Sonntag, 12. März 2017

Alle wie Amos: Da bleiben, weiter reden, weiter denken

Rede anlässlich der AMOS-Preisverleihung 12.3.2017

I.
„Der Herr nahm mich von der Herde und sprach zu mir:
Geh hin und weissage meinem Volk Israel!“ (Amos 7,15)

Das hat Amos sich aufgeschrieben, damit er es nicht vergisst.
Vor allem, wenn er sich fragt:
Wie bin ich da nur hineingeraten - in diesen Schlamassel?

Mir ist diese Frage sehr vertraut.
Spätestens seitdem ich am 23. Februar 2014 auf einem Übertragungswagen stand.
23. Februar - der Gedenktag zur Zerstörung Pforzheims am Ende des Krieges.
Ein Tag, der - wie in Dresden - auch von Rechtsextremen missbraucht wird.
Gegen diese Rechten demonstrierten mehrere 100 Menschen.
Und vor diesen Demonstrierenden hielt ich eine Rede.

Da bin ich in was hineingeraten….
„Pforzheim war keine unschuldige Stadt.“
Im Netz und in den Zeitungen hängt dieser Satz an mir wie mit Kleister.
Mir war zwar vorher klar: Ich mache mich unbeliebt. Viele wollen das nicht hören.
Aber ich hätte nicht geglaubt, dass dieser Satz so viel Wut und Hass freisetzen würde.
Und dass mich deswegen viele in die Wüste schicken wollen, zumindest raus aus Pforzheim.

Aber ich hätte damit rechnen müssen:

Gut 20 Jahre zuvor wurden die Pfarrer Curt-Jürgen Heinemann-Grüder und Horst Zorn
in Pforzheim beschimpft und geschmäht:
sie haben dafür gesorgt, dass in Huchenfeld, einem Pforzheimer Stadtteil,
eine Mahntafel für fünf ermordete englische Kriegsgefangene errichtet wurde.
Viele Pforzheimer wollten an so was nicht erinnert werden
und begründeten das mit den 17.000 Toten der Bombardierung.
Die beiden galten als Nestbeschmutzer oder gar Verräter.

Oder 2003:
da wurde mein Vorgänger, Dr. Hendrik Stössel, von keinem Geringeren als Stefan Mappus
in die linksextreme Ecke gestellt,
weil er die Wehrmachtsausstellung von Reemtsma
in der Stadtkirche in Pforzheim ermöglichte.

Und dass das Rathaus und die Gemeinderatsfraktionen jahrelang nur zugesehen haben,
wie die rechten Fackelträger den Gedenktag der Zerstörung missbrauchten, wusste ich auch.
Erst als die NSU-Morde ans Licht kamen, wachten die Gemeinderäte auf.
Aber auch nur ein bisschen.
Die Sorge, dass die Ruhe gestört werden könnte, war immer größer
als der Wunsch, deutliche Zeichen zu setzen.
Wer sich gegen die Neonazis stellte, galt als links.
Und das war und ist in ihren Augen schlecht.

II.
Wie bin ich da nur hineingeraten?

Mein Großvater trat demonstrativ aus der NSDAP aus.
Da war Hitler gerade an die Macht gekommen.
Es hat mich schon als Kind schwer beeindruckt,
dass in dem Moment, als alle eintraten, er das Gegenteil tat.
Er tat es, weil er verhört wurde wegen seiner Freundlichkeit gegenüber Juden und Polen.
Und er tat es, obwohl er sich damit Feinde machte.
Und er verweigerte weiterhin den Hitlergruß.
Sein christlicher Glaube gab ihm dazu die Kraft.
Das alles jedenfalls erzählte meine Mutter mir und meinen Geschwistern.

Wir hörten genau zu.
Vielleicht auch, weil wir wussten, wie sich das anfühlt: nicht dazu zugehören.
Meine Mutter war nicht verheiratet. Mein Vater hatte bereits eine andere Familie.
Und so lebten wir als uneheliche Kinder in Familienverhältnissen,
die in den 60er und Anfang der 70er Jahre noch sehr verpönt waren.
Meine Mutter wurde als Nutte beschimpft.
Verwandte wollten mit ihr nichts mehr zu tun haben
und der Vermieter verbot ihr, die Sauna zu benutzen.

