Freitag, 19. April 2019

Am Ende ist alles ganz

Predigt an Karfreitag zu Johannes 19*

(mit Dank an Birgit Mattausch, Sebastian Wolfrum und Keno Heyenga)

I.
Ist das jetzt das Ende?
Maria aus Magdala weint.
Was anderes bleibt ihr nicht mehr, außer zu weinen - und da zu sein.
Dabei ist das doch so viel.

Jesus hatte sie rausgeholt aus ihrer Angst, aus ihrem Kokon,
aus ihrer Erziehung, ihrer Moral .
Endlich ich sein. Geliebt von Gott. Geliebt von ihm.
Steh auf! Rief er.  Heilte ihr Herz.
Teilte seinen Becher mit ihr und das Brot.

Die anderen schauten sie immer noch schräg an.
Wer ist sie schon?
Sie mit ihrer Vergangenheit. Mit ihren Brüchen. Mit ihren Schatten.
Gehört die zu uns?
Aber es kümmerte sie nicht mehr, denn sie war ja bei ihm.
Und nichts konnte sie noch von ihm trennen.
Dachte sie.  Bis heute.

II.
Ist das jetzt das Ende?
Das Ende ihres gemeinsamen Weges?
Sie würde alles dafür geben, wenn sie ihn da runterholen könnte vom Kreuz.
Alles.
Es macht sie wahnsinnig, dass das nicht geht.
Und so steht sie hier und kann nichts tun.

Es ist laut hier.
Die Schreie der Gekreuzigten.Die Schreie der Gaffer und brüllende Soldaten.
Schwere Stiefel. Klirrende Rüstungen. Würfel fallen. Siegesgeschrei.
Maria blendet das alles aus. Hört das alles nicht. Will es nicht hören.
Sie schaut nur auf ihn.
Das kann doch noch nicht das Ende sein.

III.
Das kann noch nicht das Ende sein.
So flehten die Europäer, als sie die brennende Notre-Dame sahen.
Die Pariser sangen auf der Straße Ave Maria. Die Feuerwehrleute gaben ihr Letztes.
Banges Warten.

Das kann noch nicht das Ende sein.
Das fleht die Tochter, die ihre Mutter ins Krankenhaus bringt,
weil der Krebs sich durch ihren Körper frisst.
So vieles noch ungesagt.  So vieles noch vorgehabt.
Und jetzt? Banges Warten.
Ob sie nochmal nach Hause kann?

IV.
Maria steht nicht alleine unter dem Kreuz.
Da sind noch die anderen Marias da - die Mutter von Jesus und die anderen.
Und der eine von den Freunden ist auch da: der steht ihm besonders nahe.
Und der Sterbende spricht zu ihnen:
Frau, siehe, das ist dein Sohn!  Siehe, das ist deine Mutter!
Ihr gehört zusammen. Bleibt beieinander.
Tragt zusammen, was für eine allein zu schwer ist.
Liebesmanifest im Tod.
Mitten in Lärm und Geschrei.

Da stellen sich welche zueinander.
Eine legt den Arm um den anderen.
Tastet noch im Dunkeln nach seiner Hand.
Einer schickt immer eine Blume zum Jahrestag.
Eine kocht eine Suppe für die, die Kraft braucht.
Eine andere betet.

V.
Ist das jetzt das Ende?
Schreie verstummen und das Laute wird leise.
Mich dürstet, sagt der Sterbende.
Ausgetrocknete Kehle. Menschlich durch und durch.
Kein ferner Gott, der zuschaut. Dieser Gott ist mittendrin.
Das Kind in der Krippe.
Der Heiler in der Synagoge.
Der Tische-Umwerfer im Tempel.
Der mit seinen Freunden das Brot teilt.
Der Flehende und Weinende im nächtlichen Garten Gethsemane.

Wahrer Mensch.
Er hat Durst und Hunger wie ich.
Er sehnt sich wie ich nach zärtlicher Berührung und nach einem neuen Morgen.
Er will mit jeder Faser seines Körpers leben und weiß doch, dass er nun sterben wird.
Der Tod ist das menschlichste und das unmenschlichste zugleich.
Weil er uns wegreißt und auseinanderreißt - und weil er das Ende ist.

VI.
Es ist vollbracht.
Worte, um die ich ringe - die ich nie wirklich verstehe.
Und ich habe sie in Verdacht, dass sie mich vertrösten wollen.
Alles ist gut so? Alles soll so sein?
Nein, dieser Tod am Kreuz soll nicht so sein.
In mir sträubt sich alles dagegen.
Kein Mensch kann das wirklich wollen. Und kein Gott.

Aber nun sind sie da, diese Worte: Es ist vollbracht.
Und ich schaue auf diesen wahren Menschen,
Der noch im Sterben Liebende zusammenbringt,
der dafür sorgt, dass da welche beieinander stehen,
einander halten und stützen.

