Über Liebe und vollkommene Unvollkommenheiten
Predigt zu 1. Korinther 13
1.
Stellt euch vor, zwei Menschen wollen heiraten.
Sven und Lisa (1) sind seit 5 Jahren zusammen, haben eine nette Wohnung in Berlin,
ja, und nun soll der nächste Schritt folgen.
Ja zueinander sagen und das Ganze mit Freundinnen und Verwandten feiern.
Groß soll die Feier nicht sein.
Der Termin ist bald gefunden 21. Mai.
Und mit dem Standesamt und der Feier-Location klappt auch alles.
Lisa hätte sich eine kirchliche Trauung gewünscht –
seit ihrer Konfirmation mag sie es, gesegnet zu werden.
Dass ihr jemand sagt, dass Gott bei ihr auch im neuen Lebensabschnitt ist.
Aber Sven hat mit Kirche und Glauben und so nichts am Hut.
Naja, da will Lisa ihm das nicht aufdrücken, was nicht zu ihm passt.
Eines Tages liest Sven in seiner Zeitungs-App von einem Hochzeitsfestival in Neukölln.
Ausgerechnet an Tag ihrer standesamtlichen Hochzeit!
Man könne einfach so vorbei kommen, heißt es. Ohne Anmeldung.
Das perfekte Geschenk für Lisa, die perfekte Überraschung - denkt Sven.
Die Kirche liegt quasi auf dem Weg zwischen Standesamt und Lokal.
Da kann ich dann doch über meinen Schatten springen – ihr zu Liebe.
Ja, und dann ist es so weit. Am 21. Mai 2022.
Als sie „zufällig“ an der Genezarethkirche vorbeilaufen, fragt er sie:
wollen wir kirchlich heiraten?
Und dann geht die gesamte Hochzeitsgeschellschaft hinein.
Ein paar Gespräche, dann der kleine Gottesdienst und vor allem der Segen am Schluss.
Und Sekt gibt es auch noch.
Lisa ist vollkommen von den Socken. DAS hat Sven für sie getan! Aus Liebe.
2.
Stellt euch vor, da gibt es etwas, worüber man eigentlich weniger sprechen sollte als es einfach tun:
lieben. Gott lieben, meine Nächste lieben, mich selber lieben, mein Kind lieben,
meine Mutter, meinen Partner, meine Freundin.
Einen Film lieben, Musik lieben, ein Buch oder den Garten lieben, eine Stadt lieben,
das Meer oder das Schwimmen im Meer. Viele kleine bunte Fetzen der Liebe.
Jede von uns weiß von der Liebe und jeder von uns kennt sie.
Und jeder kennt und jede fürchtet die Sehnsucht nach ihr,
vor allem, wenn die Liebe fehlt oder an ihre Grenzen kommt.
3.
(1. Korinther 13, 1-3)
Stellt euch vor:
Ich kann die Sprachen der Menschen sprechen und sogar die Sprachen der Engel.
Wenn ich keine Liebe habe, bin ich wie ein dröhnender Gong oder ein schepperndes Becken.
Oder stellt euch vor:
Ich kann reden wie ein Prophet, kenne alle Geheimnisse und habe jede Erkenntnis.
Oder sogar: Ich besitze den stärksten Glauben – sodass ich Berge versetzen kann.
Wenn ich keine Liebe habe, bin ich nichts.
Stellt euch vor: Ich verteile meinen gesamten Besitz.
Oder ich bin sogar bereit, mich bei lebendigem Leib verbrennen zu lassen.
Wenn ich keine Liebe habe, nützt mir das gar nichts.
4.
Stellt euch vor, diese Worte sind von Paulus.
Ein Lied. DAS Lied der Liebe. Gedichtet für Schwestern und Brüder in Korinth.
Eine aktive, eine lebendige, eine starke Gemeinde.
Sie können viel, sind begabte Redner und großzügige Spenderinnen.
Sie können einander begeistern, erklären die Bibel, beten viel und wollen alles richtig machen.
Aber anstatt sich daran zu freuen, gibt es Streit: Wer ist besser? Wer macht es richtig?
Es entstehen Gruppen, die miteinander konkurrieren.
Und man wirft sich gegenseitig vor, nicht christlich genug zu sein.
Ich bin der wahre Christ, weil ich in Zungen rede. Du nicht.
Ich bin die wirkliche Christin, weil ich mein letztes Hemd hergebe. Du nicht.
Ich bin wahrhaft christlich, weil ich mich an die Speisegebote halte. Du nicht.
Fetzen der Lieblosigkeit.
5.
Stellt euch vor, sagt Paulus, damit seid ihr falsch gewickelt.
Denn egal wie konsequent, wie genial oder wie gläubig ihr seid -
wenn die Liebe nicht dabei ist, nützt euch das alles nichts. Es zählt alles nichts.
Lieblosigkeit macht alles kaputt.
Ihr seht das an eurem Abendmahl, liebe Geschwister in Korinth.
Da fangen die einen schon an und lassen nichts mehr übrig.
Die, die später kommen, weil sie als Sklaven so lange arbeiten müssen,
sehen nur noch die letzten Krümel in leeren Körben.
Ihr zeigt ausgerechnet mit dem Mahl der Liebe, dass die Not der Armen euch nicht interessiert.
Da ist dann keine Liebe mehr.
Es ist lieblos, wenn ihr das Wort Gottes zu einer Zwangsjacke macht.
Wenn ihr eure Art zu glauben zum Maßstab für alle erhebt, dann ist da keine Liebe mehr.
Noch nicht mal ein Fetzen davon.
6.
Stellt euch vor, ihr liebt.
Stellt euch vor, die Liebe wäre in allem, was ihr sagt und tut, dabei.
Und wenn es nur kleine Fetzen wären.
Wie würden eure Leserbriefe aussehen?
Wie würdet ihr über junge Menschen sprechen,
die sich in ihrer Sorge um die Zukunft der Erde auf die Straße kleben?
Könntet ihr dann noch denken, dass Männer andere Männer nicht lieben dürfen
und Frauen keine anderen Frauen, nur weil ein paar Sätze in der Bibel das sagen?
Würdet ihr hinnehmen, wenn Geflüchtete als Verbrecher abgestempelt werden?
Würdet ihr dann dafür sorgen wollen,
dass möglichst keine Geflüchteten mehr in Pforzheim bleiben können?
Ich weiß, es ist kompliziert. Auch mit der Liebe. Oder doch nicht?
7.
(1. Korinther 13, 4-7)
Die Liebe ist geduldig. Gütig ist sie, die Liebe.
Die Liebe ereifert sich nicht.
Sie prahlt nicht und spielt sich nicht auf.
Sie ist nicht unverschämt. Sie sucht nicht den eigenen Vorteil.
Sie ist nicht reizbar und trägt das Böse nicht nach.
Sie freut sich nicht, wenn ein Unrecht geschieht.
Sie freut sich aber, wenn die Wahrheit siegt.
Sie erträgt alles. Sie glaubt alles. Sie hofft alles. Sie hält allem stand.
8.
Stellt euch vor: Liebe ist kein Gefühl, keine momentane Glücksstimmung.
Liebe tut etwas - sie freut sich, lächelt, weint, glaubt.
Ja, sie macht, sie handelt, und zwar gegen den Strom,
gegen den Augenschein, aber viel vernünftiger als du denkst.
Liebe befreit deinen Verstand von seinem Egoismus,
deine Glauben von Herrschsucht,
und sie macht dein Herz weiter.
Liebe ist radikal, lässt ganz neu auf die Welt schauen,
widerspricht aber auch mal, wenn Leute Blödsinn erzählen.
Vor allem aber macht die Liebe eins:
Sie fragt nicht danach, ob es erlaubt ist zu lieben.
Das alles macht die Liebe verletzlich. Und jede, die liebt, auch.
Und ich schaue auf Jesus und sehe, wie er diesen Weg der Liebe geht.
Wie er deshalb angegriffen wird, sogar ans Kreuz geht. Wie er sich verwundbar macht.
Diese Liebe lässt ihn noch zuvor zum Blinden bei Jericho gehen (2).
Jesus kann wegen dieser Liebe nicht einfach an ihm vorbei gehen,
sondern gibt ihm das Augenlicht zurück.
