Von Mut und Feigheit, einer befreienden Wahrheit
und dem großen Gelehrten Johannes Reuchlin.
Eine Predigt zu Johannes 8 und zum Reuchlin-Jubiläum (500. Todestag)
I.
Da hat nicht mehr viel gefehlt und die Steine wären geflogen.(1)
Aufgebrachte Männer, vielleicht noch angestachelt durch jede Menge Gerüchte, was die Frau vielleicht noch alles getan habe.
Fake-News. Eins kommt zum anderen.
Das Urteil steht fest. Die Ehebrecherin muss gesteinigt werden.
Sie gehen zum Tempel, zu Jesus. Wollen wissen, wie er damit umgeht.
Er kann ja gar nicht anders, als ihnen zuzustimmen.
Sonst würde er ja gegen das Recht verstoßen. Denken sie. Und irren sich.
Jesus macht es ganz geschickt. Er antwortet nämlich nicht sofort.
Mitten in der sehr aufgeheizten Stimmung bückt er sich nieder, schreibt und schweigt. Er geht nicht einfach weg, taucht nicht einfach ab.
Aber er gibt die Mitte frei, indem er sich bückt.
Da ist plötzlich Raum für die Wahrheit.
Die Aufgebrachten sehen sich auf einmal in die Augen. Und eine Pause entsteht. Eine Pause zum Nachdenken. Durchdenken. Atmen. Und weiterdenken.
II.
Jesus nutzt die entstandene Pause für einen einzigen Satz:
Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.
Die berühmten 3 Finger, die zurückweisen, wenn ich mit dem Finger auf andere zeige. Jesus nötigt die Aufgebrachten zum Wechsel der Perspektive: Schaut einmal mit anderen Augen auf die Sache.
Und dann bückt sich Jesus wieder herunter und schreibt und schweigt weiter.
Und nun merken die aufgebrachten Männer, dass sie gefangen waren im Schwarz-oder-Weiß, im Richtig-oder-Falsch, Wir und die - in diesem Ganzen waren sie so gefangen, dass sie das Mensch sein vergessen hatten. Auch ihr eigenes Mensch sein, das nicht sündenfrei sein kann.
Jesus hat einen Raum geschaffen, einen Raum für die Wahrheit.
III.
Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus ein paar Sätze später.
Die Wahrheit….
Die Wahrheit macht euch frei vom Schwarz-Weiß-Denken,
von Hass, von diesem Wir-und-die. Die Wahrheit lässt euch nachdenken,
weiterdenken.
Sie nimmt euch die Steine aus der Hand.
Ihr erkennt sie nur, wenn
ihr die Perspektive wechselt.
IV.
Die vergiften unsere Brunnen!
Die ermorden unsere Kinder
und trinken ihr Blut!
Die verhexen unsere Frauen!
Das und noch viel mehr wurde
den Juden und Jüdinnen vorgeworfen,
als Johannes Reuchlin lebte.
Bereits 200 Jahre vor seiner Geburt entsteht im 13. Jahrhundert die Pforzheimer Margarethen-Legende. Nach ihr wird eine Kapelle in der Schlosskirche benannt.
Sie erzählt von einem toten Mädchen: es sei von einer alten Frau an die Juden verkauft worden, die töteten es und warfen es dann in den Fluss - angeblich.
Ein sogenannter Ritualmord und diese Anschuldigung führte dazu, dass der Pforzheimer Rabbiner und seine 3 Söhne hingerichtet wurden.
Solche Verschwörungserzählungen gehen die nächsten Jahrhunderte weiter und heizen die Stimmung immer weiter auf - die Stimmung gegen Juden und Jüdinnen.
Und, ja, hier fliegen Steine. Und noch viel Schlimmeres.
V.
Auch Johannes Reuchlin, 1455 in Pforzheim geboren, ist nicht frei von antisemitischem Argwohn - wie fast alle Humanisten seiner Zeit.
Für ihn sind die Juden zunächst vor allem
Missionsobjekte.
Doch zugleich sucht er - wie alle Humanisten - die Wahrheit. Die
Wahrheit….
Darum befasst er sich wie kaum ein anderer mit den alten Sprachen. Von seiner Ausbildung her ist Reuchlin eigentlich Jurist. Aber seine Leidenschaft gilt den hebräischen Schriften. In ihnen erschließt sich ihm eine neue Welt.
