Mittwoch, 25. Dezember 2024

Der Anfang ist gemacht



Von Anfängen,
dem einen Wort und von Gotteskindern

Predigt zu Johannes 1 am Weihnachtsmorgen

1.
Im Anfang war das Wort.

Der Tag ist noch müde. Der Weihnachtsmorgen nach dem heiligen Abend. Geschenkpapier liegt noch herum, die Kerzen am Baum heruntergebrannt. Der Geruch vom abendlichen Raclette vermischt sich mit dem nach Wachs und Nordtanne. Die Weingläser stehen noch auf dem Tisch. Und die anderen schlafen.
Aber du bist wach. Machst dir einen Kaffee und sein Duft vermischt sich mit dem von Raclette und Nordtanne und Wachs und etwas Zweifel ist auch dabei.
Es ist ruhig. Am Anfang.
 
Und du gehst vor die Tür. Ganz am Anfang ist die Luft klar.  Sie riecht nach Morgenregen und nach Erde. Der Himmel ist so dunkelblau, dass man den Morgenstern noch sieht. Am Rand aber ist er hellblau und schimmert gold. Und dann kommt die Sonne an. Ein riesengroßer flacher Ball. Und siehe, es ist sehr gut.
 
Die Schöpfung weiß, was am Anfang zu tun ist. Wenn es Tag wird.  Wenn ein Same aufgeht und der Regen die Luft sauber gewaschen hat.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.  Und Regen und Tag und Nacht und Sonne und das Licht. Der Anfang ist ein Raum und in dem ist alles da und doch noch im Werden. So vieles, was entstehen kann und so vieles, das vergehen wird. Im Anfang ist beides da: Werden und Vergehen, Beginn und Ende. A und O.
 
2.
Am Anfang.
Am Anfang ist das Licht mild. Das Licht vom Weihnachtsmorgen.
Die Welt sieht anders aus in diesem Licht. Du siehst das Gute.
Das Wahre. Das Versöhnliche auch.
Du siehst das, was du sonst übersiehst.
Den kleinen Tropfen auf der Fensterscheibe in Regenbogenfarben.
Die Christrose zwischen Laub.
Den Herrnhuter Stern im Türeingang.
Du siehst, wie schön die Falten deiner alten Nachbarin sind. Sie haben so viel zu erzählen.
Du siehst die Rose auf dem Grab, die irgendjemand dorthin gelegt hat.
Und du siehst vielleicht, wie jemand frierend an der Bushaltestelle wartet
und nimmst ihn in deinem Auto mit.
 
Am Anfang sind deine Augen klarer als sonst.
Und zugleich siehst du, dass du nicht alles auf Anfang setzen kannst.
Aber du bist Teil davon. Mittendrin im Anfang, in den sich der Zweifel gemischt hat.
Und zugleich voller Sehnsucht nach diesen hellen Anfängen.
 
3.
Am Anfang.
Am Anfang ist die Liebe.
Und mit deinem dampfenden Kaffee in der Hand erinnerst du dich, wie du nur an ihn denken konntest und dabei vergessen hast, welcher Tag ist. Leicht und unbeschwert war sie, diese Liebe. Da zählte nicht, was die anderen sagten. Nur die zarte Berührung. Die Sehnsucht und der Blick in die strahlenden Augen.
Am Anfang war der Name, als du ihn das erste Mal sagtest.
Am Anfang war die Fahrradfahrt in der Nacht und die Gespräche im Café.
Am Anfang war eine Strähne, die ins Gesicht fiel und stundenlange Telefonate.
Am Anfang war der Arm, die Hand und ein pochendes Herz. Verstehen ohne Erklären.
Ganzsein. Ganz und gar. Ein Leib. Ein Fleisch.
 
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, 
und Gott war das Wort.
Dasselbe war im Anfang bei Gott. 
Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht,  
und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.
In ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat's nicht ergriffen.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.

 
Am Anfang war die Liebe und die Liebe wird Leib und Körper.
Wird Berührung und Herzschlagen und Wortestammeln.
Gott fängt mit jeder Liebe neu an und wird Leib und Körper in jeder Liebe.
Alles ergibt einen Sinn. Alles fügt sich zusammen.
Und alles, was unwahr ist, ist weit weit weg. Im Anfang. Und siehe, es ist sehr gut.

