Sonntag, 9. Januar 2022

Hinten anstehen und dann neu anfangen

Von Schlangen und Reihen, von Wasser und Fehlern
Predigt zu Matthäus 3, 13-17*

1. In der Schlange stehen

Da steht der Sohn Gottes in der Schlange.
In einer Reihe mit Leuten, die es nötig haben, die einen Neuanfang nötig haben.
Alte und junge. Reiche und Arme. Oberfromme und Besserwisser.
Soldaten sogar. Eltern mit ihren Kindern an der Hand.
Und Proviant haben sie auch mitgebracht, weil sie so lange warten müssen.
Wie in der Schlange in der Bahnhofstraße - vor dem Impfzentrum.
Oder nächsten Sonntag hier in der Stadtkirche, wenn die Vesperkirche beginnt.

Eingereiht am Ufer des Flusses wartet auch der Gottessohn, bis er dran ist.
Er steht da zwischen Menschen, die den Fehler zuerst bei sich suchen.
Sie wollen sich ändern. Noch einmal neu anfangen.

2. Skepsis und Hoffnung

Ich bin sicher, viele sind skeptisch.
Ob sich wirklich was ändern kann - bei mir?
Genährt wird der Zweifel von den anderen, den Zuschauern.
Schon die Tatsache, dass sie kommen, sich in die Reihe stellen und warten,
das wirft ein schräges Licht auf sie. (Vielen hier in der Vesperkirche geht es so)
„Die haben es wohl nötig. Einmal Loser, immer Loser.“

Und doch stehen sie hier und hoffen.
Hoffen, dass sie endlich mal nicht scheitern, dass sie die Kurve kriegen.
Und deshalb wollen sie dieses äußere Zeichen, das Wasser.
Dieses öffentliche Zeichen, das den Neuanfang spüren lässt,
den Neuanfang sichtbar macht.

3. Neu werden

Einmal ganz untertauchen und Wasser in die Ohren kriegen.
Einmal untertauchen und die Augen ganz fest zusammenkneifen.
Einmal untertauchen und den Mund zumachen müssen. Die Hand auf dem Kopf spüren.
Und dann auftauchen, wie aus dem allerersten Wasser, wie neugeboren.
Die Ohren frei machen und hinhören.
Die Augen öffnen und nicht mehr wegsehen.
Wenn es sein muss, auch den Mund aufmachen.

Neue Menschen kommen aus diesem Wasser,
Frei sind sie: Gottes Kinder, Söhne und Töchter.
Und da steht der Sohn Gottes in der Schlange. Er hat sich eingereiht.
Mitten zwischen denen, die gerade noch als Schlangenbrut beschimpft wurden.
Auf Platz 17 vielleicht.

4. Ganz unten

Der Sohn Gottes irgendwo hinten in der Reihe.
Ja, Gott ist verwirrend konsequent.
Eine Geburt mit zweifelhaftem Hintergrund mit Blut und Schweiß,
einfache Unbekannte, die diese Geburt begleiten, und ihren Feldgeruch mitbringen,
eine Fluchtgeschichte, eine Handwerker-Familie.
Glanz und Gloria kamen erst hinterher.

Das muss so sein, dass er sich hinten anstellt, als Sohn Gottes.
Nicht von dieser Welt und doch mitten in ihr drin.
Das war schon im Stall so, wo die Engel sangen.
Und auch hier ist er mittendrin und der Himmel geht auf.

Als später einmal die Kinder zur Seite geschoben werden und alle Großen sich einig sind:
„Die Kleinen stören nur. Die sind jetzt im Weg.“
Da wird er sauer und er breitet die Arme weit aus für die, die angeblich im Weg sind.
Und er nimmt die sogenannten Störenfriede auf den Schoß und sagt:
„Wer groß ist, ist eigentlich klein. Und wer klein ist, ist groß. Merkt euch das!“
Und nicht nur die Kinder macht er groß. Auch die Bettler, die Frauen, die Kranken.
Die Witwe, die ihren letzten Cent gibt, preist er.

Der Gottes Sohn irgendwo hinten in der Reihe….
Der Sohn Gottes zieht auf einem Esel in das große Jerusalem ein,
wäscht seinen Jüngern die Füße
und zeigt ihnen, was es heißt, dem anderen zu dienen.
Er lässt sich gefangen nehmen und wählt nicht den Weg des Schwertes.
Und stirbt den schmachvollen Tod eines Verbrechers am Kreuz.
Das vorläufige Ende seines Weges von einem, der sich hinten an stellt,
weil er einer wie du ist und einer wie ich,
und damit setzt er ein Zeichen. Ein öffentliches Zeichen.

5. Von oben

Jetzt aber am Jordan bei Johannes, da steht er am Anfang.
Am Anfang der Schlange der Schlangenbrut.
Die 16, die vor ihm waren, sind aus dem Wasser gestiegen.
Nun steht er vor dem Täufer.

Und Johannes, dieser Rufer in der Wüste,
hat eine Ahnung davon, mit wem er es zu tun hat.
Da kommt einer, der ist größer als ich.
Ich bin es nicht wert, dass ich mich vor ihm bücke.
Dem kann ich nicht das Wasser reichen. Nie im Leben.
Diesen kann ich nicht taufen.
„Du solltest mich taufen. Nicht ich dich. So ist es richtig.“

6. Geschehen lassen

Ein kurzer Moment der Verwirrung unter denen, die drum herum stehen.
Was ist hier los? Wer tauft jetzt wen? Wer ist oben, wer ist unten? Wer ist die Nr. 1?
Wer hat das Wasser nötig?  Für wen ist dies der Tag eines öffentlichen Zeichens?

Jesus weiß, was jetzt für ihn dran ist.
„Lass es jetzt geschehen.“ sagt er zu Johannes.
Seine ersten Worte bei dieser Begegnung.
„Du oder ich. Das spielt doch hier keine Rolle.
Es geht doch nicht um uns. Wir sind hier nicht die Macher.
Wir lassen es nur geschehen. Ein anderer macht es.“

Und dann lässt Johannes es geschehen. Und Jesus lässt geschehen.
Und der Himmel öffnet sich. Etwas Neues beginnt. Für Jesus. Für Johannes.
Für alle, die an diesem Tag Zeugen werden.
Und für alle, die später von ihm zeugen werden.
Ein Neuanfang.
Ein Neuanfang durch einen, der sich hinten anstellt und der es geschehen lässt.

7. Hinten anstellen

Nicht immer haben wir uns als Christen und Christinnen
in unserer Geschichte hinten angestellt.
Nicht immer haben wir von den Kleinen groß gedacht.
Nicht immer haben wir Frauen und Männer gleich
und Menschen wie Menschen behandelt.
Nicht immer sind wir den Weg des Friedens gegangen.
Nicht immer haben wir uns in die Reihe derer gestellt,
die den Fehler zuerst bei sich suchen.

Die Versuchung ist groß, den umgekehrten Weg zu wählen,
wenn sich die Möglichkeit dazu bietet:
Vorne dran zu sein. Erste zu sein. "Ich bin jetzt dran!" zu schreien.

Vor 3 Tagen jährte sich der Sturm aufs Kapitol in Washington. Die Dokumentation im Fernsehen** hat mir die ganzen Gefühle von vor einem Jahr wieder hervorgeholt. Dieses Bangen um die Demokratie und um die Politiker und Politikerinnen im Kapitol. Beklemmend.
1000e von patriotischen Fanatikern, die ihren Glauben an Trump und eine patriarchale Welt an erste Stelle setzten. Und das Ganze garnierte sie mit Gott und Jesus.
"Wir sind jetzt dran!" Brüllten sie. Und fast wäre es ihnen gelungen. Da fehlte nicht viel.

"Wir sind das Volk!" Brüllen sogenannte Patrioten und Querdenker auf unseren Straßen.
Sie suchen die Fehler nicht bei sich, sondern bedrohen Politikerinnen und Journalisten.
Und wollten auch das Reichstagsgebäude in Berlin stürmen.

