Von einer toughen Witwe, iranischen Frauen und Männern, jüdischen Familien und der "Letzten Generation"
Predigt zu Lukas 18,1-8
Jesus erzählte er seinen Jüngern ein Gleichnis: »In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende nocheinen Schlag ins Gesicht.‹«
Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehrdenen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt,wird er so einen Glauben auf der Erde finden?«
I. Toughe Witwe
Sie hat nichts mehr zu verlieren. Die Witwe, von der Jesus erzählt.
Sie kämpft um ihre Existenz, um ihr Überleben. Denn Witwen zur Zeit von Jesus haben nichts. Sie sind darauf angewiesen, dass die Familie sie unterstützt. Offenbar funktioniert das hier aber nicht. Vielleicht will ihr jemand das letzte Stück Land nehmen. Oder ihr Haus. Wie auch immer: Sie besteht auf ihr Recht. Offensichtlich ist das nötig. "Ich lass mich hier nicht abspeisen. Schon gar nicht von so einem Richter, der skrupellos und willkürlich zu sein scheint."
Ihre Nachbarinnen lachen sie vielleicht aus. Ihre männlichen Verwandten lästern über sie (die ist ja hysterisch) oder verbieten ihr den Mund, wie es damals üblich war. Frau, schweig. Aber sie hat nichts zu verlieren.
Eine toughe Frau. Eine die sich zeigt und die laut ist und anstrengend. Und vermutlich richtig unangenehm. Und der Richter? Irgendwann gibt er klein bei.
Diese Witwe ist mir lästig. Darum will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen.
Und endlich sieht und hört er auf sie.
II. Frauen, Leben, Freiheit
Sie haben nichts mehr zu verlieren. Sie rennen auf die Straßen, springen auf Mauern, tanzen in der U-Bahn und reißen sich die Kopftücher von den Haaren. Sie schneiden sich die Haare ab, singen laut den Song Baraye, setzen Fotos und Videos ins Netz und niemand kann sie aufhalten. Kein Polizist, kein Militär, kein Gefängnis, kein Richter, kein Parlament. Die Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche, Studierende, Arbeitende, Alte, Mütter und Väter, Söhne und Töchter im Iran: Frauen, Leben, Freiheit skandieren sie.
Und sie flehen und bitten mit dem jungen Shervin für alles, was mir so selbstverständlich ist. Für die Angst sich zu küssen. Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben. Für das Kind, das im Müll wühlt, und für seine Träume. Für diejenigen, die im Gefängnis sind. Für das Mädchen, das sich wünschte ein Junge zu sein.
Freiheit. Azadi. Sie sprühen es auf die Wände, malen es auf die Spiegel der Toiletten, auf ihre Haut, auf die Autos. Dichten dichte Worte. „Dass der Wind auf der Straße durch meine Haare weht, ist mein Recht“.
Wir wollen unser Recht auf Leben, auf unsere Würde. Rufen sie. Und mit weniger geben wir uns nicht mehr zufrieden. Lassen uns nicht mehr abspeisen. Und lassen uns nicht mehr unsichtbar machen.
Schaut nicht weg. Seht hin. Verbreitet die Videos und Fotos auf der ganzen Welt.
Und ja, sie haben unser aller Sympathie. Aber reicht das?
III. Hinschauen
Vor über 80 Jahren haben unsere Vorfahren weggeschaut. Und weggehört. Als die Synagoge in der Zerrennerstraße in Brand gesteckt wurde, als der jüdische Professor Berufsverbot bekam, als die jüdische Familie aus ihrer Wohnung vertrieben wurde und nach Gurs verschleppt wurden. Ihr Weinen wurde nicht gehört. Ihr Bitten. Ihr Flehen. Und die meisten schwiegen.
Heute schweigen wir nicht. Hören wir von 2 Familien (1):
Hermann Reinheimer, geb. 1878 in Habitzheim, wuchs in einer jüdischen Familie auf und war ab 1911 Metzgermeister in Pforzheim. Er war verheiratet mit Mina, geb. Löwenstein aus Weingarten. Die beiden hatten einen Sohn, Werner Siegfried.