Und ich sehe, dass dieser Tod nicht auseinander reißt, sondern zusammenführt.
Er führt Gott hinein, wo es dunkel ist.
Wo nichts mehr ist, wo wir an unser Ende kommen: da ist Gott.
Er drückt sich nicht vor diesem Dunkel.
Ist nicht nur für das Helle zuständig - für den Erfolg oder das Schöne.
Nein, er ist gerade da, wo die Narben sind,
die Brüche, die Schatten - das, was mir Angst macht.
Da ist er - der Liebende, der Zusammenbringende.
Er hält das aus. Und er hält mich aus. Voll und ganz.

VII.
Es ist vollbracht.
Dieses auseinandergerissene, abgebrochene Leben ist vollbracht.
Es ist ganz und gar. Es ist vollständig.
Alles was vorher Liebe war ist immer noch voller Liebe.
Schmerzen und Wunden werden nicht ausgeblendet, sondern sind ein Teil von Gott.
Da ist kein Makel dran, auch wenn die Umstehenden nur Makel sehen.
Jede Narbe macht dieses Leben vollständig. Jede Schwäche macht es komplett.
Weil sie ein Teil von Gott ist.

Es ist vollbracht.
Worte, die beschädigtes Leben heiligen - ihm die Würde zurückgeben.
Unperfektes wird vollkommen geheißen, Abgebrochenes rehabilitiert.
In aller Zerrissenheit bleibt es ganz wie das Tuch, um das die Soldaten würfeln.

VIII.
Es ist vollbracht.
Gott lebt und stirbt die Liebe.
Und da steht nun Maria aus Magdala unter dem Kreuz.
Sie mit ihren Brüchen und ihren Schatten un die so schräg angeschaut wird.
Sie steht da und hält die anderen im Arm.
Auch ihr Leben ist vollbracht.  Er hat es vollkommen gemacht,
weil er mit ihren Schatten und Brüchen und den Beschädigungen am Kreuz ist.
Ihr Weg ist sein Weg. Mit Lärm und Blut und Rissen in der Seele.
Ihr Leiden ist sein Leiden. Ihr Tod ist sein Tod.
Da ist keine Trennung, kein Riss, sondern Liebe mit allen Schatten und Brüchen.
Und nichts kann sie von ihm trennen.

IX.
Es ist vollbracht.
Und darum steht Maria mit den anderen nicht alleine da unterm Kreuz.
Der sterbende Gott, der wahre Mensch steht bei ihnen.
Er umarmt sie, hält ihre Hand, stützt sie.
Er weint mit ihnen, klagt und schreit und schweigt mit ihnen.
Er singt mit den Parisern das Ave Maria
und bangt mit der Tochter um ihre Mutter im Krankenhaus.
Der Mutter streicht er über die Stirn und hält sie ganz fest im Arm.

Ist es jetzt das Ende?
Ja.
Aber am Ende ist er da.
Am Ende geht er in die absolute Dunkelheit.
Am Ende gibt es keinen gottlosen Ort mehr, weil er auch dort ist.
Am Ende ist alles ganz.
Es ist vollbracht.
Amen.



* Textgrundlage:

Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König von Israel!, und schlugen ihm ins Gesicht.
Und Pilatus ging wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde. Da kam Jesus heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Seht, welch ein Mensch!
Als ihn die Hohenpriester und die Diener sahen, schrien sie: Kreuzige! Kreuzige! Pilatus spricht zu ihnen: Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm. Sie antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht.


Als Pilatus das hörte, fürchtete er sich noch mehr und ging wieder hinein in das Prätorium und spricht zu Jesus: Woher bist du? Aber Jesus gab ihm keine Antwort.
Da sprach Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht habe, dich zu kreuzigen?
Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre. Darum begeht, der mich an ausgeliefert hat, das größere Unrecht.
Von da an versucht Pilatus, ihn freizulassen.
Die Vertreter der jüdischen Obrigkeit aber schrien: Lässt du diesen frei, so bist du nicht mehr dem Kaiser treu; wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser. Da Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus heraus und setzte sich auf den Richterstuhl an der Stätte, die da heißt Steinpflaster, auf Hebräisch Gabbata.

Es war aber der Vorbereitungstag für das Passafest, um die sechste Stunde. Und er spricht zu den Vertretern der jüdischen Obrigkeit: Sehet, euer König! Sie schrien aber: Weg, weg mit ihm! Kreuzige ihn! Spricht Pilatus zu ihnen: Soll ich euren König kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser. Da überantwortete er ihnen Jesus, dass er gekreuzigt würde.

Sie nahmen ihn also, und er trug selber das Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in der Mitte.
Pilatus schrieb auch eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, König des jüdischen Volkes. Viele Menschen aus seinem Volk lasen diese Aufschrift, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. Da sprachen die jüdischen Hohenpriester zu Pilatus: Schreibe nicht: Der König des jüdischen Volkes, sondern dass er gesagt hat: Ich bin König des jüdischen Volkes. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.

Die Soldaten aber, da sie Jesus gekreuzigt hatten, nahmen seine Kleider und machten vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch den Rock. Der aber war ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen sie untereinander: Lasst uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wem er gehören soll. So sollte die Schrift erfüllt werden, die sagt (Psalm 22,19): »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

Es standen aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria aus Magdala. Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.

Danach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit die Schrift erfüllt würde: Mich dürstet. Da stand ein Gefäß voll Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte das Haupt und verschied.


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