4.
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, 
und Gott war das Wort.

 
Der Anfang ist wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Nackt und unschuldig.
Du sitzt vor diesem Blatt und suchst nach dem richtigen Wort. 
Ist es müde oder voller Kraft?  Tröstet oder erschreckt es dich?
Was wird es über deine Zukunft sagen? 
Wird es dich verändern  oder dir gar den Boden wegreißen?
Für all diese Fragen ist es noch zu früh. Der Anfang ist noch nackt.
Das Wort wird noch geboren. Es kommt noch nicht auf deine Lippen. 
Denn du ahnst nur, dass es da ist.  Deine Sehnsucht nach dem Woher und Wohin.
Deine Liebe. Dein Leben. Alles ist darin, in diesem Wort.

Am Anfang ist das eine Wort bei Gott. Der Sinn allen Lebens - verborgen in dem Einen.
Nicht zu greifen. Das Wort, das Eine, es kommt zur Welt in einem Stall. 
Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Wo Menschen weinen und lachen.
Wo die Welt zusammenschrumpft auf einen Moment und einen Ort.
Der ist nichts Besonderes und doch alles.
Eigentlich gibt es dafür keine Worte:
für dieses Große, was uns hält, und für das Schöne, was uns umschließt.
Unsere Worte sind zu klein dafür. Zu klein für Gott.
Zu klein für das Leben. Zu klein für das Wunder.

5.
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, 

und Gott war das Wort.

 
Du möchtest alles auf Anfang stellen. Von vorne anfangen.
Nur das eine Wort und nicht die vielen anderen.
Keine Lügen. Keine Schuld. Keine Worte, die verletzen.
Was am Anfang so leicht ist, wird im Weitergehen so schwer.
Liebe lässt sich nicht halten. Gott auch nicht. Gott wird zu groß für dich. 
Du spürst wie verletzlich du bist und die Welt auch.
In diesen Tagen vielleicht ganz besonders, weil Weihnachten die Haut dünner ist als sonst.
Ein Streit tut heute besonders weh.  Die Bilder aus Magdeburg lassen verzweifeln.
Alleinsein ist heute kaum auszuhalten.
Und auch nicht die Sehnsucht nach mildem Licht und erster Liebe.
Ja, alles auf Anfang stellen – das wär’s, denke ich. Sehne ich. Du auch?
 
6.
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,

und Gott war das Wort.
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.

 
Am Anfang.
Am Anfang ist dieses Kind.
Fleischgewordenes Wort. Leben pur. Lebendiges Bündel.
Suchender Mund. Geschlossene Augen. Ausgeliefert und bedingungslos. 
Noch ganz verschleimt und mit pulsierender Nabelschnur.
Es ist da. In diesem Anfang ist es ganz da:
Für dich und für mich und für alle, die hier sind oder zuhause oder weit weit weg.
Im Anfang ist dieses Kind und es kann dir nichts tun, außer in dein Herz kriechen: Dieses Kind - entstanden aus der Liebe von zwei Menschen. Aus Leidenschaft und Hingabe. Aus Gott.

Im Anfang ist dieses Kind. Die Liebe zwischen Gott und Mensch.
Dieses Kind setzt alles auf Anfang.
Alles ist neu. Alles beginnt neu. Und neu ist nicht perfekt.
Sondern verschleimt und zerknittert,
ausgeliefert und bedingungslos,
suchend und geborgen zugleich.
 
7.
Du kannst nicht alles auf Anfang stellen. Aber das Kind tut es. Gott tut es.
Gott weiß, was zu tun ist mit deinen Anfängen und Stolperschritten.
Mit deiner Sehnsucht und deinem Zweifel und deiner Trauer.
 