Ab 1935 konnte Hermann Reinheimer die Großmetzgerei nicht mehr betreiben, da ihm auf behördliche Anweisung hin keine Tiere mehr verkauft werden durften.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde er von der Gestapo aus der Wohnung gezerrt und schwer misshandelt. Seine Frau Mina versorgt den schwer misshandelten Ehemann und flieht mit ihm im Januar 1939 über Hamburg nach Brasilien, wohin der Sohn schon 1935 geflohen war. Als Folge der Misshandlungen erblindet Hermann Reinheimer 1949 völlig. Er stirbt am 4. März 1958 in Sao Paulo. Weiteres ist zum Schicksal der Familie nicht bekannt.
Friedrich Meier wurde 1886 in Nonnenweier bei Lahr geboren. Er wuchs als Jude auf und zog als junger Mann nach Pforzheim und heiratete Nelly … Zwei Kinder wurden in den folgenden Jahren geboren, welche Martin und Amalie hießen.
Er führte ein größeres Textilgeschäft in der Deimlingstraße. Als die Nazis kamen, musste er 1936 sein Geschäft aufgeben und versuchte dann, von Zuhause aus das Geschäft zu erhalten. Am 22. Oktober 1940 wurde er mit seiner Familie aus der Wohnung gezerrt und nach Gurs in Frankreich deportiert. Vom Internierungslager Drancy wurde er am 17. August 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Schaut nicht weg. Seht hin!
Und darum wurden für die Familien Meier und Reinheim Stolpersteine verlegt, ganz hier in der Nähe, wie weitere über 300 Stolpersteine in der ganzen Stadt.
Damit wir hinsehen. Nicht mehr wegschauen. Nie mehr.
Damit wir das, was ihnen angetan wurde, nicht verschweigen.
Damit wir sie ins Recht setzen: ihren Namen nennen, der ausgelöscht werden sollte.
Damit wir eine Stimme sind für die Gedemütigten und Verfolgten.
Eine Stimme für die, die sich nicht so wehren können wie die Witwe, von der Jesus erzählt.
Eine Stimme für die, die unsere Unterstützung brauchen.
IV. Ermutigen
Gott schaut hin. Und Gott hört hin. Er ist nicht wie dieser Richter, von dem Jesus erzählt.
Darum holt er sein Volk aus Ägypten heraus. Er lässt nicht zu, dass es weiterhin gedemütigt wird. Und sein Volk schafft die Flucht, weil es Menschen gibt, die sich vom Pharao und seinen Soldaten nicht einschüchtern lassen. Gott ermutigt sie dazu.
V. Letzte Generation
23 Jahre ist sie alt. Aimee van Baalen. Für Fridays for future hat sie sich engagiert und merkt: viele schöne Worte, aber es passiert nichts. Die Erwachsenen hören uns nicht zu. Sie ignorieren uns. Sie ignorieren, dass wir keine Zeit mehr zu verlieren haben. Aimee hat nun ihren Job aufgegeben für die Zukunft unserer Welt, für ihre Zukunft. Geht dafür ins Gefängnis und riskiert sogar ihr Leben. Aimee ist Aktivistin der „Letzen Generation“.
Ja, die jungen Frauen und Männer der letzten Generation sind überzeugt: sie haben nichts mehr zu verlieren - wenn sich nicht jetzt was tut, dann ist es zu spät. Dann kippt das Klima und 4 Milliarden Menschen werden nicht mehr dort existieren können, wo sie jetzt leben.
