Mittwoch, 24. Februar 2016

Hier gab es nur noch das Entsetzen - und viele haben trotzdem gehofft

Ansprache zur Gedenkfeier angesichts des Jahrestags der Zerstörung von Pforzheim, 23.2.2016

I.
„Würde des Todes? Hier gab es keine mehr!
Hier gab es nur noch das Entsetzen
und einen ohnmächtigen Hass auf die gewissenlosen Verbrecher,
die diesen entsetzlichsten aller Kriege vom Zaun gebrochen hatten
und mit ihrem Geschwätz vom Endsieg und den neuen Waffen das Volk betörten.“


Worte von Elisabeth Kuhn.
Sie überlebte die Pforzheimer Bombennacht.
„Hier gab es nur noch das Entsetzen und einen ohnmächtigen Hass“ -
was auch sonst?
Tränen der Trauer, der Wut, der Verzweiflung.
Aber auch die leergeweinten Augen,
die nicht wissen, ob es noch eine Zukunft gibt.
Und das zerrissene Herz,
das die Verwandten und Freunde so schmerzlich vermisst.
Vielleicht sogar die Scham, selber davon gekommen zu sein.
Und letztlich das Wissen,
dass es keine Worte gibt, die das wirklich fassen können.

II.
„Hier gab es nur noch das Entsetzen“ -
und wieviele haben dann doch wieder gehofft?
Gehofft auf ein „Nie wieder“?
Gehofft, dass wir doch nun endlich eines begriffen haben sollten:
Hass, Gewalt und Krieg bringen nur Trauer und Tod und keinen Sieg.
Wieviele hat diese Hoffnung getragen,
als sie die Trümmersteine zusammen trugen
und daraus neue Häuser und Kirchen und Wege bauten?

Und doch fliegen wieder Bomber über Städte.
Lassen ihre tödliche Fracht fallen
dort, wo Menschen leben.
Kluge und dumme Menschen.
Alte und junge.
Böse und gute. Menschen, wie wir.

„Eines Abends, als wir gerade spielten, sahen wir viele Flugzeuge am Himmel.
Wir haben hoch geschaut.
Plötzlich hörten wir sehr laute Bombenexplosionen,
und Leute haben geschrien,
viele lagen verletzt am Boden.
Meine Freunde und ich haben uns auf den Boden gelegt.
Alles um mich herum war voller Staub.
Ich hatte riesige Angst und bin nach Hause gerannt.
Am nächsten Tag bin ich aufgewacht,
als Bomben direkt vor unser Haus fielen.
Das war der Moment,
als meine Familie beschloss zu fliehen.“

Diese Worte stammen nicht aus Pforzheim,
sondern vom 15-jährigen Mohammed aus Syrien.
(http://www.unicef.de/informieren/blog/2015/kindheit-kann-nicht-warten-teil2/94560)

III.
Mohammed reiht sich ein
in die vielen Überlebenden
aus Coventry, Dresden, Guernica, Rotterdam,
Hamburg, Pforzheim, Grosny und Aleppo.
Und wir hören diese Überlebenden
auch in den Klageliedern aus der Bibel:

„Von Tränen sind meine Augen ganz blind,
es brennt und tobt in meinen Eingeweiden,
Schmerz und Verzweiflung brechen aus mir heraus;
denn ich sah, wie mein Volk zugrunde ging.
Kinder und Säuglinge sah ich verschmachten,
draußen auf den Straßen der Stadt.
Gequält von Hunger und Durst schrien sie laut nach ihren Müttern.
Wie Verwundete brachen sie zusammen,
draußen auf den Straßen der Stadt,
und in den Armen ihrer Mütter taten sie den letzten Atemzug.

Jerusalem, du geliebte Stadt,
ich weiß nicht, was ich dir sagen soll!
Mit welchem Schicksal soll ich deins vergleichen,
um dich zu trösten, du Jungfrau Zion!
Dein Schaden ist unermesslich wie das Meer!
Kann dich noch jemand heilen?“

(Klagelieder 2.Kapitel)

IV.
Wir hören diese Worte
und wir hören in ihnen die Klagenden von vor 71 Jahren
und von vor 75 Jahren und von vor 1 Jahr.
Pforzheim, du geliebte Stadt, ich weiß nicht, was ich dir sagen soll.
Guernica, mit welchen Schicksal soll ich deins vergleichen?
Aleppo, dein Schaden ist unermesslich wie das Meer!
Kann dich noch jemand heilen?

Wir hören diese Worte und sind diesen Menschen nahe,
auch weil wir genau spüren:
solche Worte soll niemand mehr klagen müssen.
Es soll einfach nicht sein.
Denn uns wurde das Leben geschenkt, damit wir es leben.
Leben!
Es ist zu kostbar, zu wertvoll -
kein Mensch hat es verdient, unter Trümmersteinen sein Leben zu beenden.
Oder nur noch Entsetzen zu spüren.
Und wenn Menschen in unsere Stadt kommen,
die diesen Trümmern entfliehen,
oder die nur noch Entsetzen verspüren,
dann wünsche ich uns, dass wir uns verbunden fühlen,
dass wir sie willkommen heißen
und ein sicheres Dach über den Kopf geben.
Weil wir in Pforzheim wissen,
was es bedeutet, wenn es kein Dach mehr gibt.

V.
„Hier gab es nur noch das Entsetzen“ - schreibt eine Zeitzeugin.
Und viele haben trotzdem gehofft.
Sie fingen an, die Stadt wieder zu bauen.
Eine Stadt, in der Menschen leben und arbeiten können.
Eine Stadt, wo sie sich treffen, wo sie tanzen und feiern,
wo sie beten und trauern, wo sie lieben und Pläne schmieden können.
Eine Stadt wurde gebaut,
die offen sein soll für Menschen, die dazu kommen.

Es liegt an uns, ob wir diese Stadt so leben.
Ob wir anknüpfen an die Erfahrung, dass es nur gemeinsam geht.
Ob wir uns zu Handlangern des Hasses machen lassen
oder zu einladenden Menschen.
Ob wir uns von Ideologien leiten lassen, die mit der Angst spielen -
wie schon einmal -
oder ob wir uns von Liebe und Versöhnung leiten lassen.
Und auch von der Hoffnung unserer Vorfahren,
die aus den Trümmern eine neue Stadt bauten.

VI.
„Hier gab es nur noch das Entsetzen“ - schreibt eine Zeitzeugin.
Und viele haben trotzdem gehofft.
Und daraus gelernt.
Ein anderer Zeitzeuge, Dieter Bolz, sagte:
„Nie mehr so etwas.
Es fing alles so harmlos an und man hat die Augen zugemacht.
Man darf heute die Augen nicht zu machen...“


Nein, man darf die Augen nicht mehr zu machen,
nicht vor den Toten in Syrien,
nicht vor den Ertrunkenen im Mittelmeer,
nicht vor dem Mob, der Flüchtlingen Angst einjagt,
nicht vor einer Ideologie, die wieder vom reinen Deutschland spricht.
Denn wir wissen, was es bedeutet, wenn wir dieser Ideologie folgen.

Nie mehr so etwas.
Nie mehr so etwas, sondern genau hinsehen.
Und anpacken.
Aus den Trümmern Neues bauen.
Mauern und Zäune abreißen.
Wege zueinander bahnen.
Uns nicht gegeneinander hetzen lassen,
sondern miteinander leben und Leben gestalten.

In dieser Hoffnung wurde die Stadt wieder aufgebaut.
In dieser Hoffnung wird hoffentlich auch Aleppo wieder aufgebaut.
In dieser Hoffnung kommen Menschen in diese Stadt.
In dieser Hoffnung, dass wir Frieden leben können.
Und das ist unsere Aufgabe.
Das sind wir den Opfern schuldig.
Und einem Gott, von dem die Klagelieder sagen:
„Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben.
Sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende.“ (Klagelieder 3)

Amen.

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