Sonntag, 15. Dezember 2019

Welten entdecken

Predigt zum 3.Advent 2019 über Jesaja 40,1-11
verschränkt und verwoben mit den wunderbaren Gedanken und Formulierungen von Thomas Hirsch-Hüffel*

Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott.
Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr,
dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist;
denn sie hat die volle Strafe empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden.

Es ruft eine Stimme:
In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!
Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden,
und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden;
denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,
und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des Herrn Mund hat's geredet.

Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen?
Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde.
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des Herrn Odem bläst darein.
Ja, Gras ist das Volk!
Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.

Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg;
Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht;
erhebe sie und fürchte dich nicht!
Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der Herr!
Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen.
Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her.
Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte.
Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln
und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.


I.
An den Wassern von Babylon sitzen sie und weinen.
Ins Exil verbannt. Weit weit weg von zuhause. Entwurzelt.
Irgendwie haben sie sich daran gewöhnt.
Die Sehnsucht überdeckt mit dem Alltäglichen.
Tun, was man halt so tun muss, um nicht aufzufallen.
Manchmal aber kribbelt es.
Und sie wissen genau: Das kann es noch nicht gewesen sein.

II.
Es ruft eine Stimme:
In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg,
macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!


Das hier in Babylon, das kann es noch nicht gewesen sein.
Ist das nun die ersehnte Veränderung?
Sie erinnern sich:
Ihre Vorfahren brachen einst aus Ägypten aus und wagten sich in die Wüste hinein.
Und nun ein erneuter Aufbruch? Wieder in die Wüste.
Ungewiss, was dabei rauskommt und wo man landet.
Aber mit dem sicheren Gefühl: es ist jetzt dran, sonst vertrocknen wir wie das Gras im Sommer.

III.
Das kann es noch nicht gewesen sein. Das ist noch nicht alles, was jetzt ist.
Wir sind noch nicht fertig. Immer wartet in uns etwas auf seine Geburt.
Immer ist das, was wir eigentlich sind größer als das, was wir leben.
Beate könnte auch Kinder-Animateurin auf Sizilien sein. Sie verkauft aber Reisen in Pforzheim.
Sie hätte den Blick für Architektur und das Ohr für fremde Klänge.
Aber das kann sie nur ahnen. Ihre Entscheidung fiel einmal anders aus.

Jede merkt, was noch möglich wäre an den wiederkehrenden Pubertäten:
es summt in den Knochen, die Glieder wollen etwas  – aber noch ohne Ziel.
Ein anderer Mann hätte es auch sein können, eine andere Stadt.
Eine einzige Palme im Fernsehen beißt das Herz, und schon ist die Fantasie unterwegs:
Nicht nur Reisen verkaufen, sondern selber reisen und darüber schreiben?
Bin ich eigentlich noch ganz anders?


IV.
Berge fallen und Täler werden erhöht.
Verlässlich stellen sich unter der scheinbar festen biografischen Erdkruste
tektonische Verschiebungen ein. Hochhäuser und andere Lebensgebäude wackeln.
In der Tiefe Magma, glühend. Gelegentlich Ausbrüche vulkanischer Natur.
So ungeheuer flüssig wie der Erde Inneres, so unermesslich reich ist die Seele.
Wir könnten so viel mehr als in diesem Leben.

Vielleicht denke ich, ich sei schon ziemlich fertig und endlich stabil. 
Aber fertig sind wir erst im Tod, und selbst da: wer weiß … – 
vielleicht sehen wir dann die ganze Vielfalt unserer Tiefen und Gebirge.
Das wäre die ungeheure Landschaft, die immer in uns wohnte und bereist werden wollte.

Aber warum dann nicht jetzt? Warum immer nur die faulen Kompromisse?
Und wann ist der richtige Zeitpunkt für den Aufbruch, für das Große,
für die Möglichkeiten, die da sind?

V.
Das Große kommt. Etwas, das sich nicht greifen lässt.
Und ich stehe vor meiner eigenen Sehnsucht nach dem ganz anderen in mir
und stammel „Was soll ich glauben, was kann ich predigen“.
Ach wie gut ich den Propheten verstehe. Und wie gut, dass es auch ihm so geht.
Dass auch er spürt: Hier verschiebt sich was, das noch zu groß ist für mich.
Es wirft mich aus der Bahn, obwohl ich doch vielleicht eine Bahn legen sollte.
Aber ich setze mal einen Fuß dorthin und taste mich vor in meine Seele hinein
Schaffe Platz für das Große, das da kommt.
Adventszeit ist eine gute Zeit dafür.

VI.
Siehe da ist euer Gott, ruft der Prophet.
Und ich sehe die 17jährige, die einem Mann namens Josef versprochen ist.
Sie tut, was alle Mädels in der Zeit damals tun:
sich auf ein Leben in einer Ehe vorzubereiten, den Eltern zu helfen,
zu träumen und zu arbeiten, was anliegt.

Aber in ihr wohnen ganz andere Welten. Die sprechen eines Tages zu ihr.
Als ganz am Rand ihres Sehfeldes eine Figur auftaucht. Etwas Helles, anders als alles.
Mit Flügeln wohl und zum Fürchten auch.
In dir bereitet sich etwas Großes vor, sagt es –
oh oh. Was soll mir das? Ich bin doch verplant.

Aber da ist das Summen in den Knochen, die schlaflosen Nächte.
Da entsteht etwas wie aus dem Nichts und es keimt.
Neun Monate wird es reifen. Bei manchen und manchem dauert es viel länger.
Was nun geschieht, will einfach nur erwartet werden.
Das Erdbeben unter den Füßen, die heiße, grundlose Freude beim Aufwachen,
das Weinen ohne Anlass unter der Dusche. Mir selber zuschauen, wie an mir gearbeitet wird.
Adventliches Warten darauf, dass etwas ausgetragen und endlich geboren wird.
Marianische Existenz in guter Hoffnung.


VII.
Macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott.
Halte dich bereit.
Horch hinein in die großen Räume, die auch noch begehbar wären.
Lass dich nicht zu schnell besetzen von Sachen, die dir den Horizont vernageln.

Setz dich zu den Israeliten an die Wasser von Babylon und höre ihnen zu.
Lausche auf die Sehnsucht in dir. Auf deine Ungeduld.

Bleib ‚jungfräulich‘ empfänglich, denn immerzu kann Großes mit dir geschehen.
Was dann entsteht, braucht Begleitung.
Der Entschluss zu reisen und Reisebücher zu schreiben, ist sowas.
Das Kind der 17jährigen wird von schützenden Träumen, Schafhütern
und fernen Gestalten begleitet werden.
Was geboren wird, braucht Schutz –  noch ist es klein.

Und was tut Gott? Er ist da. Er wächst  – mit mir und in mir.

Und er kommt mir zugleich entgegen
und wenn ich mich verloren habe oder nicht mehr weiter kann,
dann wickelt er mich ein in den Bausch seines Gewandes und trägt mich.

VIII.
Siehe da ist euer Gott, ruft der Prophet.
Und die Freudenbotin steigt auf den Berg und ruft es laut in die Welt.
Gott ist da.

Gott ist das Ganze eurer Möglichkeiten.
Er ist Palme, Engel, Sehnsucht und eure Antwort darauf.

Er ist Ungeduld und Aufbruch, Hoffnung und Erschöpfung zugleich.
Er ist in eurer Wüste und an den Wassern von Babylon,
In euren Tränen und in euren Liedern - damals und heute.

Erwartet ihn. Er nimmt euch mit.
Amen.




* Der Blog von Thomas https://unglaeubigesstaunen.wordpress.com/ ist sehr sehr zu empfehlen! Alles, was in dieser Predigt in dieser Farbe markiert ist, ist dem Blogbeitrag "Advent 17" entnommen oder entlehnt (https://unglaeubigesstaunen.wordpress.com/2017/10/03/advent-17/?fbclid=IwAR2TUGN2mUGSjMmkzTF8NmjykWf090pgaeaLROehRHCj7DHsTCIG3x0s_Zw). Thomas selbst hat mich darauf aufmerksam gemacht, wofür ich ihm sehr dankbar bin.

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