Eine Liebe, die heilt und versöhnt und neu anfangen lässt.
Jesus ist diese Liebe, so vollkommen, so verwundbar, dass wir immer wieder an ihr scheitern.
9.
Stellt euch vor, aus diesem Grund schreibt Paulus (1. Korinther 13, 8-13):
Die Liebe hört niemals auf.
Prophetische Eingebungen werden aufhören.
Das Reden in unbekannten Sprachen wird verstummen.
Die Erkenntnis wird an ihr Ende kommen.
Denn was wir erkennen, sind nur Bruchstücke,
und was wir als Propheten sagen, sind nur Bruchstücke.
Wenn aber das Vollkommene kommt, vergehen die Bruchstücke.
Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind. Ich urteilte wie ein Kind und dachte wie ein Kind.
Als ich ein Mann geworden war, legte ich alles Kindliche ab.
Denn jetzt sehen wir nur ein rätselhaftes Spiegelbild.
Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich nur Bruchstücke.
Aber dann werde ich vollständig erkennen, so wie Gott mich schon jetzt vollständig kennt.
Was bleibt, sind Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei.
Doch am größten von ihnen ist die Liebe.
10.
Stellt euch vor:
Alles, was ich mache und tu, was ich erkenne und weiß,
alles das ist Stückwerk und ist begrenzt -
und vor allem nur ein Ausschnitt dessen, was möglich ist.
Ich kann nicht alles sehen. Noch nicht.
Ich kann nicht alles wissen. Noch nicht. Und das ist gut so.
Ja, mein Leben bleibt Fragment
und auch mein Glauben und Lieben und Hoffen bleiben Fragment.
Stückchen und Fetzen.
Lieben - das klingt so "einfach": "Einfach" tun.
Gott lieben und die Nächste. Mich selbst sogar.
Meinen Partner, mein Kind, die Vermieterin, gar den Politiker, der sich lieblos äußert.
Diese alle lieben? Puh!
Wie gut, dass auch Paulus sieht, dass ich gar nicht vollkommen sein kann.
Meine Liebe bleibt Stückwerk.
Der Moment, dass alles ganz und heil ist, kommt noch.
Aber wann, weiß ich nicht. Und Paulus auch nicht.
11.
Aber vielleicht genügt das ja?
Gott sieht mich ganz und schaut mich mit liebevollen Augen an.
Sie ermuntert mich, mit den kleinen Fetzen der Liebe schon mal anzufangen.
Vielleicht springe ich auch so spontan über meinen Schatten wie Sven,
der für seine Lisa eine kirchliche Hochzeit organisiert,
obwohl er mit der Kirche nicht so viel anfangen kann.
Und ob ich in einem Streit Recht habe oder nicht, ist mir vielleicht völlig egal.
Vielleicht setze ich mich doch mal hin
und schreibe ich einen Leserbrief, der Fetzen der Liebe enthält –
wenn sonst nur Gift und Galle gespuckt wird.
Und vielleicht frage ich den jungen Mann auf dem Leopoldsplatz,
der in einer fremden Sprache in sein Handy spricht, ob ich ihm helfen kann.
Und wer weiß, vielleicht erzählt er mir seine Geschichte
und wir trinken zusammen einen Tee -
einfach weil wir uns füreinander interessieren?
Ja, ich fange mit den kleinen bunten Fetzen der Liebe an und füge sie mit euren zusammen.
Und wenn wir diese Fetzen der Liebe zusammenschlingen,
dann öffnen sich Kirchen für alle Svens und Lisas
und unser Stückwerk namens Liebe ist stärker
als jeglicher Hass in den Leserseiten der Zeitungen.
Ich will, dass wir uns ganz neu sehen wie der Blinde von Jericho – als Geliebte Gottes.
Wir machen die Türen zur Liebe weit auf.
Stellt euch vor, vielleicht verändern wir damit die Welt?
Mit einer Liebe, die jetzt ein Stückwerk ist und irgendwann vollkommen.
Amen.
(1) Die Namen sind frei erfunden. Informationen zum Hochzeitsfestival findet man u.a. unter https://www.mi-di.de/materialien/heiraten-einfach-anders-zwanglos-authentisch-und-segensreich
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