Montag, 8. Oktober 2018

Scherbe der Erinnerung

Predigt zum 75. Jahrestag der Bombardierung Böblingens am 7.10.2018

I.
Nachmittags schien noch die Sonne. Damals.
Nachmittags waren die Böblinger auf ihren Baumäckern vor der Stadt
und ernteten Obst. *
Müde sank man abends ins Bett. Damals.
Auch unbesorgt.
Ja, es gab in jüngster Zeit immer mehr Fliegerangriffe auf Deutschland
und immer häufiger zogen feindliche Bomberpulks über die Stadt.
Und ja, der Flugplatz war im Visier der Alliierten.
Aber heute doch nicht.
Denn es hatte sich ein dichter, undurchdringlicher Nebel ausgebreitet.
Wie eine Tarnkappe hat er sich über die Stadt gelegt.
Er ließ den Gedanken an eine Gefahr gar nicht erst aufkommen.
Es war der 7. Oktober 1943.

Und dann bricht plötzlich gegen Mitternacht das Inferno los.
Kinder jagen barfuss und im Nachthemd die Treppen herab in die Keller.
Auf allen Seiten heulen Bomben herab,
explodieren mit ohrenbetäubendem Knall und zuckenden Blitzen.
Fensterscheiben bersten,
Dachziegel poltern in geräuschvollen Lawinen das Dach herab.
Brände flackern auf, Blitze zucken.
Heulen und Detonationen auf allen Seiten.
Und im Keller breitet sich Todesangst aus.
Kinder heulen und wimmern,
Frauen und Männer beten laut.
Sie schmiegen sich aneinander
und können sonst nichts tun.

Gott, sei mir gnädig, denn Menschen stellen mir nach;
täglich bekämpfen und bedrängen sie mich.
Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.
Sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie. (Ps 56, 2+9)


II.
Dauert es eine halbe Stunde?
Oder eine ganze?
Auf jeden Fall eine halbe Ewigkeit des Schreckens.
Kaum zu glauben, dass sie ein Ende hat.
Es braucht Zeit,
sich aus den Klauen der Todesangst zu lösen.
Sich wieder ins Freie trauen.

Schreckliche Bilder brennen sich ein ins Gedächtnis.
Die Trümmer. Die brennenden Balken.
Die Hitze. Der Brandgeruch, tagelang.
Die Stadtkirche ist zerstört. Der Schlossberg ein Trümmerfeld.
Und ganze Familien sind in den Kellern erstickt.
In Böblingen.
In Pforzheim. In Dresden.
In Hamburg. In Stuttgart. In Berlin.
In Coventry. In London. In Rotterdam.
Ein erbarmungsloser Krieg.
Angefacht von Menschenverächtern,
Denen zu viele,
viel zu viele Menschen in Deutschland folgten.

Gott, sei mir gnädig, denn Menschen stellen mir nach;
täglich bekämpfen und bedrängen sie mich.
Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.
Sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie. (Ps 56, 2+9)



III.
Böblingen war damals noch klein.
Aber nach dem Krieg wuchs die Stadt.
Menschen zogen hierher
und brachten ihre Geschichten mit.
Ihre Geschichten des Leids und des Krieges
und des Verlustes.
Und sie wurden aufgenommen von den Böblingern.
Obwohl nichts da war.

Eine Geschichte von denen, die kamen,
könnte die von Helga sein.**
Als kleines Mädchen ist sie bei ihrem Großvater.
In Böhmen.
Er schnitzt ihr eine Puppe.
Eines Tages bringt sie ihm Herbstzweige. Buntes Laub.
Er freut sich und steckt sie in einen Krug.
Das sieht vor dem Schnee schön aus.
Doch dann kommen 2 Soldaten.
Als der Großvater sie sieht,
schickt er die kleine Helga auf den Dachboden.
Woher die Soldaten kommen, weiß sie nicht.
Aber sie weiß, sie könnte sterben.
Im Arm hat sie nicht ihre Puppe,
sondern den Krug mit Herbstzweigen.

Nun duckt sie sich im Dunkeln.
Der eine Soldat lässt sich vom Großvater die Schuhe putzen.
Lacht ihn aus.
Und schickt den anderen ins Haus, um nachzuschauen,
Vielleicht ist da noch jemand?
Plötzlich fällt draußen ein Schuss.
Der Soldat draußen lacht. Helga fängt an zu weinen.
Und weiß: ihr Großvater ist tot.
Da sieht sie der zweite Soldat.
Schaut ihr in die Augen.
Und wie sie den Krug umarmt.
Er führt seinen Finger an seine Lippen
und flüstert: "Bleib ganz still."

Dann geht er langsam zurück.
Und stolpert.
Ein Schuss löst sich.
Helga lässt den Krug fallen, der in lauter Scherben zerfällt.
Der Soldat sammelt die Scherben ein und läuft runter.
Ich habe nur einen Krug zerschossen, ruft er.
Der andere lacht.
Zurück bleibt Helga.
Und eine Scherbe vom Krug,
die der Soldat übersehen hat.

Gott, sei mir gnädig, denn Menschen stellen mir nach;
täglich bekämpfen und bedrängen sie mich.
Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.
Sammle meine Tränen in deinen Krug….  (Ps 56, 2+9)


IV.
Helga kommt in den Westen. Wie so viele.
Hier baut sie ihr neues Leben auf.
Nach dem Krieg.
Und findet ein neues Zuhause.
Wie so viele.

Über das, was damals in Böhmen passiert ist,
verliert sie kein Wort.
Wie so viele.
Auch was vorher in Deutschland geschehen ist und zum Krieg geführt hat,
das schaut sie lieber nicht an.
Wie fast alle.
Nur die Scherbe vom Krug - die behält Helga.
Es ist das Letzte, was von ihrem Großvater blieb.

Und so kommen Menschen wie Helga hierher.
Aus den östlichen Gebieten.
Aus Siebenbürgen und von der Wolga.
Aus Böhmen und Pommern.
Sie müssen ihre Heimat verlassen.
Und es kommen Menschen aus Italien und Spanien und der Türkei.
Sie wollen hier arbeiten. Und werden gebraucht.

Alle sie kommen hierher und bringen ihre Geschichten mit.
Ihren Verlust. Ihre Trauer. Ihre Einsamkeit. Ihre Schuld.
Sie kommen hierher
und bauen die Stadt mit den Hiergeborenen auf und weiter.
Oft nicht gewollt und oft geschmäht,
weil sie kein Schwäbisch sprechen.
Und auch, weil man ja selbst nicht genug hatte.
Aber die Hinzugekommenen bleiben.
Verlieben sich. Heiraten. Bekommen Kinder.
Streiten sich. Versöhnen sich wieder.
Lachen. Weinen. Arbeiten. Schlafen.

Das Leben geht für alle weiter -
auch mit den Tränen im Gepäck.
Und die Erinnerung ist dabei - oft tief verschlossen.
Ganz tief unten im Herzen.
Dort tut die Narbe immer wieder weh.
Die Scherbe vom Krug.
Ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Bild vielleicht.
Die Stimme der jüdischen Klassenkameradin,
die auf einmal weg war.
Die Locke von der Liebsten in Andalusien.
Die zerknitterte Bibel mit dem Goldrand.
Gerade noch gerettet.

Und die Erinnerungen blitzen auf.
Wie der Turmhahn - übrig von der alten Stadtkirche.
Oder wie die Trümmersteine mit den alten Jahreszahlen.
Mitten in den neuen Gebäuden.
Man hat sie mit eingebaut.
Wenn man genau hinschaut, sieht man sie.
Stolpersteine.
Reste der Erinnerung.

Zähle die Tage meiner Flucht,
sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie. (Ps 56,9)


V.
Gott zählt die Tränen.
Keine einzige übersieht er.

Gott setzt sich mit dir auf die Bank und hört dir zu.
Sie nimmt dich in den Arm und reicht dir ein Taschentuch,
wenn dein eigenes schon zu nass ist.

Gott weint mit -
Er verrät dich nicht.
Er sieht deine Angst in den Augen
und sagt, dass er den Krug zerschossen hat.
Und du fragst ihn,
warum er nicht auch deinen Großvater gerettet hat.
Und Gott weint um ihn, den gütigen Alten, der dir eine Puppe geschnitzt hat.

Die Frage bleibt.
Und eine Antwort gibt es nicht.
Gab es noch nie.
Außer die:
Gott steht immer auf der Seite derer,
die geschlagen und getreten, deportiert und getötet werden.
Gott selber wird getötet. Am Kreuz.
Von Henkern und Soldaten.
Von Bomben und Tretminen.
Von allem, was wir uns Menschen antun.

Aber er lässt es nicht beim Kreuz.
Und lässt es nicht beim Tod.
Sondern steht auf.
Zum Lebenstanz.
Mit denen, die für das Leben kämpfen.
Und mit denen, die dazu noch zu müde sind.
Ich sehe Gott,
wie er Nadia Murat nach ihren zahllosen Vergewaltigungen durch den IS ermutigt,
trotzdem darüber zu reden
und wie sie anderen Frauen Mut macht.
Und ich sehe Gott einen Freudentanz aufführen,
weil Nadia Murat dafür den Friedensnobelpreis bekommt.
Ich sehe Gott tanzen
zusammen mit ihrer toten Mutter
und den vielen Frauen, die gedemütigt wurden
und mit dem Großvater von Helga.

Zähle die Tage meiner Flucht,
sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie.
Dann werden meine Feinde zurückweichen,
wenn ich dich anrufe.
Das weiß ich, dass du mein Gott bist. (Ps 56, 9+10)


VI.
Gott zählt die Tränen und für Gott zählt jeder Mensch.
Und er führt Menschen zusammen, die einander brauchen
und sich die Augen öffnen.
Damit sie ihre Geschichten erzählen.
Und auch die Schatten nicht verschweigen.

Helga hat nach 70 Jahren den Krug wiedergefunden.
In einem Antiquitätenladen in Görlitz sieht sie ihn.
Wieder zusammengefügt.
Aber es fehlt ein Stück.
Ihr Scherbenstück.
Sie will den Krug gekaufen.
Aber der Besitzer Jakub verkauft ihn nicht.
Unverkäuflich - sagt er mit russischem Akzent.
Sie bietet 10.000 €.
Aber er geht mit ihr an einen Tisch.
Setzen Sie sich.
Und schenkt ihr Tee ein.
Erzählen Sie mir eine gute Geschichte, sagt er.
Denn wenn wir sie nicht erzählen, gibt es sie nicht.
Und Sie haben eine Geschichte mit diesem Krug.
Und dann fängt Helga an.
Stockend erst. Und die Tränen fließen.
Sie erzählt von ihrem Großvater und den Soldaten.
Vom Schnee und vom Herbstlaub und von diesem Krug.
Und dass da ein Soldat war, der sie nicht verraten hat,
der aber die Scherben aufsammelte
und selber Tränen in den Augen hatte.

Jakub nickt.
Nun können Sie den Krug mitnehmen.
Ich brauche ihn nun nicht mehr, sagt Helga.
Aber woher haben Sie den Krug?
Von meinem Vater, sagt Jakub.
Und Helga nimmt ihre Scherbe aus der Tasche
Und fügt sie zum Krug hinzu.

Zähle die Tage meiner Flucht,
sammle meine Tränen in deinen Krug;
ohne Zweifel, du zählst sie.


VII.
Deutsche Flüchtlinge und Gastarbeiter finden in Böblingen eine neue Heimat.
Hiergeborene und Dazugekommene machen Böblingen groß.
Menschen, die vor Hunger und Gewalt und Unterdrückung fliehen,
erfahren hier Schutz.
Die Kirche wird für sie alle zur „festen Burg“.***
Die Schattenseiten werden aufgedeckt.
Und ja, wir wollen alles dafür tun,
dass sowas nicht wieder passiert.
Und wir tanzen vielleicht mit Gott,
weil eine Jesidin den Friedensnobelpreis erhält.

Ihr alle bringt eure Geschichte mit.
Eure Scherben und Fotografien
und die Locken der Liebsten.
Eure Scham, eure Trauer und eure Hoffnung auf Frieden.
Und wir tragen das alles gemeinsam.
Miteinander.
Und mit Gott.

Ich habe dir, Gott, gelobt,  dass ich dir danken will.
Denn du hast meine Seele vom Tode errettet,  meine Füße vom Gleiten,
dass ich wandeln kann vor Gott im Licht der Lebendigen. (Ps 56, 13+14)


Amen.

* Im Wesentlichen entnommen aus: http://www.zeitreise-bb.de/boebl/boebl/gesch/angriff.html
** Die Geschichte von Helga stammt aus dem sehenswerten Kurzfilm "Eine gute Geschichte"  https://www.br.de/mediathek/video/kurzfilm-von-martin-christopher-bode-eine-gute-geschichte-av:5bb5d9eb72c1c30017131b65
*** Das evangelische Gemeindehaus in Böblingen hat den Namen "Feste Burg"

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