Aber ihr Bruder unterstützte sie.
Und es gab einen Ort, wo wir trotz und mit diesem „Makel“ willkommen und gewollt waren:
das war die Kirchengemeinde.
Die Gemeindehelferin organisierte Babysitter und nahm uns auf Freizeiten mit.
Wir Kinder feierten Kindergottesdienst und leiteten später Jugendgruppen.
Die Gemeinde war - neben meiner Familie - der einzige Ort,
wo ich über die Alkoholerkrankung meiner Mutter offen reden konnte.

Und das hat mich bis heute geprägt:
Die Kirche zeigt und lebt, dass für Gott jeder einzelne Mensch gleich wichtig ist.
Was gesellschaftlich als normal gilt, ist hier nicht das Wichtigste.
Niemand darf ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden.
Die Welt ist kompliziert und die rasanten Veränderungen machen vielen Angst.
Aber keine Welt hat das Recht, Menschen in 1. und 2. Klasse zu unterteilen.
Auch wenn es unser Weltbild durcheinanderbringt.

Die Rechten von damals und von heute machen aber genau dies:
Sie unterteilen in 1. und 2. und 3. Klasse, wer zum Volk gehört und wer nicht.
Und mit Ressentiments und festgefügten Feindbildern schüren sie Ängste gegen Minderheiten,
denn diese bringen Unruhe - in die Ordnung, in das eigene Weltbild, das eigene Denken.
Das Ganze verbinden sie mit einem gottlosen Nationalismus -
gottlos, weil er ohne Gott auszukommen meint.
Die Nation ist dann mit ihren Grenzen wichtiger als alles andere -
vor allem wichtiger als die Menschenwürde.

III.
Tja, so bin ich da hineingewachsen.
Ich bin nicht einfach so hineingeraten,
vielmehr war ich schon immer mittendrin
in diesem Gemengelage aus Wärme und Güte
und einer Wolke von Zeugen, die gar nicht anders konnten, als sich einzumischen.
Natürlich kenne auch ich die Versuchung, in Klassen zu denken.
Aber wenn jemand anfing, Menschen abzuwerten
oder meinte bestimmen zu können, ob es jemand verdient hat, zum Volk zu gehören,
musste ich widersprechen.
Die von Gott geschenkte Menschenwürde hat immer Vorrang -
auch vor meinem eigenen Kleingeist.

Darum: Mund auf!
Auch in Pforzheim.
Auch und gerade als Theologin und als Dekanin.
Und auch, wenn es politisch wird.
Die Bibel erzählt vom Reich Gottes - das ist für mich politisch.
Die Niedrigen werden erhöht,
die Sanftmütigen und Verfolgten selig gepriesen.
Die Nächstenliebe hört beim Fremden nicht auf
und die Hungernden bekommen zu essen.
Das alles muss ich auch politisch hören.
Sonst setze ich dem Evangelium Grenzen.

Ich erinnere an die 2.These der Barmer Theologischen Erklärung:

Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.
 

Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.

Den christlichen Glauben von irgendeinem Bereich des Lebens auszuschließen,
ist mir auf dieser Grundlage nie in den Sinn gekommen.
Mein Bekenntnis zu Jesus Christus bezieht selbstverständlich
auch den gesellschaftlichen und politischen Bereich des Lebens mit ein.
Ich verstehe das freilich nicht parteipolitisch,
aber kritisch gegen ausgrenzende Positionen von Parteien.
Und immer im Sinne einer Parteinahme
für die Armen, die Benachteiligten, die Verfolgten und Gedemütigten -
kurz für alle, die allzu schnell abgewertet werden:
ob sie nun aus einem anderen Land kommen,
einen anderen Glauben haben, anders lieben oder anders aussehen.

IV.
So bin ich da hineingeraten, bin ich mittendrin -
auch in diesem Konflikt in Pforzheim.
Er ist ein Konflikt unserer gesamten Gesellschaft.

Und deswegen stehe ich hier und bekomme einen Preis in der Tradition des Propheten Amos.
Das ist für mich eine große Ehre und ich freue mich darüber.

Vielleicht kann ich mich mit Amos tatsächlich verbunden fühlen.
Es ist ja für mich - wie gesagt - selbstverständlich,
gegen alles Menschenfeindliche den Mund aufzumachen -
erst recht, wenn es vor meiner Haustür stattfindet.
Besonders mutig bin ich dabei nicht,
sondern ich übernehme schlicht Verantwortung.
Ich bin nun mal in der Position, wo ich auch gehört werde.
Gott, der Herr, redet, wer sollte nicht Prophet werden? fragt Amos selbst (Amos 3,8).
Also ducke ich mich auch nicht weg.