Statt an das überlastete Krankenhauspersonal zu denken, das stundenlang in Schutzkleidung schwitzen muss, wird die persönliche Maskenfreiheit betont.
Selbst vor den gelben Nazi-Sternen, mit denen einst jüdische Männer, Frauen und Kinder gebrandmarkt wurden, machen sie nicht halt und missbrauchen sie.
Wie auch immer man die politischen Maßnahmen beurteilt:
Das sind falsche Zeichen. Ganz falsche Zeichen.
In diesen Reihen sollte niemand von uns stehen. Du nicht und ich nicht.

8. Da gehöre ich hin

Sondern beim Gottessohn. Bei dem, auf den der Geist wie eine Taube herab kommt.
Bei dem, der nach ganz unten geht und nach ganz hinten.
Der sich in die Reihe derer stellt,
die den Fehler bei sich suchen und nicht bei den anderen.

In einer Reihe mit dem Friedensstifter will ich stehen.
Mir geschehen lassen, dass Gott zu mir sagt: du bist meine geliebte Tochter.
An dir habe ich Freude. So wie du bist.
Müde und abgekämpft. Mutlos und frustriert und wütend.
In Sorge über die tiefen Gräben in der Gesellschaft. An dir habe ich Freude.
An dir mit deinen Träumen und deinen Liedern.
An dir, wenn du über Hass und Gewalt erschrickst und nicht mehr weiter weißt.
An dir, die du mit anderen nach den besten Lösungen suchst
und unsicher bist, ob du sie findest.
An dir habe ich Freude, sagt Gott. Sagt Jesus. Sagt der Gottessohn.
Du bist meine Tochter, mein Sohn.
Du musst es dir nicht erstreiten, nicht erkämpfen. Du bist es einfach.

9. Neue Reihen

Es ist gut, in einer Reihe mit Jesus zu stehen. Hinten auf Platz 17.
Und ich lasse den anderen den Vortritt.
Denen, die noch mehr zweifeln als ich. Die vielleicht noch müder sind.
Gemeinsam teilen wir unseren Proviant:
den Krümel Mut und den Becher mit Hoffnung,
die so gut schmeckt wie schwerer roter Wein.

Und dann sehen wir noch die am Rand, die sich nicht trauen,
weil sie denken, dass sie nicht dazu gehören.
Oder die immer noch in den falschen Reihen stehen.
Wir machen Platz für sie und gemeinsam warten wir darauf,
dass der Geist auf uns kommt wie eine Taube, dieses göttliche Zeichen des Friedens.

Und dann. Ja, dann steigen wir aus dem Wasser.
Mit offenen Ohren und Augen und erfüllten Herzen.
Töchter und Söhne des einen Gottes.
An uns ist etwas geschehen.
Ein neuer Anfang ist gemacht.
Amen.

 

*)
Damals kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johannes.
Er wollte sich von ihm taufen lassen.
Johannes versuchte, ihn davon abzuhalten.
Er sagte:»Ich müsste doch eigentlich von dir getauft werden! Und du kommst zu mir?«
Jesus antwortete: »Das müssen wir jetzt tun.
So erfüllen wir, was Gottes Gerechtigkeit fordert.«
Da gab Johannes nach. 

Als Jesus getauft war, stieg er sofort aus dem Wasser.
In diesem Moment öffnete sich der Himmel über ihm.
Er sah den Geist Gottes, der wie eine Taube auf ihn herabkam.
Da erklang eine Stimme aus dem Himmel:
»Das ist mein geliebter Sohn, an ihm habe ich Freude.«

**)
https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/sturm-auf-das-kapitol-oder-doku/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzE5ZjJiNWZmLWQ1MzItNGQ5Zi1iNzBjLWY0Y2QxZGJlMTE0ZQ/


https://www.arte.tv/de/videos/103011-000-A/der-sturm-aufs-kapitol/

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