Samstag, 4. März 2023

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Von Hiob und unsäglichem Leid und von guten Freunden

Predigt zu Hiob 2
(mit herzlichem Dank an Pfarrer Joachim Römelt aus Solingen, dessen Vorlage mir sehr geholfen hat, meine Worte zu diesem schweren Text zu finden)

 1.
Von heute auf morgen stürzt die Welt ein. Ein Erdbeben begräbt die Liebsten unter den Trümmern des Hochhauses. Ein russischer Despot schickt Panzer in das eigene Land. Bomben überziehen die eigene Stadt mit Feuer.
Und immer wieder diese Frage: Warum?
In 1000 Sprachen. Why? Neden? Chomu? Warum?
Ein Klageruf in den Himmel, der nur noch Zerstörung bringt.
Eine Klageruf, der älter als die Bibel ist.
Der Versuch, eine Logik dahinter zu finden.
Eine Erklärung für all dieses ungerechte Leiden.
Hören wir auf das Buch Hiob (Kapitel 2):

2.
Eines Tages geschah es, dass die Götterwesen kamen, um vor den Ewigen zu treten; da kam auch der Satan in ihre Mitte, vor den Ewigen zu treten. Da sprach der Ewige zum Satan: »Wo kommst du her?«  Der Satan antwortete dem Ewigen und sprach:
»Vom 'Rumschweifen auf der Erde und vom Hin-und-Her-Wandern auf ihr.«
Da sprach der Ewige zum Satan: »Hast du Acht gehabt auf meinen Knecht Hiob?  Ja, so wie er ist keiner auf der Erde –
ein Mann, so ohne Tadel und geradlinig, so fromm und dem Bösen feind! Auch jetzt noch hält er fest an seiner Frömmigkeit –
und du hast mich gegen ihn gereizt ihn umsonst zu verderben.«

Da antwortete der Satan dem Ewigen und sprach:
»Haut für Haut! Alles, was ein Mensch hat, gibt er für sein Leben.
Recke doch einmal deine Hand aus und rühre sein Gebein an und sein Fleisch  –  ob er dir dann nicht ins Angesicht den Abschiedssegen geben wird?«  Da sprach der Ewige zum Satan: »Da! Er ist in deiner Hand, nur sein Leben bewahre!«

Da ging der Satan weg vom Angesicht des Ewigen und schlug den Hiob mit bösem Geschwür von seiner Fußsohle bis zu seinem Scheitel.  Der nahm sich eine Tonscherbe, um sich damit zu kratzen, und er saß mitten im Schutthaufen.

Da sagte seine Frau zu ihm: »Auch jetzt noch hältst du fest an deiner Frömmigkeit. Gib Gott den Abschiedssegen und stirb!«
Da sprach er zu ihr: »Wie ein dummer Mensch redet, redest auch du.
Das Gute nehmen wir doch auch an von  Gott und das Böse sollten wir nicht annehmen?« Mit all dem versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.

Es hörten aber die Freunde Hiobs von dem ganzen Unheil, das über ihn gekommen war. Da kamen sie, jeder von seinem Ort: Elifas, der Temaniter, Bildad, der Schuachiter, und Zofar, der Naamatiter.
Die verabredeten sich hinzugehen, ihm zuzunicken und ihm Trost zu geben. Sie erhoben von ferne ihre Augen und erkannten ihn nicht wieder. Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten. Sie zerrissen ein jeder sein Obergewand und streuten Aschenstaub auf ihr Haupt zum Himmel hin. Dann setzten sie sich zu ihm auf die Erde – sieben Tage lang und sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort, denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.


3.
Ich stelle mir Hiob vor, wie er da in der Asche sitzt. Und seine kaputte, geschundene, juckende Haut kratzt, mit einer Tonscherbe.
Und ich werde ganz still, wenn ich mir vorstelle, was dieser Mann kurz vorher erlebt hat. Seine Kinder sind alle ums Leben gekommen – in einem eingestürzten Haus. Aus dem Nachbarland sind bewaffnete Gruppen eingefallen, haben sein ganzes Vieh geraubt und seine Knechte umgebracht. Den Rest hat das Feuer erledigt. Das war jetzt im Text eben nicht zu hören, das findet ihr im Kapitel davor.
Und ich höre das Schluchzen der Ukrainerin am Freitag Abend in der Altstadtkirche als sie von ihrem Onkel erzählt und der ihr so sehr fehlt.
Ich höre die Geschichte von der Pforzheimerin, die ihren Bruder im brennenden Keller vor 78 Jahren verloren hat.
Ich sehe diesen Vater aus der Türkei vor mir, der die Hand seiner unter den Trümmern des Erdbeben verschütteten 15-jährigen Tochter hält.
Und frage mich: Wie hält man das aus? Wie viele Menschen sitzen da in der Asche ihres Lebens und kratzen ihre Wunden?

4.
Und es trifft wieder einmal die, die am wenigsten dafür können. Die einfachen Leute in der Ukraine, in der Türkei, in Syrien trifft keine Schuld an dem, was da passiert. Da haben ganz andere Menschen Entscheidungen getroffen, Befehle erteilt oder am Bau gepfuscht. Und die, die nichts dafür können, müssen es ausbaden.

Ich halte das schwer aus. Zu tief ist in mir der Wunsch, dass es in dieser Welt irgendwie gerecht zugeht. Dass Menschen, die niemandem was zu Leide tun, auch selbst in Frieden leben können. Und dass auf der anderen Seite die Kriegsverbrecher dieser Welt alle vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag landen.
Das wäre doch nur fair! Und manchmal ist das ja auch so. Manchmal ernten Menschen genau das, was sie gesät haben, im Guten wie im Schlechten. Aber oft eben auch nicht. Meistens nicht.

5.
Warum? Warum ist das so? Warum lässt Gott das zu?  
Ich wünschte, ich könnte euch jetzt die Antwort präsentieren. Aber ich habe sie nicht. Überhaupt nicht.

Und ich glaube, es gibt Leid, das darf man gar nicht deuten oder erklären.
In den folgenden Kapiteln des Hiobbuches versuchen es die Freunde von Hiob: eine Erklärung zu finden.
Sie deuten sein Leiden als Strafe Gottes. Wie das so oft in der Geschichte gemacht wurde.
„Irgendwas musst Du doch getan haben, dass Dich das mit voller Wucht trifft!“
Aber Hiob wehrt sich mit aller Kraft, die er noch hat, gegen diese Deutungen. Und gegen die Vorwürfe, die darin stecken.  Am Ende bekommt er von Gott recht. Aber so weit sind wir hier noch nicht.
Hier ist ein Mensch gerade am Boden zerstört - mit Haut und Haaren. Und ja: vielleicht gibt es das, dass ein Leiden eine Botschaft enthält, die wir verstehen sollen. Aber es gibt auch Leid, das einfach nur schrecklich ist. Das keinen tieferen „Sinn“ enthält. Jedenfalls nicht für uns.

6.
Vielleicht ist das die größte Versuchung für uns heute: dass wir möglichst schnell viele Antworten geben. Dass wir wissen, was richtig und falsch ist. Dass wir zu wissen meinen, was jemand in seiner Not braucht.

Viele finden ja, dass Hiobs Frau hier die größte Versuchung für Hiob ist, weil sie ihn angeblich überreden will, sich von Gott abzuwenden. Aber das tut sie nicht. Sie versucht nur - wie seine Freunde auch - einen Grund zu finden. Im Gegensatz zu den Freunden sieht sie den Grund aber bei Gott.
Und so falsch ist das ja auch nicht, wie wir wissen.
Hiob versteht das noch nicht. Auch das ist auszuhalten.
Und weder er noch seine Frau haben eine Antwort auf dieses Warum.

7.
Und dann sind da noch die drei Freunde von Hiob.
Die hören von all dem, was ihm zugestoßen ist.  Und sie zögern keinen Moment, sondern machen sich sofort auf den Weg.
Allein das ist schon toll. Wie viele Menschen tun das nicht! Sondern ziehen sich eher zurück, wenn jemand im Freundeskreis schwer erkrankt oder etwas anderes Schlimmes erlebt.
Das machen die Freunde hier nicht. Sie ziehen sofort los.
Vielleicht legen sie sich Worte zurecht, die sie sagen wollen. Vielleicht suchen sie sich Trostworte aus der Bibel heraus, von denen sie denken: das könnte Hiob guttun. Aber dann sehen sie, was los ist.
Da wartet nicht der alte, vertraute Freund auf sie, da wartet ein Mann, den sie nicht wiedererkennen, so fertig ist der, zerkratzt und gebeugt und überall gezeichnet von einem unsäglichen Schmerz.
Damit hat keiner von ihnen gerechnet. Und ihre mitgebrachten Worte zerrinnen ihnen unter den Fingern wie Sand.

Es gibt Momente, da ist jede Antwort falsch. Und jetzt kommt das, was mich an dieser Geschichte so beeindruckt. Die drei hauen nicht ab. Sie bleiben. Und sie sagen – nichts! Gar nichts! Sie schreien. Und dann schweigen sie. Nicht nur zehn Minuten. Ganze sieben Tage und Nächte sitzen sie mit Hiob auf der Erde und schweigen. Und ich glaube, das ist der einzige Trost, den sie diesem Mann und seiner Frau in dieser Situation überhaupt geben können: Sie sind da - sonst nichts.

8.
Manchmal ist das einzig Hilfreiche, was wir tun können, still zu sein. Und nicht sagen: „Das wird schon wieder! Die Zeit heilt alle Wunden.“ Oder so ähnlich. All diese Worte sind gut gemeint, aber sie bringen unterschwellig die Botschaft: Bitte sei schnell wieder fröhlich und normal! Aber das geht nicht so einfach.
Und manchmal gibt es nichts zu sagen und erst recht nichts zu deuten und zu verstehen.

Manchmal kannst du nur ohne Worte was von Gott erzählen: indem du einfach da bist, nicht fliehst, dich nicht zurückziehst, aushältst, dass die Dinge sind, wie sie sind. Und vielleicht eine Suppe mitbringen.
Oder das Bad putzen. Oder so.

Manchmal ist es das Beste in so einer Situation: zu wissen, zu erfahren: ich bin nicht allein! Und es ist momentan vielleicht auch das Einzige, was wir den Menschen in der Ukraine oder im Erdbebengebiet tun können. Da sein. Unterstützen. Geld spenden. Zum Essen hier einladen. Menschen aufnehmen und sie erzählen lassen. Sie fragen, was sie brauchen. Und für sie beten.

9.
Wir haben so wenig Antworten und Lösungen. Einfache Wahrheiten gibt es nicht. Erst recht nicht, wenn von heute auf morgen die Welt einstürzt. Aber wir können füreinander da sein. Für die Menschen in der Ukraine und an vielen anderen Orten. Wir können beten, dass unser Glaube nicht kaputtgeht an den Dingen, die wir erleben. Dass wir unsere Hoffnung auf Frieden nicht verlieren!

Bleibt nicht alleine mit euren Fragen, euren Zweifeln!
Meint nicht, dass ihr das selber hinkriegen und mit Euch selbst ausmachen müsst!
Sucht Euch Menschen, die einfach für euch da sind!
Und gerade wenn ihr mit Gott kaum noch rechnen könnt: brecht das Gespräch mit ihm nicht völlig ab! Haltet ihm genau das hin: dass er Euch fehlt. Dass ihr zutiefst an ihm zweifelt.
Fragt ihn: „Warum Gott? Warum dieses Leid?“
Ihr seid damit in guter Gesellschaft mit dem, der ebenfalls diese Frage stellte: mit Jesus am Kreuz.
Warum, Gott? Warum hast du mich verlassen?

Lasst uns zusammen aushalten, wenn da lange keine Antwort kommt.
Und vielleicht darauf hoffen, dass Gott irgendwann wieder redet.
Wie bei Hiob ganz am Ende.
Und bei Jesus am dritten Tag.
Und seitdem immer wieder.
Amen.

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