Du bist Gottes Kind. Du bist dieses Kind, das Fleisch gewordene Wort.
Anfängerin des Lebens. Anfänger der Liebe. Mitten in dieser Welt.
Du mit deinen Falten und deinen Träumen. Mit deinen Narben und deinem Schmerz.
Geboren aus der Liebe. Nicht perfekt, aber wunderbar.
Vielleicht noch dünnhäutiger. Vielleicht noch verletzlicher.
Vielleicht noch ausgelieferter – du Gotteskind..
 
Der Stall ist dein Anfangsort.
Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Dort, wo du den Kochlöffel in den Topf tauchst oder Bilanzen prüfen musst,
wo du an der Kasse Kleingeld entgegen nimmst oder zuhause die Windeln wechselst.
Überall wo du bist, bist du richtig. Weil Gott da ist. Bei dir.
Auch in deinem unaufgeräumten Wohnzimmer mit dem Geruch nach Raclette und Zweifeln.
 
Und Gott fängt mit dir an, ins Leben zu gehen.
Raus in die Welt mit ihren vielen ausgesprochenen und unausgesprochenen Worten.
Dort sprichst  du dieses Wort des Lebens und der Liebe.
Du stellst dich den Lügen und dem Hass entgegen,
damit es in dieser Welt neue Anfänge gibt.
Ihr geht gemeinsam und sprecht zusammen und liebt und lebt und weint und lacht.
 
Ob du nun müde oder wach bist an diesem Weihnachtsmorgen:
Der Anfang ist gemacht:
Himmel und Erde, die Nacht und der Tag,
der Regen und die Rose, das Licht, die Falten und die dünne Haut.
Und mit dir geht es weiter, du Kind Gottes. Du Wort Gottes. 
Und siehe, alles ist sehr gut.
 
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott, 
und Gott war das Wort.
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit.


Amen.


Dienstag, 24. Dezember 2024

Türen öffnen sich

Von Sehnsucht nach neuer Wirklichkeit und nach Frieden

Predigt zu Jesaja 9, 16 (Heiliger Abend) *


1. Hinter der Tür

Das Licht schimmerte durch die geriffelte Glasscheibe. Auch unter der Türritze konnten wir den Schein sehen. Manchmal versuchten mein Bruder und ich durchs Schlüsselloch zu schauen. Am 24. Dezember. Heiligabend zuhause.
Ein Auge zugekniffen und ich konnte das Lametta sehen und irgendwas, was unter dem Baum stand.  Die Sehnsucht war so groß. Ja, für einen Augenblick sah ich sie, die Zukunft mit einem geschmückten Weihnachtsbaum und schön verpackten Geschenken. Für diesen Augenblick hielten wir den Atem an. Nur eine verschlossene Tür trennte uns. Und wir warteten auf die Glocke, die unsere Mutter läutete.

Der Prophet Jesaja schaut wie durch ein Schlüsselloch in eine neue Zukunft. Tausende von Jahren ist das her. Es herrscht Krieg. Die Welt des Propheten ist in Blut getränkt. Sie ist dunkel. Draußen vor der Tür marschieren die Soldaten in ihren schweren Stiefel auf und ab und geben den Rhythmus des Lebens vor: Angst, Tod, Gewalt. Hunger, Elend, Leid. Bittere Realität damals und heute.
Aber Jesaja hält das nicht auf. Seine Sehnsucht nach einer neuen Wirklichkeit ist so groß. „Irgendwann muss die Zukunft doch beginnen“, denkt er. „Irgendwann muss es wieder hell werden.“ Und dann sieht er den Schimmer wie durch die geriffelte Türscheibe, schaut wie durch ein Schlüsselloch und hält für einen Augenblick den Atem an.

2. Neue Wirklichkeit


Was er da sieht, hören wir aus dem 9. Kapitel:
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ist auf seiner Schulter;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende
auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.


Sie ist schon da, die neue Wirklichkeit.  Nur eine Tür scheint Jesaja noch zu trennen von der Welt, in der es wieder hell ist - mit Leben und Lachen, Zeit und Wunder, Frieden und Glück. Mit neugeborenen Kindern und gutem Leben für alle.
Nur eine Tür trennt Jesaja von der Zukunft, die doch schon da ist.

Die Hirten siebenhundert Jahre später, schauen nicht durch Schlüssellöcher, sie haben keine. Sie haben kein Dach über dem Kopf. Sie schauen in den Himmel. Und der öffnet sich für sie. Einen Spaltbreit, genau so viel, dass das Licht des Himmels auf sie scheint. Mitten in der Nacht, reiben sich die Hirten die Augen und kneifen sie ein wenig zusammen. Dann sehen sie: Licht in der Finsternis, Engel, die singen und ihr Hoffen wird Wirklichkeit: „Fürchtet euch nicht. Eine neue Zeit ist zur Welt gekommen, sie ist schon da, sie ist geboren. Nur eine Stallwand entfernt.“

Für einen Moment halten sie den Atem an, dann eilen sie voller Sehnsucht der Zukunft entgegen. Ja, sie wollen sehen, was ihnen gesagt wurde. Sie wollen das Kind sehen, auf dessen Schultern alle Hoffnung liegt. Das Kind, das Himmel und Erde verbindet: Wunder-Rat Gott-Held Ewig-Vater Friede-Fürst
In Windeln gewickelt, auf Stroh gebettet liegt sie da, die neue Wirklichkeit.
Für alle sichtbar. Zum Greifen nah. Und doch immer noch nicht zu begreifen.

3. Türen öffnen sich


„Habt keine Angst! Ich muss nur das Schloss aufbrechen.“  Hört man eine tiefe Männerstimme auf Arabisch rufen. Eine dicke Stahltür trennt die Frauen von der Freiheit. Da schimmerte kein Licht durch. Es war einfach stockfinster. Und nun dokumentieren Handyvideos die Befreiung aus Sednaja – dem berüchtigtsten Foltergefängnis Assads. Aus dunklen, verdreckten, engen Kammern strömen Frauen, Männer, ja sogar Kinder. Nach fast 14 Jahren Terror und Krieg in Syrien. Und die Welt hält den Atem an, denn alle wissen, diese Wirklichkeit ist so fragil. Und doch ist sie da. Sie ist jetzt da und mit ihr ein kleines Stück des Friedens, nach dem sich Menschen in aller Welt so sehr gesehnt haben. Und sie kommen und feiern, sie kehren heim, fallen sich in die Arme, lachen und weinen, tanzen auf den Straßen und freuen sich am Leben. Und zugleich wissen sie: die Tür kann wieder ganz schnell verschlossen werden. Die Tür zur Freiheit, zum Frieden. Zum echten Frieden. Wird sie offen bleiben?

Wie sehr will ich da wie durch ein Schlüsselloch schauen und wissen, dass in der Wirklichkeit dahinter Friede sein wird: dass Menschen frei ihre eigene Religion leben können ohne Abwertung anderer, dass Frauen und Mädchen gleichberechtigt lernen werden, zur Schule und zur Uni gehen können, frei über ihren Körper entscheiden.

Wenn ich dann durch mein Schlüsselloch schaue, in meiner Welt, sehe ich voller Dankbarkeit, was schon da ist: Friede und Demokratie; Freiheit zu lieben, wie ich es tue, und Kinder, die in Freiheit spielen und hüpfen und den Himmel über sich haben. Und ich sehe auch, wie gefährdet das selbst bei uns ist und die Türen zur Freiheit und zum Frieden zufallen können.

4. Sehnsucht


Was bringt dieser Blick durchs Schlüsselloch?
Ich brauche ihn: Diesen Blick und die Ahnung, dass da noch Gutes auf uns zukommt. Die Hoffnung auf Frieden, nicht nur im Kleinen und im Westeuropäischen, diesseits der polnischen Grenze. Sondern Frieden ohne Unterdrückung, ohne Angst und ohne, dass man andere abschrecken muss. Ohne Angst vor Attentätern und Hassgeschrei.
Ich brauche den Blick durchs Schlüsselloch. Ich will an Weihnachten ahnen können, dass auch im nächsten Jahr, dass auch in Zukunft Gutes auf uns zukommt. Dass Gott unter uns lebt und Friede auf Erden bringt. Auch wenn dieser Friede heute erst ein Säugling ist und wachsen muss.

Ja, manchmal überfrachte ich diesen Abend mit meiner Sehnsucht nach diesem Frieden und dieser Wärme und vergesse dann, dass dieser Frieden gar nicht von uns ausgeht, sondern von diesem Kind in der Krippe. Manchmal will ich zu viel und manchmal wird es mir zu viel. Früher, als Jugendliche, ertrug ich diese überladene Sehnsucht oft nicht mehr und floh erst mal raus. Einmal tief Luft holen. Die Tür hinter mir wieder zu, was ja viel realistischer war, oder?

Und doch, die Sehnsucht bleibt. Der Blick durch das Schlüsselloch auf eine neue, gute Wirklichkeit. Selbst sie ist nicht perfekt, aber sie ist da. Ich stehe mit den Hirten und schaue auf dieses Kind in der Krippe. Das Ganze ist so fragil wie ich es auch bin. Die Tür kann sofort wieder ins Schloss fallen und sie wird es auch wieder tun. Aber die Hoffnung bleibt. Ich sehe das Kind in der Krippe und weiß: das mit dem Frieden und der Freiheit hat noch ganz andere Dimensionen als ein Weihnachtszimmer.

5. Türen offen halten


Aber heute genügt es. Vielleicht genügt heute nur ein bestimmtes Weihnachtslied oder der eine Weihnachtsstern, den meine Mutter mal gebastelt hatte und den ich immer noch habe und der hängt am Weihnachtsbaum, viele viele Jahre nach ihrem Tod. Vielleicht muss ich nur diesen Stern sehen und dann ist alles wieder da wie damals: der Schimmer durch die Scheibe, der Blick durchs Schlüsselloch, das Klingeln der Glocke, die warmen Arme, die mich umfangen. Und ich weiß zugleich, dass Frieden viel mehr ist.

Vielleicht gehen die Türen morgen wieder zu, aber heute halte ich sie offen, die Gott uns weit aufreißt. Heute freue ich mich auf das Essen mit meinen jesidischen Nachbarn und weiteren Freunden. Heute hoffe ich mit den syrischen Menschen, dass ihre Türen zur Freiheit offen bleiben. Heute hoffe ich, dass sich die Türen für alle öffnen, die im Dunkeln sind und die Angst haben. Heute stehe ich mit den Hirten vor der Krippe, sehe mit ihnen den offenen Himmel und singe zusammen mit den Engeln. Heute sehe und schmecke und fühle ich mit großem Herzen, was Jesaja verspricht:
Uns ist ein Kind geboren.
Und des Friedens ist kein Ende,
dass er’s stärke und stütze
durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.


Das war sie und ist es noch, die neue Wirklichkeit, die Zukunft, sichtbar und zum Greifen nah.  

Amen.

* Mit herzlichen Dank vor allem an Elisabeth Kühn, der ich vor allem die Formulierungen und Ideen in der ersten Hälfte der Predigt verdanke!

Sonntag, 8. Dezember 2024

Die Müden stärken


Gott macht keine halben Sachen.

Predigt zu Jesaja 35, 3-10 (2. Advent)

I.
Müde siehst du aus, sage ich zur Freundin. Karin* seufzt. (*Name anonymisiert)
Ich mache mir Sorgen um meine Mutter, sagt sie.
Sie findet sich immer weniger zurecht. Immer öfter kommt es vor, dass sie die Frau von der Diakoniestation nicht reinlässt. Und ich kann von Hamburg aus nichts tun. Ich bin viel zu selten bei ihr. Diese Sorge um sie macht mich manchmal verrückt.
Und ich nehme Karins Hände und wir halten uns eine Weile.

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen:
»Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!


Peter sitzt vor uns im Restaurant.
Das Eis, das wir essen, ist so teuer, wie sein gesamter Tagesverdienst.
Wir haben uns am Malawisee kennengelernt und miteinander gesprochen.
Ein intelligenter junger Mann, 24 Jahre alt.
Hier am Malawisee geht es den meisten wegen der Touristen noch relativ gut.
Aber in Malawi, dem zehntärmsten Land der Welt sind die Perspektiven auch für ihn schlecht.
Richtig schlecht.
Er, der hier in Deutschland garantiert studieren würde,
konnte dort seinen Schulabschluss nicht machen.
Sein Onkel, der das Schulgeld bezahlt hatte, musste die Zuschüsse einstellen.
Nun verkauft Peter Hemden und Schmuck, von seiner Familie hergestellt.
Dafür spricht er Tag für Tag Touristen in den Lodges am See an.
Und wenn er Glück hat, verkauft er mal ein Hemd für 30 Euro.

Er würde gerne seinen Schulabschluss noch machen.
Und dann eine Ausbildung. Würde gerne Design studieren.
Aber er hat das Geld nicht. Wie die meisten seiner Landsleute.
Die Regierung kann den jungen Menschen keine Bildung ermöglichen.
Die Straßen sind marode. Das Benzin knapp. Das Wasser verschmutzt.
Die Wälder abgeholzt. Ausgeliefert den Zyklonen, Überschwemmungen und Dürreperioden,
die mit dem Klimawandel immer heftiger werden.
Peter kommt aus diesem Teufelskreis aus Armut und Abhängigkeit nicht heraus.
Wir schütteln uns zum Schluss die Hände. Und ich schäme mich für das Eis.

Wir beklagen hier in Europa 200 Tote bei den Überschwemmungen in Valencia - zu Recht!
Die über 1300 Toten der Überschwemmungen in Malawi nehmen wir gar nicht mehr wahr.
Zu weit weg.
Und statt diesen Menschen zu helfen und zum Beispiel die Bildungsangebote auszubauen,
die mein Schwager mit der Volkshochschule dort mit Projektpartnern organisiert,
wird in Deutschland der Haushalt für wirtschaftliche Entwicklung sogar weiter gekürzt.

Malawi - "the warm heart of Africa" - das warme Herz Afrikas.
Das verzagte Herz. Das verzweifelte Herz.

II.
Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen:  »Seid getrost, fürchtet euch nicht!
Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache;
Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«


Hörst du das, Peter, der du dir Sorgen um deine Zukunft machst?
Hörst du das, meine liebe Freundin Karin, mit deinen Sorgen um deine alte Mutter?
Stärkt die müden Hände! Seht da ist euer Gott!
Er wird dir helfen.  Er tritt für dich ein, Peter, und für dich, Karin auch.

Peter, du fragst vielleicht: wo hilft er mir? Und wie?
Erwartest du überhaupt noch was von Gott?
Ja, du schon. Du hältst unerschütterlich an Gott fest.
Er wird mir helfen, sagst du.

Und ich bin diejenige mit dem Zweifel.
Denn ich weiß: ich bin doch diejenige, die helfen könnte. Aber ich weiß nicht wie.
Nur mit Geld?  Ist das nicht ein Tropfen auf dem heißen Stein?
Außerdem haben wir doch in unserem Land auch so viele Probleme.
Die Sorgen um unsere alten Eltern. Um unsere Kinder. Die Sorgen um die Wirtschaft.
Und wie es nach der nächsten Bundestagswahl wohl weiter geht. Ob es noch kälter wird?
Und zugleich schäme ich mich.
Denn wir leben immer noch in einem so reichen Land.

Ich weiß, dass Gott diese Ungerechtigkeit nicht will.
Diese ungleiche Verteilung in unserem Land und die Armut in Malawi.
Ich weiß, dass das, was jetzt ist, nicht alles sein kann.
Da ist mehr und es kommt mehr. Eine andere Welt verspricht Jesaja.
Eine gerechtere und eine liebevollere Welt.
Eine Welt für Peter und meine Freundin Karin und ihre Mutter.
Ja, dafür steht dieser Gott.
Und Gott steht für alle mit ihren verzagten Herzen und müden Händen.

III.
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan
und die Ohren der Tauben geöffnet werden.
Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch,
und die Zunge des Stummen wird frohlocken.
Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen
und Ströme im dürren Lande.
Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen,
und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein.
Wo zuvor die Schakale gelegen haben,
soll Gras und Rohr und Schilf stehen.


