güte.

Und das ist, was zählt.
Amen.

(1) Folgender Abschnitt enthält Anregungen von Gerhard Engelsberger
(2) aus der Bachkantate, Teil 1
(3) aus der Bachkantate, Teil 7