Und Reuchlin erkennt:
Christen sollen diese Quellen
achten, um ihren eigenen Glauben besser zu verstehen.
Und er schreibt:
„Jedes Mal,
wenn ich Hebräisch lese, glaube ich
Gott selbst zu sehen, der mit mir spricht.
Ich bedenke
dann, dass es die Sprache ist, in der Gott
mit den Menschen verkehrt hat.“ (2)
VI.
Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus.
1510 ist das Jahr, in dem Reuchlin sich zur Wahrheit
bekennt.
Gegen Verleumdung und Verschwörungserzählungen.
Gegen Fake-News der
damaligen Zeit.
Ein gewisser Johannes Pfefferkorn behauptet,
Juden
verhöhnten den christlichen Glauben und wollten das Reich zerstören.
Er fordert
die damalige Obrigkeit auf, die rabbinischen Schriften zu verbrennen
und die
Juden aus dem Land zu vertreiben.
Kaiser Maximilian und einige Bischöfe geben Gutachten in
Auftrag.
Die Professoren in Köln, Mainz und Erfurt unterstützen Pfefferkorn.
Auch
Reuchlin wird um ein Gutachten gebeten.
Und er ist der einzige, der gegenhält.
Er schreibt:
„Man soll die
Kommentare der Leute,
die ihre Muttersprache von Jugend auf gründlich gelernt
haben,
keineswegs unterdrücken,
sondern, wo immer solche existieren, sie
zugänglich machen,
pflegen und sehr in Ehren halten,
als Quellen,
aus denen der wahre Sinn der Sprache
und das
Verständnis der Heiligen Schrift uns zufließt.
Wir sollen
das wahre Wissen weit richtiger an der Quelle
als in den
Abflüssen suchen.“
Mit anderen Worten: Schaut genau hin. Wechselt die
Perspektive!
„Verbrennt
nicht, was ihr nicht kennt!
Die Bücher
der Juden enthalten die Lehre des Glaubens.
Damit
beleidigen sie keinen anderen Menschen.
In ihrem Glauben sind sie, genau wie
die Christen, allein Gott verantwortlich.“
Respektiert, dass andere anders sind.
Respektiert, dass
sie einen anderen Standpunkt haben.
Schaut von einem anderen Blickwinkel aus
auf die Sache!
„Die Juden
sind in Dingen, die ihren Glauben betreffen,
einzig
ihresgleichen und sonst keinem Richter unterworfen.“
Gebt ihren Perspektiven den Raum, der ihnen zusteht! Lasst die Juden in Ruhe.
Reuchlin macht es wie Jesus.
Er bückt sich und schreibt und gibt Raum zum Nachdenken, zum Weiterdenken.
Raum für die Wahrheit.
Und letztlich setzt sich Reuchlin gegen Pfefferkorn durch.
Die Juden werden nicht ausgewiesen, ihre Bücher nicht
zerstört. (Noch nicht....)
VII.
Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus.
Die Wahrheit macht euch frei vom Hass.
Sie lässt euch nachdenken, weiterdenken. Nimmt euch die Steine aus der Hand.
Ihr erkennt sie nur, wenn ihr die Perspektive, eure Sichtweise wechselt.
Es ist dieser Raum für die Wahrheit, den Jesus
geschaffen hat,
als eine Frau verurteilt und getötet werden sollte.
Es ist diese
Wahrheit, die Reuchlin erkennt, als sie Juden und Jüdinnen vertreiben wollen.
Reuchlin war ja nicht von Anfang an der mutige Vertreter
für die Toleranz gegenüber anderen Religionen. Er betrat diesen Raum der
Wahrheit erst nach und nach.
Und so veränderte er seine Haltung.
Aber diese
dann gefundene - die behielt er bei, selbst als er angefeindet und bedroht
wurde.
Er stellte sich schützend vor Andersgläubige.
Und weil er eine hohe Position als juristischer Berater der Obrigkeit hatte, hörte man auf ihn.
„Ich rate
dazu, dass diejenigen, die außerhalb unseres Glaubens stehen,
seien es Juden,
Griechen oder Muslime,
durch keinerlei Gewaltmaßnahmen auf unsere Seite gezogen
werden dürfen.“
VIII.
Die Wahrheit wird euch frei machen. Die Wahrheit Jesu.
Die Wahrheit hat den Anklägern der sogenannten Ehebrecherin die Steine aus der Hand genommen. Sie hat Reuchlin frei gemacht, mutig zu schreiben. Die Wahrheit hat ihn befähigt, seine Haltung zu ändern. Neue Sichtweisen einzunehmen. Sich den Verschwörungsmythen und Fake-News seiner Zeit entgegenzustellen.
Ja, die Wahrheit hat ihm den Blick dafür geöffnet, was
auf dem Spiel steht. Dass es nicht nur um bedrucktes Papier oder Pergament
geht, sondern um die Freiheit des Denkens und des Glaubens.
Und das ist hochmodern.
Verschwörungsmythen haben wieder Hochkonjunktur.
Es wird von Meinungsdiktatur gesprochen, dabei kann jede
ihre Meinung sagen.
Immer wieder ziehen Demos durch Pforzheim und sprechen
von westlicher Hetze,
dabei ist es der russische Präsident, der die Ukraine mit
Gewalt überzieht.
Und wer in seinem Land gegen den Krieg ist, wird weggesperrt.
In Bremen hetzt ein Prediger gegen gleichgeschlechtlich
Liebende
und wird dafür von seinen Fans gefeiert.
Und die Rechtspopulisten hier wollen immer noch eine deutsche Leitkultur einführen
und damit die Vielfalt an Sprachen und Kulturen
einebnen.
Sie sprechen von „normal“ und meinen „deutsch“, heterosexuell, weiß.
Hier wird Wahrheit verdreht und gebogen. Reuchlin würde sich im Grabe umdrehen.
IX.
Und Jesus? Er bückt sich und schreibt und schweigt.
Durchdenken. Atmen. Und weiterdenken.
Jesus gibt den Raum, wo wir die Wahrheit finden. Wo wir
uns ansehen als Menschen.
Wo wir uns nicht von Verschwörungserzählungen
leiten lassen,
sondern genau hinsehen und sie gemeinsam suchen:
die Wahrheit
mit den verschiedenen Perspektiven.
Es ist manchmal nicht leicht, diese vielen
Perspektiven auszuhalten.
Das gilt für die Diskussion um die Waffenlieferungen
genauso wie für die um die Impfpflicht. Aber nur so kommen wir die Wahrheit
näher.
Jesus bückt sich, damit wir einen neuen Raum betreten,
wo wir anders hinschauen und anders hinhören.
Dort geht es nicht um Rechthaben,
sondern darum, Menschen ihr Leben zu ermöglichen.
Dieser Raum ist bunt und
angefüllt mit den Sprachen und Religionen dieser Welt,
mit Menschen, die so
unterschiedlich leben und lieben, wie sie sind
und die sich nicht gegeneinander aufhetzen
lassen.
Ein Raum, wo wir jedem Menschen würdevoll und respektvoll begegnen.
Jesus öffnet den Raum für uns.
Er ist schon längst da,
dieser Raum der Wahrheit.
Es ist an uns, ihn zu betreten.
Vielleicht müssen wir uns
dafür bücken und eine Pause einlegen oder in den Sand schreiben. Und hoffentlich
wissen wir wie Reuchlin, wann wir für die Wahrheit einstehen müssen
und für die
Menschen,
die für Macht, Verschwörungen und Fakenews geopfert werden sollen.
Ich bin sicher: wir wissen es dann.
Denn Jesus traut uns das zu.
Oder mit den Worten von
Reuchlin,
die er kurz vor seinem Tod verfasst - quasi sein Vermächtnis:
„Wir legen
die Fundamente der Zukunft:
Die Wahrheit
wird über der Welt aufgehen,
das Dunkel
verschwinden, das Licht wird leuchten.“
Amen.
(1) Johannes 8, 2-11:
2Frühmorgens aber kam Jesus wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. 3Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9Als
sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten
zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? 11Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.
(2) Die Zitate von Reuchlin (Kursiv und violett) sind diversen Aufsätzen und Zusammenstellungen entnommen.
Die Predigt gefällt mir. Danke dafür.
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