Sonntag, 23. Februar 2020

Wir nehmen die Namen mit

Ansprache zum Gedenktag der Bombardierung von Pforzheim auf dem Hauptfriedhof

I.
Wir stehen an ihren Gräbern.
An den Gräbern von Elise und Heinz, Ulrich und Karla.
Wir haben weiße Rosen auf die Grabsteine gelegt.
Wir stehen an ihren Gräbern und trauern um sie,
die vor 75 Jahren im Bombenhagel und im Feuer gestorben sind.

Wir stehen hier und wünschten uns, dass wir hier nicht stehen müssten.
Dass es keinen Krieg gegeben hätte, keine Bomben, keine Toten.
Wir wünschten uns, dass der kleine Bruder nicht im Feuer des 23. Februar gestorben,
der Onkel nicht an der Ostfront gefallen wäre.
Wir wünschten uns, dass die Pforzheimer Juden und Jüdinnen nicht deportiert
und ermordet worden wären.
Ja, wir wünschten uns, dass die Nationalsozialisten nie an die Macht gekommen wären -
auch nicht in Pforzheim.

Aber es ist geschehen.
Und darum stehen wir hier an den Gräbern der Toten des 23. Februar 1945.
An den Gräbern von Margarete und Elisabeth, Georg und Wilhelm.

II.
Hier an den Gräbern ahnen wir, was wir verloren haben:
Den Bruder, die Schwester, die Großmutter.
Menschen, die liebten und geliebt wurden
Und die noch was vor hatten in ihrem Leben.
Die dazu gehörten.

„Wir Unvollendeten zu Grabe getragen,
mit Sehnsüchten, die aus dem Grabe ragen!“

Diese Worte singt der Chor im Requiem für Tote und Lebende von Rolf Schweizer.

„Wir Unvollendeten zu Grabe getragen,
mit Sehnsüchten, die aus dem Grabe ragen!
Bevor wir entzündet, sind wir verglommen.
Bevor wir verkündet, in Rauch verschwommen.
Unser junger Gedanke, nie ausgedacht,
unser heißtolles Lachen, nie ausgelacht,
das tiefste Weinen des Lebens versäumt,
und seine Träume nie ausgeträumt!“

(Lola Landau)

Leben wurde ausgelöscht, das hätte gelebt werden sollen.
Nicht irgendein Leben, sondern das Leben von Maria und Greta, von Josef und Johannes.
Leben mit Namen und Hoffnungen und Sehnsüchten.
Leben, das geopfert wurde auf dem Kriegsaltar, den unsere Vorfahren errichtet haben.
Sinnlos geopfert für den Größenwahn einer menschenverachtenden Ideologie.

III.
Wir stehen an ihren Gräbern und wir lesen die vielen Namen.
Dazu müssen wir uns hinknien. Und vielleicht die Buchstaben berühren.
Viele Namen. Jeder Name ist ein Name zu viel,
Die, die diese Namen tragen, hätten leben sollen.

Es sind Namen, die Gott in seine Hand geschrieben hat.
Sie sind nicht vergessen und werden nicht vergessen,
selbst wenn wir, die wir erinnern, einmal nicht mehr sind.
Denn Gott vergisst nicht einen Namen.
Gott nicht.
Nicht einen.

Nicht den von Maria und Greta, nicht den von Georg und Wilhelm,
gestorben in den Trümmern von Pforzheim
Nicht den von Salomon und Benjamin und Helga, ermordet in Auschwitz.
Nicht den von André und Marguerite, erschossen im Hagenschieß.
Nicht den von Papé und Saliou, ertrunken im Mittelmeer.
Nicht den von Fatih und Mercedes, erschossen in Hanau.
Jeder und jede von ihnen ist in Gottes Hand geschrieben.

IV.
Wir hier stehen an den Gräbern der Toten der Bombennacht.
Uns bleiben ein Foto vielleicht, ein Schmuckstück, oder vielleicht auch nur Tränen.
Und die Trauer, dass wir Menschen uns ins so eine Katastrophe führen.
Dass wir Leben opfern - immer noch und immer wieder.

Und ich stimme ein in die Worte des Schweizer-Requiems:
„Wo bist du geheiligt auf Erden, großer Gott?
Stets wurde schon immer dein Name missbraucht,
Glauben und Wissen in Lüge vertauscht.
Der Mensch hat sich alles verdreht und verkehrt,
Die Kriege den Völkern als heilig erklärt.
Wo gab es denn jemals den heiligen Krieg?
Nur Mord und Zerstörung am Ende noch blieb.“

(Frohmut Schweizer)

Ja, wir stehen an den Gräbern der Toten des 23. Februars.
Wir legen eine Rose ab.
Nie wieder, hat man damals gesagt. Nie wieder sinnlosen Krieg.
Nie wieder sollten Menschen in unserem Land Angst um ihr Leben haben,
nur weil sie einen anderen Namen tragen, anders an Gott glauben, anders lieben.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, haben wir in unser Grundgesetz geschrieben.
Nie wieder soll sie verletzt werden. Nie wieder, hat man damals gesagt.
Und doch geschieht es wieder.
Und das macht mich nicht nur traurig, sondern auch zornig.

V.
Wir stehen an den Gräbern der Toten der Bombennacht und lesen ihre Namen.
Wir nehmen ihre Namen in diesen Tag mit und wir legen die Namen der anderen dazu.
Die Namen von Auschwitz und vom Hagenschieß,
die Namen auf dem Grund des Mittelmeers, die Namen von Hanau.
Ein Meer von Namen, das uns umgibt und das uns an dieses Nie-wieder erinnert.

Wir nehmen die Namen mit und mit ihnen auch die Verantwortung,
für eine Gesellschaft einzustehen, in der die Würde jedes Menschen geschützt wird,
Weisen wir die in ihre Schranken, die die Würde nur einer Auswahl von Menschen zu sprechen.
Stehen wir ein für ein Land, von dem nie wieder Krieg ausgehen darf,
auch nicht durch Verkäufe von Waffen in Länder, wo Krieg herrscht.

VI.
Wir stehen an den Gräbern der Opfer von Krieg und Gewalt.
Ihre Namen sind im Himmel geschrieben, nicht nur hier.
Wir nehmen ihre Namen mit, aber wir tragen sie nicht allein.
Der, der den Namen trägt „Ich bin für euch da“, der trägt mit.
Und er stellt uns auf den Weg in eine Zukunft,
in der wir keine Namen mehr auf den Grabsteinen lesen müssen, sondern uns gegenseitig zurufen:
Helmut, Ursula, Lieselotte, Salomon, Benjamin, Helga, André, Marguerite,
Papé, Saliou, Fatih, Mercedes -

Gottes Geliebte.

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