Ein anderer Punkt ist mir aber noch viel wichtiger:
Ich mach das Ganze nicht allein,
sondern zusammen mit vielen, die mit mir den Weg gehen.
Vorne weg meine Familie, die immer hinter mir steht:
mein Mann, meine Söhne, meine Tochter, meine Schwester, mein Bruder.
Aber auch die Kollegen und Kolleginnen, die Stadtsynode,
viele Gemeindeglieder, meine Kirchenleitung,
meine Freunde und Freundinnen - auch aus dem Internet -
und nicht zuletzt die Engagierten von der Initiative gegen Rechts.
Wir sind eine Wolke von Zeugen und Zeuginnen
für eine menschenfreundliche und vielfältige Gesellschaft.
Eine "Amos-Wolke".

Und der dritte Punkt:
Alle müssen wie Amos sein.
Dann brauchen wir noch nicht mal so einen Preis,
weil das „Wie Amos sein“ nichts Besonderes mehr ist.
Es sollte doch für alle Menschen selbstverständlich sein,
dass sie ihren Mund auftun für die Stummen,
dass sie Mitleid empfinden für die Gedemütigten
und laut widersprechen, wo die Grundrechte mit Füßen getreten werden.
Gott, der Herr, redet, wer sollte nicht Prophet werden? 
Alle müssen wie Amos sein. Dann brauchen wir auch keinen Preis.

V.
Alle wie Amos –
für diese Alle, jede und jeden Einzelnen, nehme ich diesen Preis entgegen.
Ich bin sehr dankbar und fühle mich außerordentlich geehrt.
Aber nicht weil ich diesen Preis besonders verdient hätte.
Nein, ich empfange den Preis stellvertretend
für alle, die ihren Mund auftun und für Menschlichkeit eintreten.
Mit mir werden alle geehrt, die dafür angefeindet werden,
die als Gutmenschen beschimpft, als Bahnhofsklatscher diffamiert werden.
Ich nehme den Preis für alle Theologen und Theologinnen,
denen man nicht zugesteht, dass sie sich politisch äußern und widersprechen.
Und für alle, die man deswegen aus der Stadt vertreiben will.

Wir lassen uns nicht vertreiben.
Wir gehen nicht weg.
Wir rechnen damit, dass uns die vertreiben wollen,
die eine scheinsaubere Gesellschaft vor Augen haben:
wie damals bei Amos, bei den Kollegen Heinemann-Grüder, Zorn und Stössel,
wie bei meiner Mutter.
Wir bleiben. Und stören. 

Weil unsere Worte gebraucht werden für das gute Leben.
„Sucht das Gute und nicht das Böse, auf dass ihr lebt" (Amos 5,14) - so Amos.

Wir schauen nicht weg,
wir ducken uns nicht weg,
denn sonst lassen wir das Böse seinen Weg gehen.
Wir fragen nicht mehr: wie bin ich da nur hineingeraten?
Denn wir sind schon mitten drin -
in diesen beunruhigenden Entwicklungen.

Wir gehen nicht weg.
Wir werden weiterreden
und wir denken weiter,
wie wir das Gute suchen und nicht das Böse.
Wir klären, wie wir unsere Kirche davor schützen,
dass sie von Rechten immer mehr unterwandert wird.
Und wir ermutigen uns zu Worten,
die nicht gerne gehört werden, aber notwendig sind.

Worte des Himmels.
Worte eines Gottes, vor dem wir alle gleich sind.
Worte wie:
Willkommen, du Mensch von nah und fern und egal, was du glaubst.
Angst brauchst du bei uns nicht mehr zu haben.
Du gehörst dazu, egal was die anderen sagen.*

Am Ende
lachen wir den Angstmachern und Ausgrenzerinnen frech ins Gesicht.
Und Amos - lacht mit.


(* zur Erklärung: ich bin nicht so naiv zu denken, dass wir nur alle willkommen heißen müssen und dann ist alles gut. Und die Probleme, die damit u.U. einhergehen, blenden wir aus. Aber es geht um eine grundsätzliche Haltung: Sehe ich im anderen meinen Bruder oder meine Schwester (Matthäus 25) oder nicht? Sehe ich in ihm/ihr ein geliebtes Kind Gottes oder nicht? Wenn ich das mit ja beantworte - und Jesus sagt "Ja" -, gehört der/die andere dazu. Das schließt auch Regeln und Akzeptanz der Grundwerte mit ein. Und darum müssen wir gemeinsam ringen. Billiger geht es nicht.)

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