Gott macht keine halben Sachen, verspricht uns der Prophet Jesaja.
Gott öffnet Augen und Ohren und macht alles anders.
Gott stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie.
Und ich ziehe die Bilder von Jesaja ins Heute:
Peter kann seine Schulausbildung fertig machen und sogar studieren.
Seine Familie hat eine sichere Zukunft.
Karins Mutter fühlt sich endlich sicher und Karin kann wieder ruhig schlafen.
Unsere neue Regierung wird ein Herz für die Schwächsten haben
Und wir gehen endlich gemeinsam das Projekt CO2-Neutralität an.
Die Gefangenen der Terrorregime kommen frei und es gibt gar keine Terrorregime mehr.
Und die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten hören auf.

Fang schon mal an mit der neuen Welt, Gott, falle ich Jesaja ins Wort.
Fang schon mal an mit einer gerechten, friedlichen Welt!
Ja, bitte Gott. Mach, dass es so kommt!

IV.
Und es wird dort eine Bahn sein
und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird.
Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen;
auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren.


Wie sehr sehne ich mich nach einem guten, einem heiligen Weg.
Ein Weg, der uns in die Zukunft führt. Ein Weg, den wir gemeinsam gehen.

Wie sehr sehne ich mich danach, dass Wege geebnet und nicht gesperrt werden.
Dass wir Menschen willkommen heißen, statt sie abzuweisen.
Dass wir Wege zueinander gehen und nicht voneinander weg.

Wie sehr will ich glauben, dass Gott an meiner Seite geht.

An der Seite von Peter und an der Seite von Karin.
Wie sehr wünsche ich einen Weg für alle, die keinen Weg sehen.
Wie sehr wünsche ich mir einen gerechten Weg. Einen Friedensweg.
Für alle.

V.
Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen;
sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen.
Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen
und nach Zion kommen mit Jauchzen;
ewige Freude wird über ihrem Haupte sein;
Freude und Wonne werden sie ergreifen,
und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.


Stärkt die müden Hände. Seht, da ist euer Gott.
Stärkt die Müden und Geplagten und alle, die sich für sie einsetzen.
Gebt Menschen wie Peter eine Chance
und unterstützt Organisationen, die Menschen wie ihm helfen wollen und das auch können.
Brot für die Welt ist so eine Organisation oder auch die Volkshochschule.

Stärkt die müden Hände derer, die kranke und ältere Menschen pflegen.
Stärkt die müden Hände der müden Eltern.
Sorgt dafür, dass sie genügend Geld bekommen und Unterstützung.

Stärkt die müden Politiker und Politikerinnen,
die ernsthaft und ehrlich einen Weg für unser Land suchen.
Stärkt die, die für unsere Demokratie einstehen.
Stärkt sie mit eurer Wahlentscheidung und dass ihr die Demokratie verteidigt.
Stärkt die Juden und Jüdinnen, die wieder Angst in unserem Land haben.
Stärkt die Jesidinnen und Jesiden, die Angst vor Abschiebung haben.
Ladet sie zu euch ein und helft ihnen bei ihren Anträgen.
Stärkt die Syrer und Syrerinnen, die Kurden und Kurdinnen, die Angst um ihre Familien haben.
Stärkt sie mit euren Gebeten und eurem Beistand und verteidigt sie vor denen, die sie anfeinden.
Stärkt euch gegenseitig, die ihr müde und verzagt seid.
Seid füreinander da.

Warum das Ganze, fragt ihr? Ist es nicht alles vergeblich?
Nein, sagt Jesaja. Nein, sage ich.
Das, was ist, ist nicht alles.
Da ist mehr. Da ist Gott.
Der kommt an eure Seite und macht keine halben Sachen.
Er baut abgebrannte Kathedralen wieder auf.
Lässt Wasser in der Wüste sprudeln. Obwohl das doch nicht geht. Eigentlich.
Und Blinde sehen, Lahme springen, Stumme brechen ihr Schweigen.  
Seht auf und erhebt eure Häupter. (Lukas 21,28)
Fangt schon mal an mit der anderen Welt.
Denn Gott kommt.
ER hat es versprochen.
Amen.