Predigt zu Römerbrief 14, 7-9 - gehalten in der Stadtkirche am 6.11.2016
(auch ein Beispiel einer Predigtwerkstatt. Darum Danke an Peter Krogull, Michaela Jecht und Rene Enzenauer.
Und wichtig: vor der Predigt wurden 2 Mädchen getauft!)
Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Denn wenn wir leben, so leben wir dem Herrn.
Und wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
so sind wir des Herrn!
Denn das ist der Grund, warum Christus gestorben ist
und wieder lebendig wurde:
Er sollte der Herr sein über die Toten und die Lebenden.
I.
Will Freeman (1) ist ein freier Mann. 36 Jahre alt. Single. Wohlhabend. Er lebt in einem tollen Haus in London. Muss noch nicht mal arbeiten. Denn Geld verdient Will Freeman ganz automatisch. Sein Vater hat nämlich mal ein Lied geschrieben, das ein großer Weihnachtshit in England wurde. Einen Teil seines Tages verbringt er nun damit, dieses Geld wieder auszugeben, zum Beispiel für teure Turnschuhe. Einen zweiten Teil seines Tages verbringt Will vor dem Fernseher mit seinen Lieblingssendungen. Streit um die Fernbedienung gibt es dabei nicht. Will lebt ja alleine. Wenn er mal Lust auf Zweisamkeit hat, macht sich der gutaussehende Will gezielt auf die Suche nach Frauen, die leicht zu haben und - noch wichtiger - leicht loszuwerden sind.
„Ich bin eine Insel - ich brauche niemanden“, sagt er trotzig. „Und das ist gut so.“
Will Freeman - frei und unabhängig, einer der sich selbst lebt - Hauptfigur im Roman „About a Boy“ von Nick Hornby.
Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Denn wenn wir leben, so leben wir dem Herrn.
Und wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
so sind wir des Herrn!
II.
Einmal leben können wie Will Freeman.
Ohne Verpflichtungen. Ohne Abhängigkeiten.
Ohne Terminkalender. Ohne Schule oder Chef oder Eltern oder Kinder.
Einmal alles loslassen. (2)
Und die Pflicht rufen lassen.
Die Fäden lösen,
die mich festbinden an mein tägliches „Sollen“ und „Müssen“
Einmal frei sein von allen .
Einmal ohne das „Du“ und das „Wir“.
Einmal tun und lassen können.
Einmal ich selbst sein können.
Sich selbst leben können.
Reizvoll?
Für die Familien J. und M. vielleicht schon. (3)
Wer nachts geweckt wird, um das schreiende Baby zu beruhigen, sehnt sich danach, wieder allein sein zu können.
Wer für einen Ausflug ins Grüne umständlich alle Babysachen im Kinderwagen verstauen muss - wer dafür den richtige Zeitpunkt für den Mittagsschlaf abpassen will, denkt mit Wehmut zurück als nur die eigenen Handschuhe und Schuhe nötig waren.
Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
III.
Will Freeman lernt Marcus kennen, einen zwölfjährigen Jungen - so ziemlich das Gegenteil von ihm: Marcus hat keinen reichen Vater, sondern nur eine arme Mutter, noch dazu depressiv. Keine freie, unbeschwerte Kindheit. Zu früh erwachsen.
Beide, Will und Marcus, ziehen einen Nutzen aus Ihrer Verbindung:
Will gibt Marcus ab und zu als seinen Sohn aus, um als angeblich alleinerziehender Vater besser bei alleinerziehenden Müttern zu landen. Marcus darf dafür bei Will nachmittags Fernsehen gucken. Die ersten Fäden werden gesponnen.
Will lernt diesen merkwürdigen Jungen kennen und er wächst ihm ans Herz.
Marcus ist ein Außenseiter in seiner Schule. Das tut Will irgendwie leid.
Und so wird der jugendlich wirkende Erwachsene ein Lehrer für den aus der Zeit gefallenen Jugendlichen - erteilt ein paar Lektionen in Jugendkultur und Coolness.
Marcus wiederum zeigt Will, dass das Leben aus mehr als Turnschuhen und Coolness besteht.
Die Fäden werden immer dicker, immer fester.
Am Ende ist alles anders und neu. Und viele Fäden sind da.
Der ernsthafte Junge Marcus entdeckt durch Will das unbeschwerte Kind in sich.
Der berufsjugendliche Will lernt durch Marcus, was Verantwortung bedeutet.
Und kann sich auf einmal richtig verlieben.
Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Denn wenn wir leben, leben wir für den Herrn.
Und wenn wir sterben, sterben wir für den Herrn.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
immer gehören wir dem Herrn!
IV.
Niemand ist eine Insel.
Und wer die eigene Insellage aufgibt, verliert nicht, sondern gewinnt:
ein Leben voller Geheimnisse, die man noch nicht kennt.
Fremde Gedanken, die weiterführen.
Liebe, für die ich mich nicht verstellen muss.
Keiner lebt nur für sich selbst.
Du hängst an 1000 Fäden. Immer. (4)
Von Anfang deines Lebens an.
Und manchmal ist das gut.
Denn 1000 Fäden geben Halt und Wärme,
Sie geben Nähe und Geborgenheit.
Die Fäden, die dich halten,
sie lehren dich die Welt verstehen.
Sie zeigen dir, wie Lachen geht.
Sie nehmen dich an die Hand,
damit du auf eignen Füßen laufen lernen kannst.
Die 1000 Fäden, die dich umweben,
sie können deine Tränen trocken, wenn du weinst.
Sie können trösten und dir sagen: Es wird am Ende alles gut.
Sie zeigen dir, was Liebe ist.
Und sie nehmen dir die Einsamkeit.
Und wenn du irgendwann einmal im Sterbezimmer liegst,
Wenn der Tag gekommen ist, an dem du dann zum letzten Mal
die Sonne aufgehen siehst,
selbst dann noch ist mindestens ein dicker, großer Faden da.
Der von Gott.
Mit ihm bist du verbunden. Von Anfang an.
Der Faden, mit dem du mit Gott verbunden bist, der bleibt.
Er reißt nicht. Nie. Egal was du tust.
Und egal was andere sagen.
Denn das ist der Grund, warum Christus gestorben ist
und wieder lebendig wurde:
Er sollte der Herr sein über die Toten und die Lebenden.
V.
Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Du bist mit Gott verbunden.
Von Anfang an. Und bis zum Ende.
Und du bist keine Insel, sondern mit der Welt verbunden.
Mit den Menschen.
Ein jeder lebt für den anderen.
Lebt vom anderen.
(5)
Vom „Guten Morgen“ beim Bäcker.
Von dem Lächeln der Kassiererin.
Von der Umarmung der Geliebten.
Du lebst von den Näherinnen in Bangladesh
und von den Kindern, die in Indien deinen Müll sortieren.
Du lebst von dem Krankenpfleger, der letzte Nacht gearbeitet hat,
und von der Politikerin, die über gerechtere Löhne nachdenkt.
Keiner von lebt nur für sich selbst.
Und du hängst an tausend Fäden.
Wie Paulus.
Der sitzt und schreibt an Menschen, die sich nicht verbunden fühlen.
Die unterscheiden zwischen „die da“ und "wir",
zwischen "ich" und "die glauben nicht richtig".
Er schreibt an Christen, die vergessen haben, dass sie verbunden sind.
So wie heute das viele vergessen und wieder unterscheiden
zwischen „die da“ und „wir“,
und die sagen, dass „die da“ nicht dazu gehören.
Die da - die hierher geflohen sind
Die da - mit der anderen Hautfarbe. Mit dem anderen Glauben.
Die da, anders lieben oder gleich lieben.
Aber diese Unterscheidung zählt bei Christus nicht.
Denn durch Gott sind wir verbunden.
Ob wir wollen oder nicht.
VI.
Und genau dafür ist einer gestorben.
Christus. Der Herr über die Toten und die Lebenden.
Er hat nicht für sich selbst gelebt. Sondern ganz nah an den anderen.
Mit seiner Liebe. Ohne ein „die da“.
Er ist darum auch nicht sich selbst gestorben.
Sondern dafür, dass es kein „die da“ und „wir“ mehr gibt.
Dafür, dass niemand für sich selbst bleiben muss,
sondern verbunden ist mit Gott - egal, was andere sagen oder tun.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
so sind wir des Herrn!
Verbunden mit Gott bist du frei, deine Fäden zu spannen.
Ob es der 12jährige Marcus ist, der neue Fäden zu Will Freeman spannt.
Oder V. und G. (6)
Ob du der Papst bist und nach Lund gehst, um neue Gemeinsamkeiten mit den Protestanten zu entdecken. (7)
Oder ob du ein bayrischer Dekan bist, der den Vorsitzenden vom Zentralrat der Muslime in seine Kirche einlädt. (8)
Ob du als Frau eine Frau liebst, oder als Mann einen Mann, oder als Frau einen Mann.
Du bist verbunden mit Gott.
Und darum freier als Will Freeman.
Du bist frei und verbunden. Mit Gott. Mit den anderen.
Verbunden mit Gott lebst du die Liebe zu den anderen.
Verbunden mit Gott gibt es für dich kein „die da“.
Denn auch „die da“ sind verbunden mit Gott.
Gehören zu ihm, ob sie leben oder sterben. Wie du.
Keiner von uns lebt nur für sich selbst
und keiner stirbt nur für sich selbst.
Denn wenn wir leben, so leben wir dem Herrn.
Und wenn wir sterben, so sterben wir dem Herrn.
Ob wir also leben oder ob wir sterben –
so sind wir des Herrn!
Und das macht dich wirklich frei.
Amen.
(1) danke an Peter Krogull für die Idee und die Anregungen zur Geschichte über Will Freeman aus "About a boy" (Pastoralblätter Nov.2016) - ich bin froh, dass ich den Roman vor einigen Jahren selber gelesen habe, darum hatte ich sofort ein Bild vor Augen. Der Roman wurde 2002 verfilmt mit Hugh Grant und Toni Colette.
(2) die folgenden Zeilen habe ich von Michaela Jecht
(3) Das sind die Tauffamilien
(4) Der folgende Abschnitt ist wesentlich bestimmt von Formulierungen von Rene Enzenauer, der widerum Ideen von Michaela Jecht weiterverarbeitet hat. Vor allem die Idee mit den Fäden stammt von ihr.
(5) Im Folgenden wieder viele Ideen von Michaela Jecht, die ich weitergesponnen habe
(6) die Täuflinge
(7) http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-10/reformation-lund-papst-franziskus-bundespraesident-joachim-gauck
(8) http://n-land.de/news/altdorf/kluge-und-differenzierte-worte-als-einstieg-zum-dialog
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