Darum ketten sich Aimee und Samuel und Lotta an Rathaustore, kleben sich an Brückengeländer fest, blockieren Autobahnen, werfen Kartoffelbrei gegen ein mit Glas gesichertes Gemälde von Monet. Sie lassen sich beschimpfen, auslachen, machen sich unbeliebt. Und vorletzte Woche geschah etwas Furchtbares in Berlin: eine Radfahrerin von einem Betonmischer ist überfahren worden und ums Leben gekommen. Es gab einen Stau auf der A100, der von den viel zu vielen Autos, aber auch von 2 Aktivisten der letzten Generation auf einer Brücke mitverursacht wurde.
Obwohl der Fall noch nicht aufgeklärt ist, stürzen sich nun alle auf die Letzte Generation: Klimaterroristen, Klima-RAF, Klimasekte - und die bayrische Landesregierung nimmt Aktivisten und Aktivistinnen schon mal unverurteilt in Vorbeugehaft.
Aimee war letzten Dienstag in Magdeburg und sprach zu über 120 Synodalen der Evangelischen Kirche in Deutschland. Eingeladen von der Präsidentin der Synode, Anna-Nicole Heinrich, auch erst 26 Jahre alt. Und Aimee redet den Kirchenleuten ins Gewissen (2):
„Es ist an der Zeit Risiken einzugehen. Denn jetzt zu schweigen ist das größte Risiko von allen. (…)
Letztendlich war Jesus selbst ein Widerständler, der sich gesellschaftlichen Regeln und Normen entgegensetzte, wenn seine moralische Pflicht es verlangte. Er setzte sich immer für unterprivilegierte Menschen ein und riskierte letztendlich dafür den Tod. (…)
Wir brauchen die Hilfe der Evangelischen Kirche. SIE haben die Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben für die Menschen im Globalen Süden und auch hier in Deutschland. Fordern Sie die Regierung auf, sich an ihre eigenen Klimaziele und das Grundgesetz zu halten! Unterstützen Sie uns! […]
Wir müssen uns jetzt trauen, etwas zu sagen, auch wenn es nicht einfach ist, sonst lassen wir Milliarden Menschen weltweit und die junge Generation im Stich. Wir als junge Generation brauchen Sie als Institution Kirche, aber auch als Einzelpersonen. Brechen Sie ihr Schweigen! Wir brauchen Sie, nicht nur um das Hoffen, sondern auch das Fordern einer lebenswerten und gerechten Zukunft aufrechtzuerhalten. Helfen Sie uns bitte!“
VI. Zum Recht verhelfen
Wir könnten jetzt diskutieren, ob wir die Maßnahmen der Letzten Generation richtig finden oder nicht oder gar für gefährlich. Aber viel wichtiger ist doch die Frage an uns:
Hören wir ihr Flehen? Sehen wir hin?
Es geht um das Recht der Jungen auf eine lebenswerte Zukunft. Um das Recht der Armen auf Nahrung, Wasser, Land. Es geht um die Noch nicht geborenen. Um ihr Leben.
Ich bin überzeugt, Jesus stellt sich an ihre Seite - so wie er sich an die Seite der mutigen Frauen und Männer im Iran stellt. Sonst stünde dieses Gleichnis von der Witwe nicht in der Bibel. Eine Witwe, die dem Richter so lästig ist, wie die Letzte Generation den Autofahrern und die iranischen Frauen dem Mullahregime. Eine Witwe, die genauso wenig zu verlieren hat wie Aimee in Deutschland und Shervin im Iran. Stellen wir uns an ihre Seite. Hören wir hin. Und schauen wir hin. Wie auf die Stolpersteine.
Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden?«
Amen.
(1) Die Konfirmanden und Konfirmandinnen der Friedensgemeinde hatten sich am Tag vor dem Gottesdienst mit den Stolpersteinen in Pforzheim auseinandergesetzt und die Kurzbiographien der beiden genannten Familien auf diese Weise zusammengefasst.
(2) Nach zu hören unter https://www.youtube.com/watch?v=zR-bF2JA1N0&fbclid=IwAR1tVlBYonZ1s27SjjRNpsq9Mikz_Y9nm8UILZOmh6yBCz73dypfqcRt51A
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen