Freitag, 29. März 2024

Es schreit zum Himmel


Kreuzestod, Kindesmissbrauch und Einsamkeit

Predigt zu Matthäus 27, 33-56 

(mit Dank an die "Predigtbuddies" mit Holger Pyka für die Anregung (1)
und großem Dank an Detlev Zander, der seine Geschichte so offen und mutig erzählt!)

 Bibeltext s.u. (2)

Achtung: Triggerwarnung Gewalt und Missbrauch!

1. Der Schrei zum Himmel

Es schreit zum Himmel.
Da wird einer zum Gespött der Leute.
Angespuckt. Verhöhnt. Erniedrigt. Gequält.
Matthäus lässt nichts aus. Weder den Schmerz, noch die Einsamkeit.
Und auch nicht die brutale Gemeinheit aller drumherum.
Und wie der Teufel einst in der Wüste (Matthäus 4) verspotten sie ihn mit ihrem
„Wenn du der Sohn Gottes wärest, dann…“
Nein, es gibt kein „dann“ für Jesus. Nicht jetzt. Nicht hier am Kreuz.
Nicht mit der Dornenkrone und dem Blut und den Nägeln im Fleisch.
Ohnmächtig wie nur einer ohne Macht sein kann.
Ausgeliefert den Folterern und denen, die sich daran ergötzen.
Für diese ist das alles nicht mehr als ein Spektakel.
Draußen vor der Stadt und doch für alle sichtbar.
Da ist kein „es ist vollbracht“, kein Ausblick ins Paradies, kein „Vater, vergib“.
Nur nackte Gewalt. Sie schreit zum Himmel.
Und er, Jesus, schreit zum Himmel.
Wer hört ihn?

2. Das Schreien der Alleingelassenen

Es schreit zum Himmel.
Und ich höre das Schreien der Kinder, die in evangelischen Kinderheimen gefoltert wurden.
In unseren Häusern.
Ich höre Detlev Zander, der im SWR-Nachtcafé von Korntal erzählt.
Nicht weit weg von hier.
Wie er dort als 4jähriger seinen Peinigern ausgeliefert war  -
im Fahrradkeller, während oben drüber gebetet wurde.
Detlev schrie zum Himmel.
Und niemand hörte ihn.

Ich aber höre von ihm, wie er noch 40 Jahre später verhöhnt wird.
Du scheinst ja ein gutes Gedächtnis zu haben.
Du willst ja nur Geld.
Du willst unsere Kirche zerstören.

Diese Stimmen waren lauter als die von Detlev.
Sie wurden gehört. Detlev nicht.

Ja, es schreit zum Himmel.
Und es gehört zur nackten Gewalt, dass niemand hört.
Dann bist du allein mit deinem Leid.
Das ist Methode.

So sagte vor 3 Jahren Alexei Navalny (3):
"das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat,
was unser ganzes System solchen Menschen sagen will:
“Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger.”
Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist. (…)
Ja, die Sache mit der Einsamkeit ist sehr wichtig.
Es ist ein sehr wichtiges Ziel dieses Regimes. (….)
Wissen Sie, die Burschen, die den Gefangenentransport bewachen, sind tolle Jungs,
und meine Wächter im Gefängnis sind auch okay – aber sie reden nicht mit mir.
Es wurde ihnen wohl verboten. Sie sagen nur gelegentlich etwas Dienstliches.
Und das ist eben auch so eine Sache, damit ich mich ständig einsam fühle.“


3. Der Himmel reagiert

Es schreit zum Himmel.
Doch der Himmel hört auf Jesus und reagiert. Und zwar laut!
Er reagiert mit Erdbeben und zerbrechenden Felsen und offenen Gräbern.
Und mit Dunkelheit.

Im Talmud heisst es:
Wenn der König trauert, löscht er die Lampen aus.
Wenn Gott trauert, löscht er Sonne und Sterne.

Gott trauert. Und seine Trauer legt sich über das ganze Land.
Was da am Kreuz geschieht, bleibt nicht unbemerkt,
es kann nicht unbemerkt bleiben.

Unfassbares Leid - wir versuchen wegzusehen.
Es soll nicht bemerkt werden. Niemand soll hören.
Ja, die Hinrichtung von Jesus findet zwar öffentlich statt,
aber doch draußen vor der Stadt,
weit weg vom Leben innerhalb der Stadtmauern Jerusalems.
Dieser Tod hat mit uns nichts zu tun, will man damit sagen.
Er gehört nicht zu uns. Lasst ihn draußen.
Schaut hin, aber lasst es nicht in euch hinein. Nicht in euer Herz.


Doch Gott lässt das nicht zu.
Gott hört. Gott sieht. Und wird laut.
Wenn jemand auf so brutale Weise ums Leben kommt und gequält wird,
macht Gott das Licht aus. Lässt es donnern und blitzen.
Und die Gewalt da draußen trifft ins Mark, mitten ins Zentrum.
Der Vorhang zum Allerheiligsten zerreißt.
Wenn einem Menschen Leid zugefügt wird,
fällt die Grenze zwischen draussen und drinnen in sich zusammen.
 
Am Kreuz schreit es zum Himmel und Gott schreit stumm zurück:
ich bin da und sehe, was geschieht.
Ich bin da, bei meinem Kind.
Wenn es zum Himmel schreit, schreit auch der Himmel.
Und es bleibt nicht unbemerkt. Es wird aufgedeckt.

4. Gott hört und andere auch

Und das ist die Botschaft von Matthäus für mich heute.
Neben den vielen Botschaften vom Kreuz,
die in unseren Liedern und Traditionen immer wieder auch gesagt werden,
ist das heute die Botschaft für mich:
Unfassbare Grausamkeit, unfassbare Ungerechtigkeit bleibt nicht verborgen.

Gott sieht hin und tut was.
Gott ist da und trauert und schreit
und Gott sorgt dafür, dass auch wir hinsehen und handeln.


Ja, Matthäus erzählt so viel Brutales und Unversöhnliches.
Denn das ist das Kreuz auch und wir müssen aufpassen,
dass wir es nicht schön reden, auch wenn es kaum auszuhalten ist.

Aber Matthäus erzählt noch mehr.
Da sind nicht nur die Folterer und die Verhöhnenden und die johlende Menge.
Matthäus erzählt auch von Menschen, die anders sind,
die da sind und da bleiben, die hinhören und was tun.

Da ist einer, der will dem sterbenden Jesus helfen und ihm zu trinken geben.
Da ist einer, der erkennt, dass er Gottes Sohn vor sich hat und sagt es laut.
Und das sind die Frauen, Maria Magdalena und die anderen.
Die sind die ganze Zeit da. Bei ihm, ihrem Freund, ihrem Lehrer, ihrem Jesus.
Sie sind da und sie bleiben da und lassen sich nicht wegscheuchen.
Sie sind auch später noch da, als alle anderen weg sind.

Ja, wenn es zum Himmel schreit, schreit Gott nicht nur,
sondern macht dich fähig, mitmenschlich zu sein.
Gott macht, dass du nicht wegläufst, sondern bleibst.
Gott macht dich stark genug, den Schmerz auszuhalten.
Und die Geschichte zu erzählen, damit sie nicht vergessen wird.

5. Ich schreie mit

Es schreit zum Himmel und Gott schreit mit.
Und ich bitte Gott, dass er auch mich mitschreien lässt.
Dass Gott mich stark macht, da zu sein und hinzusehen.
Und menschlich zu sein.
Zu trinken zu geben und die Wahrheit laut zu sagen.
Ich bitte Gott darum, dass ich die Kraft und den Mut habe,
mich für die einzusetzen, deren Leid verborgen wird.

Menschen wie Detlev Zander brechen das Schweigen.
Sie sagen laut, was im Folterkeller des Kinderheimes passiert ist.
Sie klagen an, dass unsere Kirche das ermöglicht hat.
Sie lassen sich nicht aufhalten, als unsere Kirche das vertuschen will.
Sie lassen sich verspotten und verhöhnen und geben dennoch nicht auf.
Und sie lassen auch jetzt nicht zu, dass wir wegschauen oder ihr Leid kleinreden.
Es schreit zum Himmel und wir sollten das Schreien endlich hören.

Menschen wie Alexei Navalny brechen das Schweigen.
Sie lassen sich nicht mundtot machen.
Sie lassen sich nicht verbannen in die Einsamkeit.
Sie können nicht verhindern, dass das Regime sie tötet.
Aber sie lassen nicht zu, dass man ihr Sterben vertuscht.
Und andere Menschen stehen auf, ermutigt von ihnen, 
und gehen zur Trauerfeier und es kommen so viele,
dass die Polizei sie nicht wegschicken kann.
Sie schreien zum Himmel und wir sollen ihr Schreien hören - und mitschreien.

6. Gott schreitet ein

Gott schreit vom Himmel als es zum Himmel schreit. Am Kreuz.
Und die Ewige schreitet ein. Wenigstens bei diesem einen, bei Jesus.
Sie lässt ihn nicht im Tod.
Dieser Verhöhnte, dieser Gequälte, dieser Hingerichtete und Weggeworfene
ist und bleibt ihr Kind.
Der zu Unrecht Getötete wird rehabilitiert.
Jetzt gibt es kein „Wenn du der Sohn Gottes wärest, dann…“ mehr.
Sondern nur noch „Du bist mein geliebter Sohn, ohne wenn und aber.“
Endlich. Endlich.
Himmlische Gerechtigkeit.

Auch wir sind Gottes Kinder.
Aber: Diese himmlische Gerechtigkeit steht für uns noch aus.
Das Böse ist noch da.
Und so schreit Gerechtigkeit für den einen nach der Gerechtigkeit für alle,
die immer noch unschuldig leiden.
Und das bleibt erstmal so. Es schreit weiterhin zum Himmel.

Und darum ist es an uns, da zu sein,
- als Christen und Christinnen, als Mitmenschen.
Unter dem Kreuz.
Hinsehen, aufdecken, mitschreien.
Jetzt und heute und morgen und die nächsten Monate.
Das ist unsere Aufgabe. Die Botschaft vom Karfreitag:
Wir schreien zum Himmel für alle, die niemand hören will.
Und für sie rufen wir:
Mein Gott, warum hast du sie verlassen?
Wir sorgen dafür, dass ihr Schreien gehört wird.
Und der Himmel wird antworten.
Amen.


(1) https://www.podcast.de/podcast/2689573/die-predigtbuddies

(2) 

33Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. 35Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36Und sie saßen da und bewachten ihn. 37Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. 38Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! 41Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. 43Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?47Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.

51Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, 52und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf 53und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. 54Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! 55Und es waren viele Frauen da, die von ferne zusahen; die waren Jesus aus Galiläa nachgefolgt und hatten ihm gedient; 56unter ihnen war Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.

(3) https://sinnundgesellschaft.de/alexej-nawalnys-schlusswort/


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen