Sonntag, 25. Februar 2018

Wie konnte ich nur?

Predigt zu Matthäus 26, 36-46
zum Gedenktag der Zerstörung Pforzheims und der Nagelkreuzübergabe an die Partnergemeinde

Text (bereits vorher gelesen):
Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, 
und sprach zu den Jüngern: 
Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete.
Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus 
und fing an zu trauern und zu zagen.
Da sprach Jesus zu ihnen: 
Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; 
bleibt hier und wachet mit mir!
Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht 
und betete und sprach: 
Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; 
doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!
Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend 
und sprach zu Petrus: 
Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! 
Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: 
Mein Vater, ist's nicht möglich, 
dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, 
so geschehe dein Wille!
Und er kam und fand sie abermals schlafend, 
und ihre Augen waren voller Schlaf.
Und er ließ sie und ging wieder hin 
und betete zum dritten Mal und redete abermals dieselben Worte.
Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: 
Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? 
Siehe, die Stunde ist da, 
dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird.
Steht auf, lasst uns gehen! 
Siehe, er ist da, der mich verrät.

I.
Wie konnte ich nur?

Simon, der Petrus, ist müde.
Der Kopf ist leer. Und doch voller Gedanken.
Und Bilder.
Die vielen Menschen vor ein paar Tagen
bei dem Eingangstor.
Ihre Mäntel, die sie auf den Boden legten,
wie einen Teppich für Jesus.
Die Eselin, die sich nicht aus der Ruhe bringen ließ, in der Menschenmenge.
Augen voller Hoffnung.
Dann der Tempel mit den wunderbaren Mauern und Säulen.
Und die vielen Tiere im Vorhof.
Der wütende Jesus.
Wirft die Tische um. Geldmünzen tanzen auf den Steinen.
Zornige Augen.
Und Blicke, die Warum fragen.

Und eben der dunkle Raum.
Die Kerzen.
Das Brot und das dampfende Fleisch.
Der Wein im Krug und in dem Kelch.
Die Hand von Jesus, die den Kelch segnet, wie zu Beginn das Brot.
Tränen in den Augen der anderen.
Arme, die dich umschließen.
Und alles riecht nach Abschied.

II.
Und nun sind sie hier. In Gethsemane.
Es ist dunkel und ruhig. Und es riecht nach Zeder.
In den Ohren hallen noch die Worte nach.
Du wirst mich verleugnen, sagte Jesus auf dem Weg.
Zu ihm. Ausgerechnet zu ihm.

Simon ist müde.
Bleibt hier und wacht mit mir.
Ja, Jesus, das will ich.
Und doch fallen die Augen zu.
Nur mal kurz.

Wie konnte ich nur?
Denn da steht er, der Freund.
Schaut ihn traurig an.
Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
Simon wird es heiß und kalt zugleich.
Er schämt sich.
Möchte im Boden versinken.
Er sieht doch, wie dreckig es Jesus geht.
Er, der Starke, der Sichere, der Mutige.
Ganz zusammengefallen ist er.
Angst flackert in seinen Augen.
Und unruhig läuft er hin und her.
Und ich schlafe hier einfach ein, denkt Simon.
Dabei braucht er mich doch.
Wie konnte ich nur?

III.
Wie konnte ich nur?

Viele Deutsche haben sich das vor 73 Jahren gefragt.
Wie konnte ich nur diesem Hitler auf den Leim gehen?
Wie konnte ich die Augen davor verschließen,
dass meine jüdische Nachbarin plötzlich nicht mehr da war?
Hätte ich nicht auf die Warnungen von klugen Menschen hören können?
Wieso dachte ich, dass es mich und meine Stadt schon nicht treffen würde?
Wie konnte ich nur?

Ja, sie konnten.
Und ich werde mir diese Frage in 20 Jahren genauso stellen.
Es treibt mich um, dass ich schwach bin und nicht genug tun kann.
Ich weiß, ich müsste wach bleiben. Und beten.
Und doch schaffe ich es nicht.
Mir fallen die Augen zu.

IV.
Auch das brauche ich manchmal.
Manchmal möchte ich einfach nur schlafen
und vergessen, was um mich herum ist.
Einen Trump, der Lehrer mit Waffen ausstatten will.
Das Giftgas in Ost-Ghouta.
Das Plastik im Meer.
Die eingeschlagenen Fensterscheiben in der Huchenfelder Flüchtlingsunterkunft.
Oder die Fackelträger auf dem Wartberg.
Bilder, die nicht aus dem Kopf gehen.
Ich möchte sie wegschlafen.

Manchmal möchte ich einfach nur schlafen
und wenn ich aufwache, ist die Welt anders als jetzt.
Dann haben Mitbürger und Mitbürgerinnen der Stadt politisch was zu sagen,
auch die mit ausländischen Wurzeln
und nicht nur die, die schon immer hier waren.
Und wir wissen, dass die eigentliche Gefahr von denen ausgeht,
die zwischen wertem und unwertem Leben unterscheiden wollen.

Dann haben wir in Pforzheim genügend Kita-Plätze.
Und die Kinder leben nicht mehr in Armut wie jetzt jedes 5. Kind.
Manchmal möchte ich einfach nur schlafen
und danach soll die Welt so sein:
Bunt und fröhlich,
und die Tränen werden gemeinsam geweint.

V.
Aber wenn ich aufwache, dann ist die Welt nicht so.
Simon wacht auf und Jesus steht vor ihm.
Und hat seinen schwersten Weg noch vor sich.
Verraten und verkauft.

Aber er verurteilt nicht.
Sondern spürt dasselbe wie Simon und wie ich.
Schuld und Reue.
Angst und Zweifel,
Erschöpfung und Verrat,
Einsamkeit und dann auch Vertrauen.
Alles das macht müde
Und alles das braucht meine Wachsamkeit und mein Gebet.

VI.
Wie konnte ich nur?
Diese Frage ist die Anfechtung,
in die mich meine Lebensmüdigkeit führt.
Ich muss mich ihr stellen. Ihr ins Gesicht sehen.
Sonst holt sie mich immer wieder ein.
Und darum brauche ich einen, der mich aufweckt.

Wacht und betet.
Gott sei dank gibt es die Menschen, die wachen und beten.

VII.
Probst Howard in Coventry war so einer.
Er wachte in und bei seiner Kathedrale, als die Bomben auf sie fielen.
Und die Engel hielten den Atem an.
Und Howard legte die Zimmermannsnägel übereinander
und machte sie so zum Zeichen der Versöhnung.
Lasst uns auf Rache verzichten, rief er seinen Leuten zu.
Wacht und betet.
Betet füreinander und für die Feinde auch.

Sophie und Hans Scholl und Christoph Probst waren solche.
Selber hellwach versuchten sie alles,
damit das Land nicht in den Abgrund versank.
Ihre Flugblätter sollten aufwecken.
Sie forderten zur Sabotage auf gegen alles,
was den Krieg verlängert.
Und sie schrieben an gegen den Krieg
und gegen den Mord an die Juden.
Ihr Gebet sollte sie bewahren.
Es ist ihnen nicht gelungen.
Aber heute halten sie uns wach - 75 Jahre nach ihrem Tod.
Wacht und betet.

Unsere Nagelkreuzgemeinschaft ist so eine.
Wacht und betet.
Baut Brücken.
Und machte aus Feinden Freunde.
Die Witwe des ermordeten Soldaten John Frost kam an den Ort des Grauens,
nach Huchenfeld.
Weil sie erfuhr, dass für ihren Mann eine Gedenktafel errichtet wird,
konnte sie dem ehemaligen Hitlerjungen vergeben,
als er weinend beim Abendmahl gestand, dass er dabei war und ihren Mann tötete.
Tom Tate, der dem Mord in Huchenfeld entfliehen konnte,
fing an, mit 80 Jahren noch Deutsch zu lernen.
John Wynne, der Pilot der abgeschossenen Maschine,
schickt jedes Jahr zum 23.Februar einen Kranz mit Narzissen.

Und jeden letzten Freitag im Monat
versammeln sich hier vorne Menschen
und nehmen die Welt ins Gebet.
Gemeinsam mit allen,
die weltweit zur Nagelkreuzgemeinschaft gehören.
Wacht und betet.

VIII.
Wacht und betet. Steht auf und lasst uns gehen.
Simon hört es und tut es.
Und wird wieder versagen.
Wird Jesus verleugnen
und wird nicht unter dem Kreuz stehen.
Er wird nicht glauben können,
dass er, sein Freund, von Gott aufgeweckt wurde.
Und er wird sich fragen: wie konnte ich nur?

Die Frage begleitet sein Leben.
Er wird sie nicht los.
Und doch geht er weiter.
Und wacht und betet.
Weil Jesus ihm nicht von der Seite weicht.

Ja, da ist viel Schuld und es bleibt viel Schuld.
Diese Frage: Wie konnte ich nur?
Sie bleibt.
Aber ich kann sie nicht wegschlafen.
Und ich muss es auch nicht.
Denn da ist einer an meiner Seite.
Der trägt die Frage mit mir.
Der kommt aus der Angst
und geht den ganzen Weg, den ich gehe.
Wacht mit mir und betet mit mir und lässt mich nicht los.
Und er weckt mich auf, wenn ich eingeschlafen bin.

IX.
Wacht und betet. Steht auf und lasst uns gehen.
Lasst euch wecken von Jesus und seinen Mitstreitern und Mitstreiterinnen,

Sie fügen Zimmermannsnägel zusammen,
Werfen Flugblätter und machen Feinde zu Freunden.
Sie reparieren die zerschlagenen Fenster in der Unterkunft
Und beten gemeinsam auf dem Marktplatz für den Frieden der Stadt -
Über alle Religionsgrenzen hinweg.

Gut, dass sie da sind.
Sie wachen.
Beten.
Und stehen auf.
Mit ihm.
Und mit euch.

Amen.

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